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Wien/Roma - Agency For Better Living

Wien/Roma - Agency For Better Living

Buch | Softcover
208 Seiten | Ausstattung: Druckwerk
2025
Arch+ (Verlag)
978-3-931435-89-9 (ISBN)
CHF 39,20 inkl. MwSt
Zwei Städte
Eine gemeinsame Suche nach dem besseren Leben
Text: Anh-Linh Ngo

Wie wollen wir künftig zusammenleben? Diese bis zur Floskelhaftigkeit wiederholte Frage gewinnt zunehmend an Dringlichkeit: Explodierende Mieten, stagnierende Einkommen, steigende Energiekosten, soziale Ungleichheit und klimatische Extreme setzen Europas Städte massiv unter Druck. Migration und geopolitische Krisen verschärfen diese Herausforderungen weiter. Formelle Planungsmechanismen stoßen an ihre Grenzen. In dieser komplexen Gemengelage wird das Thema Wohnen zur zentralen sozialen Aufgabe unserer Zeit.
Viele europäische Städte schaffen es nicht, bezahlbaren Wohn- raum bereitzustellen, geschweige denn langfristig zu sichern. Doch das ist kein Zufall, sondern Ergebnis politischen Handelns, bei dem der Wohnraum den Marktkräften überlassen wurde. Statt gemeinwohlorientierter Steuerung bestimmen spekulative Finanzlogiken und kurzfristige Profitinteressen den Immobilienmarkt. Die Wohnungsfrage ist heute mehr denn je Schauplatz gesellschaftlicher Verteilungskämpfe.

Wien – die Stadt der Fürsorge
Wien sticht hier hervor. Die Stadt verfolgt seit über einem Jahrhundert eine Wohnbaupolitik, die Wohnraum als öffentliches Gut versteht. Durch langfristige Bodenpolitik, zweckmäßige Investitionen in Gemeindewohnungen und geförderten Wohnbau ist es gelungen, für breite Bevölkerungsschichten – einschließlich der Mittelschichten, die hinsichtlich der Wohnkosten immer stärker unter Druck geraten – leistbare Mieten zu garantieren. Die enorme Anzahl an städtisch verwalteten und geförderten Wohnungen trägt dazu bei, die Mieten nicht nur im Gemeindebau, sondern in der gesamten Stadt stabil zu halten. Ein Großteil der Wiener*innen lebt in unbefristeten Mietverhältnissen, oft mit Zugang zu gemeinschaftlichen Infrastrukturen wie Parks, Bibliotheken oder Nachbarschaftshäusern. Hier wird nicht nur gewohnt, sondern das gemeinsame städtische Leben gestaltet.
Allerdings sind auch in Wien die rosigen Zeiten vorbei. Die Finanzialisierung des Wohnraums schreitet auch hier voran (vgl. ARCH+ 244: Wien – Das Ende des Wohnbaus (als Typologie)). Mit wachsender Bevölkerung nehmen auch Diversität und soziale Spannungen zu, weshalb sich die Frage stellt: Wie kann die Stadt verhindern, dass Zugewanderte und sozial Schwächere an den Rand gedrängt werden – und sie damit ihr Versprechen von Integration und sozialer Teilhabe preisgibt?
Unter diesen neuen Vorzeichen offenbaren sich auch die Grenzen der Stabilität in der Wiener Stadtentwicklungspolitik: Die starke Regulierung verhindert oft kreative Experimente und individuelle Freiräume – sowohl innerhalb als auch außerhalb der eigenen vier Wände. Architekt*innen beklagen die dadurch entstehende Monotonie, während Bewohner*innen sich als bloße Konsument*innen paternalistischer Fürsorge statt als aktive Mitgestaltende ihres Lebensraums erleben. Die Herausforderung lautet daher: Wie wird Wien in Zukunft nicht nur verwaltete, sondern auch gemeinsam gestaltete Stadt sein?

Rom – die Stadt des Gemeinschaffens
Hier kommt Rom als Gegenmodell ins Spiel. Die Stadt ist geprägt von jahrzehntelanger Vernachlässigung durch öffentliche Institutionen. Seit ihrer Hauptstadtwerdung Ende des 19. Jahrhunderts sind Spekulation, Verdrängung und sozialer Ausschluss an der Tagesordnung. Doch genau in den Lücken, die dieses Verwaltungsversagen hinterlässt, zeigt sich die Kraft zivilgesellschaftlicher Initiative. Dort, wo die öffentliche Hand sich zurückzieht, entstehen selbstverwaltete Wohnprojekte, kulturelle Freiräume und solidarische Netzwerke. Orte wie Metropoliz (siehe ARCH+ 258: Urbane Praxis), Porto Fluviale oder Spin Time sind lebendige Beweise dafür, dass Stadt auch von unten wachsen kann (→ Essay von Rossella Marchini). Aus aufgegebenen Baugruben werden Stadtnatur und Erholungsorte, aus Ruinen werden Orte des Gemeinschaffens, aus leerstehenden Gebäuden werden lebendige Wohnexperimente, in denen Menschen unterschiedlicher Herkunft gemeinsam leben.
Diese informellen Strukturen sind mehr als Notlösungen; sie sind Labore für neue Formen des Zusammenlebens. Hier wird ausprobiert, was anderswo undenkbar scheint: solidarisches Wohnen, gemeinschaft- liches Wirtschaften und kulturelle Vielfalt unter einem Dach. Migration wird hier nicht als Problem, sondern als Chance für städtische Erneuerung verstanden. Rom erinnert uns daran, dass Stadt immer auch ein Ort des Aushandelns und der Aneignung ist. Die Ruine wird hier seit jeher nicht als Verlust von Vergangenheit, sondern als Möglichkeit für die Zukunft verstanden.
Diese Bottom-up-Ansätze knüpfen dabei an den kulturellen Mythos Roms an. So deuten heutige Aktivist*innen den Mundus – jene rituelle Grube im Zentrum des antiken Roms, in die Neuankömmlinge Opfergaben und Erde aus ihrer Heimat legten, um Mitglieder der Stadtgesellschaft zu werden – als Sinnbild für gelebte Integration und gemeinschaftliche Erneuerung (→ Essay von Federica Giardini). Das historische Asylum auf dem Kapitolinischen Hügel – einst Zufluchtsort für Ausgestoßene – lebt in den heutigen selbstverwalteten Räumen weiter. Hier wird Teilhabe nicht über Besitz oder Herkunft definiert, sondern entsteht durch gemeinsames Handeln und solidarisches Engagement.
Die Praxis des Commoning ist ein Gegenentwurf zur Kommodifizierung der Stadt. Urbane Gemeingüter sind Modelle für eine soziale Infrastruktur, die nicht top-down geplant, sondern gemeinsam hervor- gebracht und bewirtschaftet wird. Sie demonstriert, dass gemeinschaftliche Stadtproduktion eine tragfähige dritte Säule neben Markt und Staat sein kann.

