Die verhandelte "Wende" (eBook)
592 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3237-3 (ISBN)
Das Verhältnis zwischen der Treuhand und den Gewerkschaften gehörte schon früh zu den umstrittenen Aspekten der ostdeutschen Transformation, ist jedoch bis heute kaum erforscht. Christian Rau untersucht erstmals auf breiter Quellenbasis, wie Gewerkschaften und Treuhand miteinander verhandelten. Er beleuchtet die Rolle ostdeutscher Betriebsräte, die oft Proteste initiierten, aber auch erstaunlich pragmatisch agierten. Er bringt nicht nur Licht in die Grautöne und Dynamiken des politischen Alltags der Transformation, sondern zeigt auch, wie nachhaltig die Verhandlungen zwischen Treuhand und Gewerkschaften die politische Kultur der Berliner Republik prägten. Sie ebneten den Weg zum Bündnis für Arbeit, dessen Scheitern zur 'Agenda 2010' führte. Die Treuhand warf damit ihre Schatten bis in die Gegenwart.
Christian Rau, 1984 in Gera geboren, Dr. phil., Zeithistoriker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (Abt. Berlin), Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Kulturgeschichte der DDR, Geschichte der deutschen Teilung und des Kalten Krieges, Transformationsgeschichte, Gewerkschaftsgeschichte, europäische Stadtgeschichte, Publikationen u.a.: Stadtverwaltung im Staatssozialismus. Kommunalpolitik und Wohnungswesen in der DDR am Beispiel Leipzigs (1957-1989)', ''Nationalbibliothek' im geteilten Land. Die Deutsche Bücherei 1945-1990'.
I. »Modell Deutschland«. Strukturwandel und Krisenbewältigung in Westdeutschland
1. Soziale Marktwirtschaft, soziale Demokratie und Mitbestimmung
Das Handeln der Gewerkschaften im ostdeutschen Transformationsprozess folgte einem Muster, das nicht erst in den 1970er-Jahren aufkam, wohl aber zu dieser Zeit erstmals begrifflich in die Formel vom »Modell Deutschland« gegossen wurde. Verstanden wird darunter ganz allgemein »die spezifisch deutsche Balance von Markt und Staat in den Traditionen deutscher Sozialstaatlichkeit und Mitbestimmung«.1 In der sozialwissenschaftlichen Forschung gilt der Umbruch 1989/90 als Beginn einer tiefgreifenden Krise in der Geschichte dieser spezifischen Form des bundesdeutschen Korporatismus, der sich als gewerkschaftliche Alternative zum Klassenkampf bereits in den krisengeschüttelten 1920er-Jahren konstituierte. Globalisierung, Europäisierung und die Transformation der ostdeutschen Wirtschaft hätten sich mit dem Ende des Kalten Krieges zu einem Handlungsrahmen verdichtet, in den die langwierige Konsenssuche zwischen den nationalen Akteuren (Staat, Wirtschaft und Gewerkschaftern) nicht mehr hineinzupassen schien.2 Krisendiagnosen wie diese offenbaren jedoch das Dilemma der sozialwissenschaftlichen Gewerkschaftsforschung, in der sich oft »empirische Beobachtungen mit politischen Erwartungen und Befürchtungen« verknüpfen.3 Dabei zeichnete die sozialwissenschaftliche Forschung stets ein starres (normatives) Bild vom Korporatismus. Aus historischer Sicht ist dagegen die verblüf fende Krisenresistenz und gleichzeitige Wandlungsfähigkeit des Korporatismus in den Blick zu nehmen. Wie und unter welchen Bedingungen veränderte sich das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften nach 1945, wie veränderten sich Inhalte und Formen der Kooperation und wie wirkte sich der Korporatismus auf Gewerkschaftskulturen und innerverbandliche Diskurse aus? Diese Fragen stehen im Zentrum dieses Kapitels, das einen wesentlichen Teil der Vorgeschichte der Treuhand beleuchtet.
