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Zeit im jüdischen Kontext (eBook)

Jüdischer Almanach

Leo Baeck Institute (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
200 Seiten
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
978-3-633-78428-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zeit im jüdischen Kontext -
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Im jüdischen Kalender beginnt die Zählung der Zeit mit der Erschaffung der Welt. Laut der Tora geschah dies 3761 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Gott schuf die Welt in sechs Tagen und ruhte am siebten. Dieser Ruhetag ist der Sabbat, eine heilige Zeit. Während heilige Orte in vielen Religionen zu finden sind, ist die heilige Zeit ein einzigartiges jüdisches Konzept.

In diesem Almanach geht es um jüdische Zeit und Zeitlichkeit. Die Zeitlichkeit, also das Sein in der Zeit, wird bestimmt durch das Wissen um die Vergangenheit, das Bewusstsein der Gegenwart und die Erwartung dessen, was kommt. Die Autorinnen und Autoren beschäftigen sich mit den Ursprüngen des jüdischen Kalenders, aber auch mit der Endzeit: Haolam Habah, die kommende Welt. Es geht darum, wie Gott wohl seine Tage einteilen mag, aber auch um Zeiten der Verfolgung, um Warte- und Überbrückungszeiten in der Emigration, ebenso wie um Zukunftsvorstellungen und die Frage, ob sich verlorene Zeit wieder gut machen lasse.
Und in Israel stellt sich die Frage, inwiefern die Zeit - Warten, Zurückhaltung - uns helfen kann, mit den aktuellen Konflikten umzugehen.

Mit Beiträgen von Alfred Bodenheimer, Etgar Keret, Philipp Lenhard, Tamara Or, Natan Sznaider u.a.

Dieses Buch ist Teil der Reihe: Der Jüdische Almanach.



Gisela Dachs ist Publizistin, promovierte Sozialwissenschaftlerin und Professorin am Europ&auml;ischen Forum der Hebr&auml;ischen Universit&auml;t Jerusalem. 2016 erschien der von ihr herausgegebene <em>L&auml;nderbericht Israel</em> im Auftrag der Bundeszentrale f&uuml;r politische Bildung. Seit 2001 ist sie die Herausgeberin des J&uuml;dischen Almanachs. Sie lebt in Tel Aviv. Das Leo Baeck Institute (LBI ) ist benannt nach der Symbolfigur der deutschen Judenheit im 20. Jahrhundert und besitzt Zentren in New York, London und Jerusalem sowie eine Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft in Deutschland. Es wurde 1955 in Jerusalem gegründet, um die Geschichte und Kultur des deutschen und zentraleuropäischen Judentums zu erforschen und zu dokumentieren. Seit 1993 gibt das Leo Baeck Institute Jerusalem den Jüdischen Almanach heraus. Dies knüpft an eine alte Tradition an, die durch den Nationalsozialismus gewaltsam abgeschnitten wurde. Erstmals erschien ein <em>Jüdischer Almanach</em> im Jahre 1902.

Sylvie Anne Goldberg

Zeitlichkeit


Saras Leben: Gebrauch und Erfahrung von Zeitlichkeit

Geboren in der Woche von Saras Leben,

im Jahr 390 des Kleinen Kompendiums.

Dies geschah zur Zeit des Wochenfestes,

vor vierzig Jahren.