Lernen von …
Wien und Rom stehen für zwei unterschiedliche urbane Realitäten: Hier eine Stadt, die Gemeinwohl durch Regulierung und Paternalismus zu sichern versucht; dort eine Kommune, in der Gerechtigkeit durch Improvisation, Widerstand und kollektives Handeln immer wieder neu erkämpft wird. Doch beide Städte zeigen: Urbanität entsteht in der Balance zwischen Fürsorge und Emanzipation. Wien könnte von Rom lernen, mehr Raum für offene Prozesse und unvorhersehbare, gemeinschaftliche Initiativen zuzulassen. Die Stadtentwicklungs- und Wohnbaupolitik sollte sich von einer reinen Versorgungslogik lösen und stattdessen einen Ermöglichungsansatz verfolgen. Rom hingegen braucht eine öffentliche Hand, die das von den sozialen Bewegungen eingeforderte Gemeinwohl als langfristiges politisches Ziel übernimmt – eine Verwaltung, die informelle Prozesse nicht als Störung begreift, sondern als wertvolles Korrektiv ihrer eigenen institutionellen Defizite anerkennt und stärkt.
Diese Gegenüberstellung im Österreichischen Pavillon der Architekturbiennale Venedig 2025 eröffnet einen erkenntnisfördernden Dialog zwischen zwei Arten der urbanen Intelligenz, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen. Die Kurator*innen Michael Obrist, Sabine Pollak und Lorenzo Romito nennen ihren Beitrag Agency for Better Living – und diese Agency ist im doppelten Sinne zu verstehen: Architektur und Stadtentwicklung sind die kollektive Suche nach einem besseren Leben für alle. Dieser Ansatz erfordert, dass den Menschen, die Städte gestalten, beleben und immer wieder reproduzieren, Handlungsmacht – agency – eingeräumt wird. Aber er erfordert auch, dass die, die in ihrem Auftrag handeln – die Verwaltungen und Behörden im engeren Sinne der agency – die Instrumente der Stadtplanung gemeinwohlorientiert einsetzen. Damit Städte sich materiell und Gemeinschaften sich sozial regenerieren können, sind statt rigider Planungen offene und anpassungsfähige Prozesse notwendig. In einer Zeit, in der soziale Spannungen zunehmen, weil immer mehr Menschen vom Recht auf Stadt ausgeschlossen werden, muss die transformative Kraft der Architektur neu ins Bewusstsein gerückt werden: Sie ist weit mehr als bloße Behausung. Gelingende Architektur schafft Räume, die Gemeinschaft ermöglichen, Solidarität fördern und Vielfalt zulassen.
Vor diesem Hintergrund sind die Konzepte von Wien und Rom nicht als Gegensätze zu verstehen, sondern als zwei komplementäre Seiten derselben Medaille. Der eine Weg bietet Stabilität und Sicherheit, der andere zeigt, wie wichtig Flexibilität und Eigeninitiative sind. Gemeinsam weisen sie den Weg in eine urbane Zukunft, in der Teilhabe und Verantwortung Hand in Hand gehen. Das Recht auf Wohnen ist dabei weit mehr als der Anspruch auf ein Dach über dem Kopf – es ist das Anrecht darauf, die Stadt zu bewohnen.
Die imaginäre Begegnung zwischen Wien und Rom im Österreichischen Pavillon eröffnet einen Möglichkeitsraum, der mehr ist als ein Kompromiss: Er könnte das Fundament für eine neue europäische Stadtentwicklungspolitik bilden, die Gemeinschaffen, Migration und soziale Gerechtigkeit als zentrale Elemente der Stadtgestaltung versteht. In diesem Spannungsfeld kann die Suche nach dem besseren Leben beginnen.

Dank
Diese Ausgabe ist gemeinsam mit den Kurator*innen Michael Obrist, Sabine Pollak und Lorenzo Romito des österreichischen Beitrags für die Architekturbiennale Venedig 2025 entstanden. Sie dient als Katalog zur Ausstellung Agency for Better Living im Österreichischen Pavillon. Für die kenntnisreiche und kollegiale Gastredaktion danke ich dem kuratorischen Team und allen Beitragenden von Herzen. Mein Dank gilt ebenso dem ARCH+ Team, das in sehr kurzer Zeit das Projekt realisiert hat – allen voran Victor Lortie (Projektleitung), Nora Dünser (CvD) sowie Mirko Gatti, Markus Krieger, Daniel Kuhnert und Sergen Yener.
Zwei Städte
Eine gemeinsame Suche nach dem besseren Leben
Text: Anh-Linh Ngo

Wie wollen wir künftig zusammenleben? Diese bis zur Floskelhaftigkeit wiederholte Frage gewinnt zunehmend an Dringlichkeit: Explodierende Mieten, stagnierende Einkommen, steigende Energiekosten, soziale Ungleichheit und klimatische Extreme setzen Europas Städte massiv unter Druck. Migration und geopolitische Krisen verschärfen diese Herausforderungen weiter. Formelle Planungsmechanismen stoßen an ihre Grenzen. In dieser komplexen Gemengelage wird das Thema Wohnen zur zentralen sozialen Aufgabe unserer Zeit.
Viele europäische Städte schaffen es nicht, bezahlbaren Wohn- raum bereitzustellen, geschweige denn langfristig zu sichern. Doch das ist kein Zufall, sondern Ergebnis politischen Handelns, bei dem der Wohnraum den Marktkräften überlassen wurde. Statt gemeinwohlorientierter Steuerung bestimmen spekulative Finanzlogiken und kurzfristige Profitinteressen den Immobilienmarkt. Die Wohnungsfrage ist heute mehr denn je Schauplatz gesellschaftlicher Verteilungskämpfe.