Die Geschichte des »Modells Deutschland« beginnt nicht auf dem Reißbrett politischer Strategen. Vielmehr resultierte es aus einem rasanten Bedeutungszuwachs von Gewerkschaften und Arbeiterparteien in Westdeutschland (und Westeuropa) nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, welche die Verbreitung des vom US-amerikanischen »New Deal« beeinflussten Ordnungsmodells der »sozialen Demokratie« auf dem europäischen Kontinent beförderte. Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung sollten sich, so die Zielvorstellung, künftig gegenseitig bedingen und galten als Bedingung für stabile demokratische Verhältnisse. Das rechtfertigte auch ein Mehr an staatlicher Steuerung und den Ausbau des Sozialstaats.4 Doch bevor dieses Ordnungsmodell um die Mitte der 1960er-Jahre auch der Sozialdemokratie zum Durchbruch verhalf, brachte der seit 1947 heraufziehende Kalte Krieg zunächst konservative Parteien an die Macht, die vor allem den Kampf gegen den sowjetischen Kommunismus zur Staatsräson erklärten.5 Dennoch lässt sich das »sozialdemokratische Jahrzehnt« der 1960er- und 1970er-Jahre6 nicht von den »konservativen« 1950er-Jahren trennen. Vielmehr führte der rasche Wiederaufbau der Wirtschaft besonders in der jungen Bundesrepublik schnell zu hohen Wachstumsraten und materiellem Wohlstand. Dies verhalf wiederum der Konsum- sowie der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Helmut Schelsky) zum Durchbruch und brachte partielle kulturelle Liberalisierungen mit sich.7
In diese Zeit fällt auch die Integration der Gewerkschaften in die demokratische Kultur Westdeutschlands. Von Beginn an verstanden diese sich als Akteure des demokratischen Aufbaus. Ihren Auftrag sahen sie insbesondere darin, Auswüchse des Kapitalismus, die nicht zuletzt auch den Nationalsozialismus befördert hatten, künftig durch eine demokratische Kontrolle der Wirtschaft zu verhindern. Stützen konnten sie sich dabei auf ältere, in den 1920er-Jahren wurzelnde Vorstellungen einer »Wirtschaftsdemokratie«.8 Gleichwohl zogen sie aus den Erfahrungen der Zersplitterung der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und der Zerschlagung der Gewerkschaften im Nationalsozialismus auch Lehren für die eigene Organisation. So ging die Neustrukturierung der Gewerkschaften als politisch neutrale und autonome Branchen- und Industriegewerkschaften unter dem Dach des DGB mit einer Entmachtung regionaler Verbände und der Betriebsräte einher.9 Zugleich sollte der Gewerkschaftseinfluss in den Betrieben erhöht werden, womit der DGB in ein Terrain vordrang, das seit der Weimarer Republik von gewerkschaftsunabhängigen Betriebsräten besetzt war. Unterstützung fanden die Gewerkschaftsvorstände bei den Westalliierten, die den Betriebsräten wegen kommunistischer Einflüsse misstrauten.10
Bereits im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz ausarbeitete, konnten ranghohe Gewerkschafter erste politische Erfolge bei der Festigung ihrer Position in Staat und Gesellschaft erzielen, auch wenn diese weit hinter ihrem großen Zukunftsziel zurückblieben. So konnten sie die Etablierung einer nationalen Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit durchsetzen,11 und noch vor der Gründung des DGB und der Bundesrepublik sicherte das Tarifvertragsgesetz vom 9. April 1949 ihnen überbetriebliche Mitgestaltungsrechte zu. Weitere Mitbestimmungsrechte auf betrieblicher Ebene erhielten sie zu Beginn der 1950er-Jahre zugesprochen. So schrieb das 1951 in einem Arbeitskampf erstrittene Mitbestimmungsgesetz für Unternehmen der Montanindustrie (Steinkohle-, Braunkohle- und Eisenerzförderung sowie Eisen- und Stahlproduktion) mit mehr als 1000 Beschäftigten die Parität von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter*innen in den Aufsichtsräten sowie die Bestellung von Arbeitsdirektoren fest. Im Gegenzug akzeptierten die Gewerkschaften das von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) vorangetriebene europäische Projekt der Montanunion und riskierten dabei sogar einen Bruch mit der SPD.12 Bereits ein Jahr später gelang die Verabschiedung eines Betriebsverfassungsgesetzes, das die Arbeitsteilung zwischen den Gewerkschaften und den Betriebsräten auf betrieblicher Ebene grundsätzlich regelte.