Stirbt am siebten Tag in dem Monat, der tröstet,

aus dem Jahr 550…

Der Neugierige, der diese Kalenderangaben, die in den charakteristischen Formen von (imaginären) Sprechern der traditionellen jüdischen Gesellschaft angegeben sind, in »Weltzeit« übersetzen möchte, ohne über eine entsprechende Tabelle zu verfügen, muss einige grundlegende Rechenoperationen durchführen. Im ersten Fall genügt es, 5000 zu 390 zu addieren und 3760 von der Summe abzuziehen, was einen in das Jahr 1630 versetzt. Man kann ganz einfach 240 zu 390 addieren und erhält so 630, zu dem man 1000 addiert, um sich zurechtzufinden. Da der Tag nicht angegeben ist, muss man auf eine Wochendatierung zurückgreifen: Sie findet sich in der Erwähnung der Wochenperikope Hayei Sara (Das Leben Saras). Diese steht an fünfter Stelle nach der Eröffnung von Bereschit, die den Neubeginn der jährlichen und vollständigen Lesung des Pentateuchs markiert, nachdem die großen Herbstfeste gefeiert wurden, die den jährlichen Zahlenwechsel einleiten. In diesem Jahr, 1630, fiel der erste Tischri, der Tag des jüdischen Neujahrs, auf den 18. September; die Lesung der Perikope mit dem Titel »Leben der Sara« fand daher am Samstag der Woche statt, die am 4. November begann: Unser Sprecher wurde also zwischen dem 4. und dem 10. November 1629 geboren, da der gregorianische Kalender das Jahr nur am 1. Januar wechselt.1 Für den Sprecher, der uns von einem Ereignis berichtet, das zur Zeit des Wochenfestes vor vierzig Jahren (ausgehend von 2025) stattfand, muss unser Neugieriger lediglich das Datum des Schawuot-Festes vom 6. bis 7. Sivan des Jahres 5745 suchen, was einen auf den 25. und 27. Mai des Jahres 1985 zurückführt. Ein Verstorbener, der am 7. Aw (dessen traditioneller Spitzname der »Monat, der tröstet2« ist) des Jahres 5550 starb, wird aufgrund der oben beschriebenen Berechnungen zum 18. Juli 1789 gelangen.

Diese Formen der Datierung führen uns in das Herz eines Systems mit zahlreichen Zeitbezügen, das in den heutigen Normen, die die Zeit zu einem Begriff machen wollen, der in allen Gesellschaften gleich ist, nicht sehr verbreitet ist. Die jüdische Zeitrechnung beginnt mit dem jüdischen Zeitalter, le-beriat olam, das vom angeblichen Datum der Erschaffung der Welt an gerechnet wird. Zwischen diesem und dem allgemeinen Zeitalter liegt also eine zusätzliche Zeitspanne von dreitausendsiebenhundertsechzig Jahren nach christlich-abendländischem Maßstab. In der Welt der jüdischen Observanz, die in der heutigen Gesellschaft eine Möglichkeit unter vielen darstellt, läuft das Jahr im Rhythmus des liturgischen Zyklus ab, der durch eine jahrhundertealte Tradition überliefert wird und dessen Zeitgebrauch an die Normen der alten Gesellschaft erinnert. Diese heute vereinbarten Unterscheidungen zwischen Religion und bürgerlichen Gesetzen zeichnen die Konturen der Räume nach, die dem Öffentlichen und dem Privaten, der Konfession und der Staatsbürgerschaft vorbehalten sind, aber sie führen auch ein dauerhaftes Prinzip der doppelten Zeitreferenz ein.

Zeitfragen


Als liturgische Zeit im Alltag des Erlebens fließt die jüdische Zeit in der Vielfalt der täglichen, wöchentlichen und jährlich wiederkehrenden Rhythmen. Ein Zyklus, der durch die Lesungen der Perikopen aus der Bibel wiederholt wird, aber in der immer wieder erneuerten Langsamkeit der Ewigkeit der Schöpfung des ersten Tages angesiedelt ist, die das Aufkommen der beweglichen, gezählten Zeit markiert. Die Tradition situiert die Erschaffung der Welt im Herbst eines Jahres, das zwischen 3762 und 3758 Jahren vor unserer Zeitrechnung stattfand. Das Jahr der Schöpfung, der einzigartige Kalender und die doppelte Einbettung in Zeit und Geschichte haben im Laufe der Jahrhunderte das Gefühl der Einzigartigkeit der Juden gefördert, die jedoch in die Gesellschaft der Welten eingebunden sind, in denen sich ihr Leben abspielt. Könnte es als bloße Bequemlichkeit ohne weitere Auswirkungen angesehen werden, wenn die Tage wie die der anderen vergehen, aber dennoch nicht im selben Zeitrahmen?