Wien – die Stadt der Fürsorge
Wien sticht hier hervor. Die Stadt verfolgt seit über einem Jahrhundert eine Wohnbaupolitik, die Wohnraum als öffentliches Gut versteht. Durch langfristige Bodenpolitik, zweckmäßige Investitionen in Gemeindewohnungen und geförderten Wohnbau ist es gelungen, für breite Bevölkerungsschichten – einschließlich der Mittelschichten, die hinsichtlich der Wohnkosten immer stärker unter Druck geraten – leistbare Mieten zu garantieren. Die enorme Anzahl an städtisch verwalteten und geförderten Wohnungen trägt dazu bei, die Mieten nicht nur im Gemeindebau, sondern in der gesamten Stadt stabil zu halten. Ein Großteil der Wiener*innen lebt in unbefristeten Mietverhältnissen, oft mit Zugang zu gemeinschaftlichen Infrastrukturen wie Parks, Bibliotheken oder Nachbarschaftshäusern. Hier wird nicht nur gewohnt, sondern das gemeinsame städtische Leben gestaltet.
Allerdings sind auch in Wien die rosigen Zeiten vorbei. Die Finanzialisierung des Wohnraums schreitet auch hier voran (vgl. ARCH+ 244: Wien – Das Ende des Wohnbaus (als Typologie)). Mit wachsender Bevölkerung nehmen auch Diversität und soziale Spannungen zu, weshalb sich die Frage stellt: Wie kann die Stadt verhindern, dass Zugewanderte und sozial Schwächere an den Rand gedrängt werden – und sie damit ihr Versprechen von Integration und sozialer Teilhabe preisgibt?
Unter diesen neuen Vorzeichen offenbaren sich auch die Grenzen der Stabilität in der Wiener Stadtentwicklungspolitik: Die starke Regulierung verhindert oft kreative Experimente und individuelle Freiräume – sowohl innerhalb als auch außerhalb der eigenen vier Wände. Architekt*innen beklagen die dadurch entstehende Monotonie, während Bewohner*innen sich als bloße Konsument*innen paternalistischer Fürsorge statt als aktive Mitgestaltende ihres Lebensraums erleben. Die Herausforderung lautet daher: Wie wird Wien in Zukunft nicht nur verwaltete, sondern auch gemeinsam gestaltete Stadt sein?

Rom – die Stadt des Gemeinschaffens
Hier kommt Rom als Gegenmodell ins Spiel. Die Stadt ist geprägt von jahrzehntelanger Vernachlässigung durch öffentliche Institutionen. Seit ihrer Hauptstadtwerdung Ende des 19. Jahrhunderts sind Spekulation, Verdrängung und sozialer Ausschluss an der Tagesordnung. Doch genau in den Lücken, die dieses Verwaltungsversagen hinterlässt, zeigt sich die Kraft zivilgesellschaftlicher Initiative. Dort, wo die öffentliche Hand sich zurückzieht, entstehen selbstverwaltete Wohnprojekte, kulturelle Freiräume und solidarische Netzwerke. Orte wie Metropoliz (siehe ARCH+ 258: Urbane Praxis), Porto Fluviale oder Spin Time sind lebendige Beweise dafür, dass Stadt auch von unten wachsen kann (→ Essay von Rossella Marchini). Aus aufgegebenen Baugruben werden Stadtnatur und Erholungsorte, aus Ruinen werden Orte des Gemeinschaffens, aus leerstehenden Gebäuden werden lebendige Wohnexperimente, in denen Menschen unterschiedlicher Herkunft gemeinsam leben.
Diese informellen Strukturen sind mehr als Notlösungen; sie sind Labore für neue Formen des Zusammenlebens. Hier wird ausprobiert, was anderswo undenkbar scheint: solidarisches Wohnen, gemeinschaft- liches Wirtschaften und kulturelle Vielfalt unter einem Dach. Migration wird hier nicht als Problem, sondern als Chance für städtische Erneuerung verstanden. Rom erinnert uns daran, dass Stadt immer auch ein Ort des Aushandelns und der Aneignung ist. Die Ruine wird hier seit jeher nicht als Verlust von Vergangenheit, sondern als Möglichkeit für die Zukunft verstanden.
Diese Bottom-up-Ansätze knüpfen dabei an den kulturellen Mythos Roms an. So deuten heutige Aktivist*innen den Mundus – jene rituelle Grube im Zentrum des antiken Roms, in die Neuankömmlinge Opfergaben und Erde aus ihrer Heimat legten, um Mitglieder der Stadtgesellschaft zu werden – als Sinnbild für gelebte Integration und gemeinschaftliche Erneuerung (→ Essay von Federica Giardini). Das historische Asylum auf dem Kapitolinischen Hügel – einst Zufluchtsort für Ausgestoßene – lebt in den heutigen selbstverwalteten Räumen weiter. Hier wird Teilhabe nicht über Besitz oder Herkunft definiert, sondern entsteht durch gemeinsames Handeln und solidarisches Engagement.
Die Praxis des Commoning ist ein Gegenentwurf zur Kommodifizierung der Stadt. Urbane Gemeingüter sind Modelle für eine soziale Infrastruktur, die nicht top-down geplant, sondern gemeinsam hervor- gebracht und bewirtschaftet wird. Sie demonstriert, dass gemeinschaftliche Stadtproduktion eine tragfähige dritte Säule neben Markt und Staat sein kann.