Für die Formulierung des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft spielten die Gewerkschaften damit eine kaum zu überschätzende Rolle, wie Uwe Fuhrmann zuletzt noch einmal deutlich gemacht hat.13 Seine Zukunftsplanungen richtete der DGB dabei ganz auf die Großindustrien aus, die im von den Gewerkschaften wesentlich mitgeprägten fordistischen Jahrhundert14 zu Projektionsflächen der industriegesellschaftlichen Zukunft schlechthin geworden waren. Dort, so die Erfahrung, konnten technologischer und gesellschaftlicher Fortschritt am besten ineinandergreifen, was wiederum die gewerkschaftliche Machtbasis stärkte. Während dieser traditionelle Fortschrittsglaube nicht verpuffte, bewirkte die gesetzliche Verankerung gewerkschaftlicher Mitbestimmungsrechte nach 1945 dennoch eine allmähliche Revision älterer Vorstellungen von Gemeinwirtschaft und »Wirtschaftsdemokratie«. Denn nun, wo man fest im Sattel saß, waren Kompromisse keine Niederlagen mehr. Ludwig Rosenberg, Leiter der DGB-Wirtschaftsabteilung von 1949 bis 1959 und Vorsitzender des Dachverbands von 1962 bis 1969, gab in einer seiner Grundsatzreden von 1959 diesem neuen Pragmatismus erstmals einen rhetorischen Rahmen. So machte er deutlich, dass es weiterhin Aufgabe der Gewerkschaften und des Staates sein müsse, »eine unnötige Konzentration der Betriebe in Unternehmungen und die solcher Unternehmungen in Konzerne« zu verhindern. Um dies zu erreichen, müssten sich aber auch die Gewerkschaften von ihrer Vorstellung lösen, dass demokratische Kontrolle nur durch Verstaatlichung möglich sei. Vielmehr seien »sehr verschiedene Formen« der »öffentlichen Kontrolle« anzustreben, die Sozialisierung in für das Gemeinwohl wichtigen Branchen wie dem Bergbau oder den Grundstoffindustrien einschlossen, aber auch eine »Aufsicht relativ losen Charakters«.15
Rosenbergs neuer Realismus wandte sich dabei aber auch gegen das »Gerede von einer sogenannten Mittelstandspolitik« und adressierte damit einen Grundkonflikt, der die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik von Anfang an prägte. Denn während die Gewerkschaften den Fortschritt weiterhin in kontrollierten wirtschaftlichen Konzentrationsprozessen sahen, stützte sich die Wirtschaftspolitik der konservativen Bundesregierung auf ordoliberale Denker wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, welche Konjunkturabhängigkeit und Schwerfälligkeit als gravierende Nachteile von Großindustrien herausstellten.16 Röpke und Rüstow hatten dabei den seit dem späten 19. Jahrhundert entstandenen »geschlossenen hochkartellierten Großraumblock« Europa vor Augen, in dem (West-)Deutschland das »höchstkartellisierte Land« darstelle.17 Die konservative Bundesregierung umgarnte daher den sogenannten Mittelstand, also kleinere und mittlere Unternehmen, die als Motoren von Innovation galten. Der Mittelstand avancierte sogar zu einer Schlüsselkategorie »der symbolischen Ordnung der (west-)deutschen Gesellschaft«,18 ohne dass dies...
| Erscheint lt. Verlag | 11.10.2022 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt |
| Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt | Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Wirtschaft | |
| Schlagworte | Beschäftigungsgesellschaft • Betriebsräte • Bischofferode • Brandenburg • Breuel • DGB • FDGB • Gewerkschaft • Mittelstand • Rohwedder • Sachsen • Sozialpartnerschaft • Tarifpolitik • THA • Treuhand • Treuhandanstalt • Volkskammer • Waigel |
| ISBN-10 | 3-8412-3237-X / 384123237X |
| ISBN-13 | 978-3-8412-3237-3 / 9783841232373 |
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