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Ein Planet, viele Welten (eBook)

Die Klima-Parallaxe | Der große indische Historiker über das Dilemma des Klimawandels
eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
185 Seiten
Suhrkamp Verlag
9783518783788 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Planet, viele Welten - Dipesh Chakrabarty
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Der Klimawandel stellt die Menschheit vor ein großes Dilemma. Es fällt uns schwer, das Streben nach einem guten Leben aufzugeben. Doch dieses Leben, das auf einem unstillbaren Hunger nach Energie beruht, die hauptsächlich aus fossilen Brennstoffen gewonnen wird, schädigt das geobiologische System, das die Existenz aller Lebensformen auf der Erde ermöglicht. Es gibt nur diesen einen Planeten. Aber zugleich ist er gespalten - in viele Welten, Kulturen, Staaten.

Die globale Herrschaft des Finanz- und Rohstoffkapitals verbindet die Menschen zwar technologisch, aber entlang tiefgreifender Achsen der Ungleichheit bleiben sie zugleich voneinander getrennt. Im Rahmen der von ihm entwickelten historischen Erzählung unserer Gegenwart erkundet Dipesh Chakrabarty in seinem neuen Buch die zeitlichen und intellektuellen Verwerfungen, die die Kollision des Planetarischen und des Globalen in der Geschichte der Menschheit hervorruft. Der große indische Historiker bietet uns damit einen einzigartigen Blick auf den Klimawandel und das Verhältnis zwischen Menschen und Natur - und nicht zuletzt auch auf vergangene und zukünftige globale Pandemien.



Dipesh Chakrabarty, geboren 1948 in Kolkata, ist Lawrence A. Kimpton Distinguished Service Professor für Geschichte an der University of Chicago und Gründungsmitglied des berühmten Subaltern-Studies-Kollektivs. Mit seiner These von der »Provinzialisierung Europas« hat er die Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte maßgeblich geprägt. Chakrabarty ist Mitglied der American Academy of Arts and Sciences und der Australian Academy of the Humanities. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 2014 den Toynbee-Preis, der an einen herausragenden Vertreter der Globalgeschichte verliehen wird, und 2019 den Tagore Memorial Prize.

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Die Pandemie und unser Zeitgefühl

Zwischen den Phänomenen der Pandemie und der Klimakrise besteht ein Zusammenhang. Man könnte sagen, sie sprächen beide für ein Zeitalter des Anthropozäns. Die Erzählung vom raschen globalen Wirtschaftswachstum – die Geschichte des Kapitalismus in all seinen verschiedenen (imperialen, liberalen und neoliberalen) Varianten – ist den Narrativen gemeinsam, auf die sich die Diskussionen über beide Krisen stützen. Sie entspringen beide der sogenannten Zeit der Großen Beschleunigung in der Globalgeschichte: der Expansion – oder treffender: der Explosion – des menschlichen Reichs im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts, insbesondere ab den 1950er Jahren. In einem zunehmend extraktiven Verhältnis zur Erde nahm diese Expansion mehr und mehr Produkte aus der Biosphäre des Planeten, das heißt des Teils dieses Planeten in Anspruch, der unmittelbar lebenserhaltend ist. Im Anschluss an Wissenschaftler wie Timothy Lenton haben Bruno Latour und andere dies als »die kritische Zone« der Erde bezeichnet.1 Wie wir inzwischen alle wissen, bestand der Schlüssel zu dieser Expansion in der aus verschiedenen Arten von fossilen Brennstoffen – zunächst aus Kohle und später dann aus Öl und Gas – gewonnenen, billigen und im Überfluss vorhandenen Energie. Mehr als 87 Prozent des Gesamtverbrauchs von fossilen 40Brennstoffen durch Menschen und ihre Institutionen ist im Zeitraum zwischen dem Wiederaufbau der industrialisierten Volkswirtschaften nach dem Zweiten Weltkrieg und der Gegenwart angefallen. Deshalb wird die Große Beschleunigung von Historiker:innen und Erdsystemwissenschaftler:innen auf etwa 1950 datiert.2