Lernen von …
Wien und Rom stehen für zwei unterschiedliche urbane Realitäten: Hier eine Stadt, die Gemeinwohl durch Regulierung und Paternalismus zu sichern versucht; dort eine Kommune, in der Gerechtigkeit durch Improvisation, Widerstand und kollektives Handeln immer wieder neu erkämpft wird. Doch beide Städte zeigen: Urbanität entsteht in der Balance zwischen Fürsorge und Emanzipation. Wien könnte von Rom lernen, mehr Raum für offene Prozesse und unvorhersehbare, gemeinschaftliche Initiativen zuzulassen. Die Stadtentwicklungs- und Wohnbaupolitik sollte sich von einer reinen Versorgungslogik lösen und stattdessen einen Ermöglichungsansatz verfolgen. Rom hingegen braucht eine öffentliche Hand, die das von den sozialen Bewegungen eingeforderte Gemeinwohl als langfristiges politisches Ziel übernimmt – eine Verwaltung, die informelle Prozesse nicht als Störung begreift, sondern als wertvolles Korrektiv ihrer eigenen institutionellen Defizite anerkennt und stärkt.
Diese Gegenüberstellung im Österreichischen Pavillon der Architekturbiennale Venedig 2025 eröffnet einen erkenntnisfördernden Dialog zwischen zwei Arten der urbanen Intelligenz, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen. Die Kurator*innen Michael Obrist, Sabine Pollak und Lorenzo Romito nennen ihren Beitrag Agency for Better Living – und diese Agency ist im doppelten Sinne zu verstehen: Architektur und Stadtentwicklung sind die kollektive Suche nach einem besseren Leben für alle. Dieser Ansatz erfordert, dass den Menschen, die Städte gestalten, beleben und immer wieder reproduzieren, Handlungsmacht – agency – eingeräumt wird. Aber er erfordert auch, dass die, die in ihrem Auftrag handeln – die Verwaltungen und Behörden im engeren Sinne der agency – die Instrumente der Stadtplanung gemeinwohlorientiert einsetzen. Damit Städte sich materiell und Gemeinschaften sich sozial regenerieren können, sind statt rigider Planungen offene und anpassungsfähige Prozesse notwendig. In einer Zeit, in der soziale Spannungen zunehmen, weil immer mehr Menschen vom Recht auf Stadt ausgeschlossen werden, muss die transformative Kraft der Architektur neu ins Bewusstsein gerückt werden: Sie ist weit mehr als bloße Behausung. Gelingende Architektur schafft Räume, die Gemeinschaft ermöglichen, Solidarität fördern und Vielfalt zulassen.
Vor diesem Hintergrund sind die Konzepte von Wien und Rom nicht als Gegensätze zu verstehen, sondern als zwei komplementäre Seiten derselben Medaille. Der eine Weg bietet Stabilität und Sicherheit, der andere zeigt, wie wichtig Flexibilität und Eigeninitiative sind. Gemeinsam weisen sie den Weg in eine urbane Zukunft, in der Teilhabe und Verantwortung Hand in Hand gehen. Das Recht auf Wohnen ist dabei weit mehr als der Anspruch auf ein Dach über dem Kopf – es ist das Anrecht darauf, die Stadt zu bewohnen.
Die imaginäre Begegnung zwischen Wien und Rom im Österreichischen Pavillon eröffnet einen Möglichkeitsraum, der mehr ist als ein Kompromiss: Er könnte das Fundament für eine neue europäische Stadtentwicklungspolitik bilden, die Gemeinschaffen, Migration und soziale Gerechtigkeit als zentrale Elemente der Stadtgestaltung versteht. In diesem Spannungsfeld kann die Suche nach dem besseren Leben beginnen.

Dank
Diese Ausgabe ist gemeinsam mit den Kurator*innen Michael Obrist, Sabine Pollak und Lorenzo Romito des österreichischen Beitrags für die Architekturbiennale Venedig 2025 entstanden. Sie dient als Katalog zur Ausstellung Agency for Better Living im Österreichischen Pavillon. Für die kenntnisreiche und kollegiale Gastredaktion danke ich dem kuratorischen Team und allen Beitragenden von Herzen. Mein Dank gilt ebenso dem ARCH+ Team, das in sehr kurzer Zeit das Projekt realisiert hat – allen voran Victor Lortie (Projektleitung), Nora Dünser (CvD) sowie Mirko Gatti, Markus Krieger, Daniel Kuhnert und Sergen Yener.

1 Editorial
Zwei Städte – Eine gemeinsame Suche nach dem besseren Leben
Two Cities: A Common Search for a Better Life
Anh-Linh Ngo

14 Wien

16 Essay
Hoffen Auf den New Deal?
Hoping for a New Deal?
Sabine Pollak, Michael Obrist

30 Essay
Die Verwaltung der Alternative – Politik und Ordnung im Wiener Wohnungswesen
The Administration of the Alternative: Politics and Policing in Vienna’s Housing Sector
Michael Klein

44 Photo Essay
Position Papers: Places of Planning and Self-Organization. Vienna
Armin Linke

54 Essay
Willkommensstadt oder Integrationsmaschine?
Arrival City or Integration Machine?
Christoph Reinprecht

64 Interview
Natur, Körper, Spiel
Nature, Body, Play
Sandra Bartoli & Maik Novotny im Gespräch mit / in conversation with Agency for Better Living

76 Photo Essay
Wo Wien wohnt
Vienna at Home
Zara Pfeifer

86 Interview
Die Stadt kuratieren?
Curating the City?
Veronica Kaup-Hasler im Gespräch mit / in conversation with Agency for Better Living

90 Essay
Am Limes des guten Lebens
Along the Limes of the Good Life
Lisz Hirn

98 Interview
Roma vs. Wien
Michael Obrist, Sabine Pollak & Lorenzo Romito von / of Agency for Better Living im Gespräch mit / in conversation with Philip Ursprung

114 Roma

116 Essay
Latium, Asylum, Mundus
Lorenzo Romito

128 Essay
Rom als System von Ruinen
Rome as a System of Ruins
Armando Gnisci

136 Photo Essay
Position Papers: Places of Planning
and Self-Organization. Rome
Armin Linke

146 Essay
Lago Bullicante und andere urbane Ökosysteme
Lago Bullicante and Other
Urban Ecosystems, Silvio Galeano

158 Essay
Rom bewohnen – Skizze eines politischen Kampfes
Inhabiting Rome: Notes from a Political Struggle
Giulia Fiocca

170 Photo Essay
Porto Fluviale
Luca Capuano & Alessandro Imbriaco

180 Essay
Die Welt als Mundus – Die Stadt von unten verwalten
The World as Mundus: Governing the City from Below
Federica Giardini