Der jüdische Kalender ist ein Erbe der antiken Zivilisationen, insbesondere der chaldäischen, und funktioniert nach dem Lunisolarprinzip. Er unterscheidet sich vom westlichen Sonnensystem, das auf die ägyptische Zivilisation zurückgeht und durch den julianischen und später den gregorianischen Kalender überarbeitet wurde. Der jüdische Kalender beruht wie sein christliches Gegenstück auf dem Zusammenwirken sowohl religiöser als auch ziviler Prinzipien im Jahresablauf. Die zyklische Anordnung des Jahres umfasst verschiedene Monatsabläufe: Das neue spirituelle Jahr beginnt im Herbst mit dem Neujahrsfest »der Jahre«, während das bürgerliche Jahr im Frühjahr mit dem Neujahrsfest »der Könige« beginnt.3 Die Kalendereinteilung stellt die Eschatologie neben die Gesetzgebung, die sowohl aus biblischen Anweisungen als auch aus rabbinischen Interpretationen hervorgegangen ist. Die Bibel ordnet die Zeit in regelmäßigen Zyklen an, die von der wöchentlichen Pünktlichkeit, die die Woche in sieben Tagen regelt, über die Jubeljahre, die Zyklen von 19 und sieben Jahren regeln, bis hin zu außergewöhnlichen neunundvierzig Jahren reichen.4 Diese zeitlichen Normen bestimmten das Leben einer landwirtschaftlichen Bevölkerung im Rhythmus der Jahreszeiten aus einer Zeit vor der Zerstreuung Palästinas. Sie wurden jedoch kaum verändert an die »Reste Israels« weitergegeben, die über die Welt in den verschiedensten Klimazonen verstreut waren. Dieser Lebenszyklus ermöglichte die Fortführung der Gruppe unter anderen Völkern, obwohl die Hebräer und später die Juden die allgemeinen äußeren, persischen oder seleukidischen Datierungsnormen akzeptierten, die zur Zählung der Regierungsjahre der damals herrschenden Monarchien verwendet wurden. Die Datierungskonventionen scheinen also unabhängig von den Verfahren zu sein, die die rituellen Formen rechtfertigen, die den Ablauf des täglichen Lebens regeln. Der Gebrauch des Weltalters, Annus mundi oder beriat olam drang erst um das 11. oder 12. Jahrhundert herum vollständig in die jüdische Welt ein. Das rituelle Leben verlief im zyklischen Rhythmus der Bibellesungen.5

Lebenszyklus und Datierung verbinden sich zu einer besonderen Zeitordnung, die sich im Mittelalter durchsetzt, während sich die Formen der »traditionellen«, auf rabbinischen Normen basierenden Gesellschaft herausbilden, die die Jahrhunderte überdauern werden. Während sich die Juden von den umliegenden Gesellschaften abwenden, die zunehmend feindseliger werden, nutzen sie die Privilegien, die ihnen von den Fürsten und Herrschern gewährt werden.6 Sie durchlaufen einen solchen Prozess der Singularisierung, dass sie innerhalb weniger Jahrhunderte eine autonome Mikrogesellschaft innerhalb der Staaten bilden, während sich ein mentales Universum herausbildet und etabliert, in dem die Wahrnehmung und der Zeitgebrauch nur ein Spiegelbild sind. Indem sie die allgemeine Zeitrechnung vernachlässigten und sich für chronologische Operationen entschieden, die eher auf Spekulation als auf objektiver Berechnung beruhten, behaupteten die Juden im Mittelalter, sie befänden sich in einer Zeitlichkeit, die sie außerhalb der sozialen Normen der Länder, in denen sie lebten, stellte. Diese Haltung hat sich im Laufe der Jahrhunderte gefestigt und ist in den modernen und zeitgenössischen Gesellschaften zu einem der charakteristischen Elemente der Einzigartigkeit der jüdischen Identität geworden. Ob man diese zeitliche Einbettung nun auf den Wunsch zurückführt, sich nicht den umliegenden Konventionen der Geschichte zu beugen, die das Datierungssystem bestimmen, oder – aus einer ganz anderen Perspektive – sie als Ausdruck einer Form nationaler und politischer Unabhängigkeit betrachtet, diese Zeitlichkeit offenbart dennoch eine besondere Form der Einschreibung in die Zeit.

Der Begriff der...

Erscheint lt. Verlag 28.10.2025
Reihe/Serie Jüdischer Almanach
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte aktuelles Buch • Alfred Bodenheimer • Almanach • Bücher Neuerscheinung • Erschaffung der Welt • Etgar Keret • Haolam Habah • heilige Zeit • Judentum • Jüdischer Kalender • Natan Sznaider • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Philipp Lenhard • Sabbat • Tamara Or • Zeitlichkeit
ISBN-10 3-633-78428-4 / 3633784284
ISBN-13 978-3-633-78428-8 / 9783633784288
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