Das 20. Jahrhundert wurde zu »einer Zeit außerordentlicher Veränderungen« in der menschlichen Geschichte: »Die Weltbevölkerung stieg von 1,5 auf 6 Milliarden [hat sich also vervierfacht], die Weltwirtschaft hat sich verfünfzehnfacht, der Energieverbrauch stieg um das 13- bis 14-Fache, der Trinkwasser-Verbrauch erhöhte sich ums Neunfache und die Bewässerungsflächen nahmen um ein Fünffaches zu.«3 Dem kann man noch dramatischere Zahlen hinzufügen: Im selben Jahrhundert wuchs die weltweite Stadtbevölkerung um 1200 Prozent; die Industrieproduktion um 3500 Prozent; der Energieverbrauch um 1200 Prozent; die Erdölförderung um 30 ‌000 Prozent; der Wasserverbrauch um 900 Prozent; die Verwendung von Dünger um über 30 ‌000 Prozent; der Fischfang um 6500 Prozent; die Erzeugung von organischen Chemikalien um 100 ‌000 Prozent; der Autobesitz um atemberaubende 775 ‌000 Prozent; und das Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre stieg um 30 Prozent.4 Die von Will Steffen und anderen angefertigten, inzwischen allseits bekannten Grafiken zur Großen Beschleunigung zeigen, dass das Wachstum bei den meisten dieser Zahlen um 1950 herum exponentiell wurde und in den 1980er Jahren sogar noch steiler anstieg, als China und Indien ihre Volkswirtschaften liberalisierten und größere Anstrengungen unternahmen, ins Rennen um Industrialisierung und modernen Konsum einzusteigen.5

41Unter Verwendung einer Umfrage der Brookings Institution von 2017 hat der deutsche Wissenschaftler Hannes Bergthaller darüber hinaus eine Reihe von aufschlussreichen statistischen Daten vorgelegt, die ebenfalls eine Beschleunigung des menschlichen Ressourcenverbrauchs belegen. »Erst um das Jahr 1985 herum«, berichtet Bergthaller, »hat die [globale] Mittelschicht die Zahl von einer Milliarde Menschen erreicht, das sind etwa 150 Jahre nach dem Beginn der Industriellen Revolution in Europa«, es habe aber nur »21 Jahre, bis 2006, gedauert, bis eine zweite Milliarde zur Mittelschicht hinzukam«, worin sich zum Großteil der außerordentliche Zuwachs in China widerspiegelte. Und Bergthaller fährt fort: »Die dritte Milliarde kam binnen neun Jahren zur globalen Mittelschicht hinzu. Am heutigen Tempo bemessen, sind wir dabei, eine weitere Milliarde innerhalb von sieben Jahren und eine fünfte Milliarde […] bis 2028 hinzuzufügen.«6 Kein Wunder, dass der Mensch sich in diesem Zeitraum auch als der größte geomorphische Akteur der Erde, der ihre Landschaften und die Kontinentalplatten in den Weltmeeren formte, und als eine geologische Kraft erwies, die das Klimasystem des gesamten Planeten änderte und, wie einige Wissenschaftler:innen vorschlagen, das neue geologische Zeitalter des Anthropozäns einläutete.7

»Der Hauptgrund«, schreibt Bergthaller in seinem Aufsatz über Asien und das Anthropozän, »warum alle Kurven der ›Großen Beschleunigung‹ immer noch unermüdlich nach oben zeigen (mit der bemerkenswerten Ausnahme der Bevölkerungskurve […]), liegt in der Ausbreitung der Konsummuster der Mittelschicht über die ganze Welt, wenn wir unter Mittelschicht Menschen verstehen, deren Haushaltseinkommen hoch genug ist, um Gebrauchsgüter (wie Kühl42schränke, Waschmaschinen oder Motorräder) zu erwerben und Geld für Unterhaltung und gelegentliche Urlaube auszugeben.« Noch im Jahr 2000, fügt er hinzu, »lebten etwa 80 Prozent dieser ›globalen Mittelschicht‹ in Europa und Nordamerika […]«. Doch bis 2015 »ist deren Anteil weitgehend aufgrund des raschen Wachsens der Mittelschicht in Asien auf 35 Prozent gefallen«. Bergthaller berichtet, es sei zu erwarten, dass »die asiatische Mittelschicht« bis 2030 »mindestens drei Mal so groß [sein wird] wie die im alten ›Westen‹« und »zwei Drittel der weltweiten Mittelschicht […]« ausmachen werde.8