188 Essay
Was bleibt, wird Stadt
The Remains Become City
Rossella Marchini

202 Beteiligte / Contributors
205 Bildnachweise / Credits
206 Impressum / Imprint

Roma vs. Wien Michael Obrist, Sabine Pollak und Lorenzo Romito von Agency for Better Living im Gespräch mit Philip Ursprung Philip Ursprung: Der Österreichische Pavillon auf der diesjährigen Architekturbiennale behandelt zwei Städte: Wien und Rom. Der Pavillon selbst, entworfen von Josef Hoffmann und 1934 fertiggestellt, ist durch seine zwei symmetrischen Flügel geprägt. Spielt diese Symmetrie eine Rolle in eurer Ausstellung? Michael Obrist: Wir nutzen die Symmetrie als ein operatives Modell. Wir stellen zwei unterschiedliche Formen städtischer Intelligenz einander gegenüber und untersuchen, welche Schlüsselelemente notwendig sind, um daraus ein gemeinsames Narrativ zu weben. Sabine Pollak: Dieses Narrativ handelt nicht von heroischen Architekt:innen, sondern von zwei sehr unterschiedlichen Strategien urbaner Inklusion. Und wir stellen die Frage: Wie lassen sich diese beiden Ansätze miteinander verbinden? Lorenzo Romito: Auf der einen Seite ist Wien, auf der anderen Rom – mit ihrer jeweils spezifischen Expertise: top-down hier, bottom-up dort. Dazwischen liegt der Hof, ein Raum der Handlungsmacht, in dem beide Modelle aufeinandertreffen. Genau dort wollen wir neue Strategien diskutieren und entwickeln, die das Beste beider operativer Modelle zusammenbringen. Philip Ursprung: Könnt ihr Wien in einem Satz beschreiben? Michael Obrist: Wien ist keine rationale Stadt, aber eine gerechte – eine Stadt der Fürsorge und der Emanzipation. Philip Ursprung:  Und Rom? Lorenzo Romito: Rom, das moderne Rom, ist keine gerechte Stadt. Die jüngere Geschichte Roms ist eine Geschichte von Verdrängung, Vertreibung und Migration. Philip Ursprung: Inwiefern ist Wien eine gerechte Stadt? Michael Obrist:  Wien ist eine Stadt, die mit Stolz auf ihre traditionsreiche, progressive Sozialpolitik blickt – insbesondere im Bereich des Wohnbaus. Diese Tradition reicht zurück ins sogenannte Rote Wien, also in die Zwischenkriegszeit, als die von der Sozialdemokratie geführte Stadtregierung begann, der wachsenden Armut entlang der Stadtgrenzen mit einem umfassenden kommunalen Wohnbauprogramm für die Arbeiterklasse systematisch zu begegnen. Teil dieser Strategie war ein bedeutender Schritt: Wohnblöcke zu errichten, die nicht mehr nur dem reinen Zweck der Unterbringung dienten, sondern darüber hinaus Funktionen integrierten, die einen modernen, hygienischen Lebensstil fördern sollten. Die neuen Gemeindebauten wurden mit Kindergärten, Gemeinschaftsküchen sowie Einrichtungen zur Körperpflege und Gesundheitsvorsorge ausgestattet – alles Elemente, die als Bausteine auf dem Weg zu individueller und gesellschaftlicher Emanzipation verstanden wurden. Wien hat darüber hinaus auch eine bemerkenswerte Geschichte im konstruktiven Umgang mit Informalität: Schon in den 1920er-Jahren – also fast ein Jahrhundert vor Alejandro Aravena – versuchte Adolf Loos, einfache Bauelemente zu definieren, die das informelle Wachstum in den sogenannten Bretteldörfern unterstützen könnten. Diese provisorischen Siedlungen breiteten sich um die Jahrhundertwende über ganz Wien aus – und ähnelten in vielerlei Hinsicht den römischen Baraccopoli, wie sie Pier Paolo Pasolini in seinen Filmen porträtiert hat. Loos’ Überlegungen mündeten in das berühmte Haus mit einer Mauer – ein Projekt, das ähnlich wie Aravenas Elemental einen konstruktiven Rahmen schaffen wollte, um den Bewohner:innen informeller Siedlungen die Möglichkeit zu geben, sich selbst würdigen Wohnraum zu bauen. Allerdings gelang es der Stadt Wien, durch ihr kommunales Wohnbauprogramm innerhalb weniger Jahre die Wohnungsnot so wirksam zu lindern, dass das Thema Informalität weitgehend an Bedeutung verlor. Philip Ursprung: Diese Entwicklung wurde dann durch den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust jäh unterbrochen. Michael Obrist:  Ja. Die liberale jüdische Gemeinde Wiens prägte die Kultur der Stadt entscheidend in einer Zeit, in der Wien als Labor der Moderne galt. Die vollständige Auslöschung jüdischen Lebens während der NS-Herrschaft bedeutete eine tiefe Zäsur. Nach 1945 war die Stadt nur noch ein Schatten ihrer selbst und konzentrierte sich zunächst auf den raschen Bau einfacher Unterkünfte – ein pragmatischer Ansatz, der keine Vision über die reine Leistbarkeit hinaus verfolgte. Man muss allerdings fairerweise sagen: Auch die Grundrisse der Gemeindebauten des Roten Wien waren alles andere als utopisch. Mit wenigen Ausnahmen – etwa der Wohnanlage Heimhof mit ihrem Einküchenhaus – schrieben sie weitgehend traditionelle Geschlechter- und Familienrollen fort (→ Essay von Michael Klein). Radikal waren diese Wohnanlagen in ihrer sozialen Funktion, in der Überlagerung von Wohnen, Versorgung und Fürsorge. Die Wohnungen selbst jedoch blieben im Grundriss eher konventionell. Die vielleicht radikalste Idee des Roten Wien – kommunaler Wohnbau als Angebot für alle, nicht nur für Marginalisierte, und flächendeckend über das Stadtgebiet verteilt – fand nach dem Zweiten Weltkrieg erneut Eingang in die wohnungspolitische Praxis. Deshalb scheint es mir heute treffender, von „gesellschaftlichem Wohnungsbau“ statt von „sozialem Wohnungsbau“ zu sprechen. Doch erst im Zuge des gesellschaftlichen Wandels in den 1960er- und 70er-Jahren konnte der Geist von Loos’ Idee der Selbstbestimmung, gemeinsam mit neuen Vorstellungen von Partizipation, individueller Emanzipation und vielfältigen Familienmodellen, als neue Utopie wieder aufleben. Philip Ursprung: In Rom verlief die Geschichte ganz anders, oder? Lorenzo Romito:  In der Tat. Nach seiner „Eroberung“ durch das Haus Savoyen im Jahr 1870 wurde Rom stark militarisiert. Alarmiert von den jüngsten Ereignissen rund um die Pariser Kommune verhängte der König über die neue Hauptstadt Italiens – damals mit etwas über 200.000 Einwohner:innen – ein strenges Polizeiregime. Noch entscheidender war jedoch die Verlegung des Regierungssitzes von Florenz nach Rom. Sie zwang der Stadt eine spekulative Immobilienwirtschaft auf und legte damit den Grundstein für jene wiederkehrenden Zyklen von Räumung, Verdrängung und Migration, die die Geschichte des modernen Rom seither prägen (→ Essay von Giulia Fiocca). In diese Zeit fiel die Zerstörung ganzer Teile des historischen Zentrums. Hunderttausende Angehörige der Arbeiterklasse wurden in die Peripherie verdrängt – oft unter dem Vorwand, antike Ruinen freizulegen oder barocke Schätze zu schützen. Viele von ihnen wurden ab der Jahrhundertwende in die Borgate umgesiedelt, neue Satellitensiedlungen, die von der staatlichen Sozialwohnungsagentur Istituto Case Popolari (ICP) errichtet wurden. Der Großteil jedoch landete in informellen Siedlungen, vollkommen ohne jegliche Infrastruktur oder soziale Angebote. Dieser gewaltsame Verdrängungsprozess markierte den Beginn einer systematischen Kolonisierung des römischen Umlands und machte es möglich, die enormen, bis dato unerschlossenen Flächen der Vorstadt erstmals als Immobilienwert zu erschließen. In den ersten hundert Jahren als Hauptstadt Italiens wuchs Roms Bevölkerung auf das Vierzehnfache an und erreichte Ende der 1970er-Jahre 2,8 Millionen. Seit den 1980er-Jahren stagniert oder sinkt die Zahl der offiziell registrierten Einwohner:innen – nicht so jedoch die Immobilienpreise. Sie steigen weiter, ein untrügliches Zeichen dafür, dass ein neuer Zyklus der Verdrängung längst begonnen hat: Immer mehr Römer:innen sehen sich gezwungen, die Stadt zu verlassen und erneut in die Peripherie abzuwandern. Philip Ursprung:  Wie steht es in Rom mit dem sozialen Wohnungsbau? Lorenzo Romito:  Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in Italien drei große Programme für den sozialen Wohnungsbau aufgelegt. Das erste war das berühmte INA-Casa-Programm der 1950er-Jahre, das den landesweiten Bau von hunderttausenden Wohnungen ermöglichte. Es folgten zwei städtische Programme für Rom, die sogenannten Piani di Edilizia Economica Popolare (PEEP), verabschiedet 1964 und 1987. Während viele der im Rahmen dieser Programme errichteten Gebäude architektonisch durchaus interessante und ambitionierte Experimente darstellen, blieben sie städtebaulich weit hinter den Erwartungen zurück. Sie entstanden oft isoliert in den Außenbezirken, ohne sichtbare Verbindung zueinander oder zur gewachsenen Stadtstruktur – und wurden daher nie wirklich in das städtische Gefüge Roms integriert. Zugleich trieben sie jedoch den Bodenwert massiv in die Höhe und ebneten damit den Weg für Immobilienspekulanten, die vom Wertzuwachs der noch nicht entwickelten Flächen zwischen den neuen Satellitensiedlungen und dem historischen Zentrum profitierten. Hinzu kam, dass der gigantische bürokratische Apparat, der für die Umsetzung dieser Programme zuständig war, extrem träge arbeitete. Megastrukturen, die im Rahmen des ersten PEEP in den späten 1960er-Jahren als utopische Visionen entworfen worden waren, konnten oft erst in den 1980er-Jahren fertiggestellt werden – in einer Zeit, als die Postmoderne und das amerikanische Ideal des Vorstadt-Einfamilienhauses längst das Leitbild geworden waren. Diese zeitliche und kulturelle Kluft führte dazu, dass Projekte wie Corviale, Tor Bella Monaca und andere große Sozialwohnsiedlungen in der öffentlichen Wahrnehmung als überholt oder gescheitert galten. Für viele Menschen, die zuvor unter schwierigen Bedingungen in informellen Siedlungen gelebt hatten – aber mit einem stark ausgeprägten Gemeinschaftsgefühl –, war der Umzug in diese neuen Viertel ein Schock: Sie fanden sich in anonymen Großstrukturen wieder, ohne soziale Bindungen, ohne Infrastruktur, ohne Anschluss an die Stadt. In vielen dieser Wohnkomplexe wurden kurz nach ihrer Fertigstellung die öffentlichen Dienstleistungen wieder eingestellt. Es sind Orte, an denen die Träume der 1968er-Bewegung gescheitert sind – und an denen eine neue, marginalisierte Generation langsam in Richtung Nihilismus und Faschismus abzudriften begann. Philip Ursprung: Wie hängt deine Beschreibung Roms als Stadt der Vertreibung und Verdrängung mit dem Thema Migration zusammen? Lorenzo Romito:  Roms historische Stärke lag stets darin, eine Stadt der Fremden zu sein – seit seiner mythischen Gründung, als Romulus im Asylum auf dem Kapitol Fremden und Ausgestoßenen Zuflucht bot, um neue Bürger:innen für sein Projekt einer militärisch und wirtschaftlich selbstbestimmten Stadt zu gewinnen. Das moderne Rom hingegen hat sich systematisch geweigert, Zugewanderte als gleichberechtigte Bürger:innen zu integrieren, nicht zuletzt durch die gezielte Verweigerung des Zugangs zu leistbarem Wohnraum. Infolge des verwehrten Rechts auf Wohnen – und damit der verwehrten gesellschaftlichen Teilhabe – entwickelte sich unter den Betroffenen eine Vielfalt an Formen der Selbstorganisation, wie sie in anderen europäischen Städten nur selten zu beobachten ist (→ Essay von Federica Giardini). In Rom hat die öffentliche Hand nur selten Unterkünfte für Zugezogene bereitgestellt, weder für Binnenmigrant:innen in der Nachkriegszeit noch für international Zugewanderte in jüngerer Zeit. Soziale Inklusion war hier immer ein Bottom-up-Prozess, der von den Gemeinschaften selbst gestaltet wurde. In dieser Stadt vollziehen sich die ersten Schritte der Integration innerhalb der migrantischen Milieus – informell, ohne jede institutionelle Vermittlung. Die erste große Welle der Verdrängung migrantischer Gemeinschaften aus dem Stadtzentrum setzte mit der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 ein. Seither kam es zu einer Reihe gezielter Zwangsräumungen, die sich vor allem gegen ausländische Bewohner:innen richteten. Zu den eklatantesten Beispielen zählen die ehemalige Nudelfabrik Pantanella nahe der Porta Maggiore – von den gut organisierten südasiatischen Gemeinschaften, die sie bewohnten, liebevoll Shish Mahal (Kristallpalast) genannt – sowie Kerba, von der Presse oft als „Hotel Afrika“ bezeichnet: ein aufgegebenes Eisenbahndepot nahe dem Bahnhof Tiburtina, das als selbstorganisiertes Ankunftszentrum für Migrant:innen und Asylsuchende diente und vor allem von ostafrikanischen Gruppen aus dem Sudan, Äthiopien und Eritrea getragen wurde. Sabine Pollak: Lässt sich sagen, dass Integration in Rom eher bottom-up als top-down erfolgt? Lorenzo Romito:  Absolut. In Rom funktioniert soziale Inklusion grundsätzlich von unten. Wenn die Verwaltung von oben eingreift, dann meist nur, um in letzter Minute eine Art Notlösung zu präsentieren – oft bei Problemen, auf die Basisorganisationen und Aktivist:innen längst hingewiesen oder die sie sogar bereits selbst gelöst haben. In anderen Fällen entsteht die staatliche Mithilfe eher unfreiwillig – etwa dann, wenn die zahlreichen Ruinen gescheiterter öffentlicher Bauprojekte von Menschen, von der Natur – oder von beiden – zurückerobert werden. Solche Orte sind häufig Schauplätze unerwarteter Transformationen, an denen neue, experimentelle Nutzungen außerhalb institutioneller Strukturen entstehen – gerade weil diese in Rom besonders schwach und ineffizient sind. Diese Schwäche ist Ausdruck der politischen und wirtschaftlichen Unterordnung der Hauptstadt unter nationale Interessen. Man darf nie vergessen: Rom war für Italien nie das, was Paris für Frankreich ist. Michael Obrist: … oder Wien für Österreich. Lorenzo Romito:  Ganz genau, es war nie ein absolutes Zentrum. Das mag ein etwas zynischer Blick auf die Dinge sein, aber die institutionellen Schwächen der Stadt können für Graswurzelbewegungen durchaus vorteilhaft sein, da sie einen vergleichsweise großen Handlungsspielraum eröffnen. Wenn zivilgesellschaftliche Initiativen die Interessen der Verletzlichsten gemeinsam in die Hand nehmen, kann das zu unerwartet positiven Ergebnissen führen. Im besten Fall entsteht eine Synergie zwischen den Bewegungen und der öffentlichen Hand. Leider geschieht das selten aus echtem Kooperationswillen, sondern meist als Ergebnis langwieriger Konflikte und zäher Aushandlungsprozesse. Solche Entwicklungen verlaufen fast nie linear oder explizit – es ist eher ein langsames Umgehen der Institutionen, bei dem die Arbeit der Aktivist:innen und zivilgesellschaftlichen Gruppen vor Ort oft unsichtbar bleibt und kaum Anerkennung findet (→ Essay von Rossella Marchini). Philip Ursprung: Beide Städte standen – wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten – im Zentrum kosmopolitischer Ambitionen. Wie haben sich internationale Konflikte und daraus resultierende Migrationsbewegungen im Stadtraum niedergeschlagen? Denken wir etwa an die Vertreibungen infolge der Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren oder an die Fluchtbewegungen aus Syrien ab 2015. Wie werden diese Formen von Gewalt in den beiden Städten sichtbar, spürbar – im Alltagsleben, im Raum, im Verhalten? Michael Obrist: Österreich hat im Laufe des vergangenen Jahrhunderts mehrere Migrationswellen erlebt. Zwischen 1945 und 1947 kamen zahlreiche deutschsprachige Bevölkerungsgruppen, die aus Ost- und Südosteuropa geflüchtet waren, nach Wien. Der Ungarische Volksaufstand 1956, der Prager Frühling 1968, die polnische Krise 1981/82 und natürlich die Jugoslawienkriege der 1990er-Jahre lösten weitere Fluchtbewegungen in Richtung Wien aus. Aus östlicher Perspektive galt die Stadt ja immer als Tor zum Westen. Parallel dazu begann Österreich in den 1960er-Jahren, eine große Zahl sogenannter Gastarbeiter:innen anzuwerben – vor allem aus der Türkei und dem damaligen Jugoslawien. In jüngerer Zeit kamen neue Gruppen von Schutzsuchenden, etwa aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. All diese Migrationsbewegungen haben Österreichs demografische und kulturelle Landschaft nachhaltig geprägt.   Philip Ursprung: Wie hat Wien auf den demografischen Druck dieser Migrationsströme reagiert? Michael Obrist: Wien hasst Konflikte. Die österreichische Gesellschaft versucht, Konflikte oder Reibung um jeden Preis zu vermeiden. Und wenn man Reibung vermeiden will, dann muss man ausreichend Raum für alle Beteiligten schaffen. Lorenzo Romito: Meinst du mit Raum den sozialen Wohnungsbau? Michael Obrist:  Ja. In Wien ist man bereits nach zwei Jahren mit Hauptwohnsitz anspruchsberechtigt für eine Gemeindewohnung. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass der soziale Wohnungsbau in Wien für Menschen mit sehr unterschiedlichem sozialem Status offensteht: Die Einkommensgrenze liegt bei 59.000 Euro netto für Alleinstehende und bei 88.000 Euro für Paare – das ist wirklich viel. Und: Gemeindewohnungen sind über die ganze Stadt verteilt, auch in traditionell wohlhabenden Bezirken (→ Essay von Christoph Reinprecht). Das ist essenziell, um soziale Durchmischung zu sichern und die Entstehung urbaner Ghettos zu verhindern. Philip Ursprung: Das klingt fast zu gut, um wahr zu sein. Michael Obrist: Natürlich gibt es auch in Wien Stadtteile, in denen vor allem einkommensschwächere Gruppen leben – Studierende, ältere Menschen oder Angehörige der zweiten oder dritten Generation von Migrant:innen. Aber der Zugang zum sozialen Wohnungsbau ist grundsätzlich gerecht geregelt, und die Zuteilung erfolgt relativ zügig. Philip Ursprung: In dem idealen System, das Michael beschreibt, wirkt der Überfluss an öffentlichem Wohnraum wie ein Puffer – er absorbiert und entschärft mögliche Konflikte zwischen sozialen Schichten und ethnischen Gruppen. Sabine Pollak: Genau. Und das gilt auch im Kleinen, innerhalb der Haushalte. Es funktioniert in beide Richtungen: Wenn eine große Familie in einer kleinen Wohnung ohne Rückzugsräume lebt, ist Ärger fast vorprogrammiert. Wenn der Platz knapp ist, entstehen Spannungen. Lorenzo Romito: Mit Konflikten umzugehen, die durch Raumnot entstehen, gehört tatsächlich zur täglichen Arbeit vieler Aktivist:innen und Initiativen in Rom. Sabine Pollak: Deshalb interessiert