Das Anthropozän erzeugt also ein eigentümliches historisches Zeitgefühl, etwas, das wir seine »Chronopolitik« nennen könnten. Ich verdanke dieses Wort drei jüngeren Wissenschaftler:innen – Tobias Becker, Christina Brauner und Fernando Esposito –, die vom 16. bis 18. Dezember 2021 eine Online-Tagung unter diesem Titel veranstaltet und seine Bedeutung mit »Zeit der Politik, Politik der Zeit, politisierte Zeit« umschrieben haben.9 Ich meine damit jedoch etwas leicht anderes. Aufgrund der vielen verschiedenen Weisen, wie sich die planetarischen Umweltkrisen, die wir unter der Bezeichnung Anthropozän zusammenfassen, nach unterschiedlichen, sowohl menschlichen als auch nichtmenschlichen zeitlichen und räumlichen Maßstäben auswirken, fragmentiert das Anthropozän in meinen Augen die menschlichen Zukunftsperspektiven auf noch nie dagewesene Weise. Man könnte die Geschichte des Anthropozäns zum Beispiel als Geschichte einer Krise des neoliberalen Kapitalismus, einer Krise der industriellen und konsumorientierten menschlichen Lebensweise, einer zu einem sechsten großen Artensterben führenden Krise der Biodiversität oder als eine 43Geschichte erzählen, wie Menschen die nächste Eiszeit um viele viele Tausend Jahre abgewendet haben. Diese Zukunftsperspektiven folgen nicht alle denselben zeitlichen und räumlichen Maßstäben. Als geologische Epoche könnte das Anthropozän als solches viel länger Bestand haben als die Menschheit – was die Frage aufwirft, ob es überhaupt als Periodisierungsinstrument für menschliche Geschichte verwendbar ist. Doch hält das Anthropozän auch sehr kurz bemessene Zukunftsperspektiven für Menschen bereit – so kurz bemessen, dass man sie für »die Gegenwart« halten könnte. Unser Gefühl für die Zeit der Pandemie umfasst eigenständige und miteinander verflochtene Bilder von der historischen Gegenwart und von der historischen Zukunft. Ein Großteil der Rede von postpandemischen Zukunftsperspektiven ist nostalgischer Natur, da sie den Wunsch zum Ausdruck bringt, zu den ungezwungenen und behaglichen Zeiten von vor der Pandemie zurückzukehren; doch die Politik und die Forderung des »gleichen Zugangs zu Impfungen« verwandelt diese zukünftige Zeit in eine Gegenwart, die wir ohne Abstriche – und zwar als Gleiche – erleben möchten.10 In diesem Kapitel werde ich das Bild der Pandemie als einer gegenwärtigen Zeit ausloten, die Zukunft schwer vorstellbar macht.11

Die Pandemie und die Große Beschleunigung der menschlichen Geschichte


Zahlreiche Spezialist:innen für Infektionskrankheiten sagen inzwischen, dass wir in einem Zeitalter der Pandemien leben. Seit der Erfindung der Landwirtschaft und der Domes44tizierung von Tieren sind Pandemien und Epidemien ständige Begleiterinnen der Menschen gewesen. Auch...

Erscheint lt. Verlag 19.11.2025
Übersetzer Christine Pries
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften
Wirtschaft
Schlagworte aktuelles Buch • Bücher Neuerscheinung • Erde • geobiologisches System • Klima • Klimaschutz • Klimawandel • Mensch und Natur • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • One Planet Many Worlds. The Climate Parallax deutsch • Pandemie • planetarisches Zeitalter • Postkolonialismus • Rohstoffe • Tagore Memorial Prize 2019 • Toynbee-Preis 2014
ISBN-13 9783518783788 / 9783518783788
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