uns, wie es die oft sehr großen und heterogenen Gruppen, die leerstehende Gebäude in Rom besetzen, schaffen, sich zu organisieren und nach gemeinsamen Regeln zusammenzuleben. Welche Räume teilen sie sich? Wie werden Konflikte verhandelt? Diese Organisationsmodelle lassen sich nicht einfach auf Wien übertragen, und nicht alle Menschen möchten so eng in eine Gemeinschaft eingebunden leben. Aber gemeinsame Räume zwingen zur Kommunikation – und eröffnen die Möglichkeit, Konflikte aktiv auszutragen, statt ihnen auszuweichen. Diese Kultur kann sich aber nur entwickeln, wenn solche gemeinschaftlichen Räume überhaupt vorhanden sind. Und ohne diese traditionell agonistische Konfliktkultur sehen wir inzwischen auch in Wien, dass Wohn- und Außenräume zunehmend umkämpft sind, insbesondere in den Sommermonaten. Die Gebäude heizen sich derart auf, dass sie nahezu unbewohnbar sind, was zu einem neuen, bislang unbekannten Druck auf die wenigen verfügbaren Außenräume führt. In Rom hingegen hat der gemeinsame Kampf um das Recht auf Wohnen und um kollektive Räume viele Menschen zusammengebracht – nehmen wir zum Beispiel das Gebiet rund um den Lago Bullicante, das von einem breiten Bündnis zivilgesellschaftlicher Gruppen besetzt, genutzt und bewirtschaftet wird. Solche Dynamiken fehlen in Wien weitgehend. Mangel wird dort generell mit kollektivem Stillschweigen toleriert, und wenn ein Konflikt auftaucht, wird er meist schnell wegmoderiert (→ Interview mit Sandra Bartoli und Maik Novotny). Wiens Toleranz gegenüber Konflikten ist gering – vielleicht zu gering im Vergleich zu anderen Metropolen. Philip Ursprung: Ist es die Stadtverwaltung, die diese Konflikte moderiert und abfedert? Sabine Pollak: Ja, von den großen kommunalen Institutionen bis hinunter zu den Bezirksstrukturen. Michael Obrist: Ich würde sagen, Wien ist im Kern eine Stadt der Moderation. Philip Ursprung: Bisher ist es in Wien nie zu sozialen Konflikten gekommen, die wirklich eskaliert wären – vielleicht, weil es auf eine gewisse Weise immer genug Raum gab. In Rom hingegen habe ich das Gefühl, dass es nie genug Raum gab. Lorenzo Romito: Ich persönlich würde das nicht als Frage von Platzmangel formulieren. In Rom gab es zwar nie genug Wohnungen, aber es gibt jede Menge Raum! In Rom selbst und in der ausgedehnten Region gibt es sehr viel Land, das potenziell entwickelt werden könnte. Rom ist in diesem Sinne endlos. Das Problem ist also nicht der Mangel an physischem Raum, sondern an politischem Willen. Gleichzeitig waren die Menschen extrem kreativ und widerstandsfähig darin, wie sie sich moderne Ruinen angeeignet und in lebendige öffentliche Orte verwandelt haben. Dabei reproduzieren sie oft intuitiv jene urbanen Transformationsprozesse, die in der langen Übergangsphase zwischen dem Untergang des antiken Roms und dem Aufstieg des päpstlichen Roms zur Neuerfindung der Stadt geführt haben. Wer diese alten und neuen Prozesse aufmerksam beobachtet, kann – ob als Architekt:in, Künstler:in oder Politiker:in – neue Perspektiven gewinnen und sich von übermäßigen, oft unnötigen institutionellen Zwängen befreien. Die sozialen Praktiken der Zivilgesellschaft in Rom haben dazu beigetragen, ein öffentliches und kulturelles Leben zu gestalten, dessen Beständigkeit es uns erlaubt, mit gutem Gewissen weiterhin von der „ewigen Stadt“ zu sprechen. Rom kann als Modell dafür gelten, wie man auf Krisen reagiert, das Unerwartete annimmt, Räume neu nutzt, Vergangenheit bewahrt und sich gleichzeitig möglichen Zukünften öffnet – und wie man mit der Andersheit der Natur koexistiert (→ Essay von Armando Gnisci). All das sind Werkzeuge und Praktiken, die uns im Umgang mit den vielen Krisen unserer Zeit äußerst nützlich sein können. Philip Ursprung: Kannst du ein Beispiel nennen? Lorenzo Romito: Die Piazza Navona, wie wir sie heute kennen, ist das Ergebnis zweier konkurrierender Entwürfe von Lorenzo Bernini und Francesco Borromini im 17. Jahrhundert – auf dem Gelände des antiken Stadions des Domitian. Der Platz hat die Form des Stadions aus dem ersten Jahrhundert nach Christus bewahrt, dessen Ruinen nach dem Untergang des Römischen Reiches über Jahrhunderte hinweg von der Bevölkerung angeeignet wurden. Im 17. Jahrhundert wurde der Platz dann mit der repräsentativen Architektur der beiden Meister veredelt, er hat allerdings die ursprüngliche Form des Stadions beibehalten – eine Transformation, deren Intelligenz in dem jahrhundertelangen informellen Prozess der Wiederaneignung liegt. Ein aktuelles Beispiel wäre der Lago Bullicante – ein See, der 1991 ganz spontan entstand, als man auf dem Gelände einer stillgelegten Fabrik Aushubarbeiten für den Bau eines Einkaufszentrums durchführte. Dass sich dort ein Grundwasserleiter befand, hätte niemanden überraschen dürfen; das Projekt musste jäh unterbrochen werden, und das Gelände wurde erneut sich selbst überlassen. In den drei Jahrzehnten seit dem Ereignis hat sich rund um den See ein vielfältiges Ökosystem entwickelt. Der See wurde zum Mittelpunkt einer äußerst aktiven Gemeinschaft, die sich im gemeinsamen Kampf um den Schutz dieses neuen urbanen Ökosystems zusammengeschlossen hat. Was diese Erfahrung hinterlässt, geht weit über den Umweltaspekt hinaus: Der Lago Bullicante ist ein lebendiges Beispiel für die Aneignung und Umnutzung moderner Ruinen, das andernorts Schule machen könnte (→ Essay von Silvio Galeano). Heute arbeiten Anwohner:innen gemeinsam mit Aktivist:innen, Forscher:innen und Künstler:innen daran, kollektive Ausdrucksformen und Rituale zu entwickeln, um die Geschichte des Sees zu feiern und diese Erfahrung an die nächste Generation weiterzugeben. Und das alles geschieht vollständig außerhalb institutioneller Strukturen. Es gibt viele weitere Geschichten solcher zivilgesellschaftlicher Wiederaneignungen in Rom, die darauf warten, erzählt zu werden. Philip Ursprung: Welche Rolle spielt der öffentliche Raum bei der Konfliktregulierung in Wien? Von außen betrachtet wirkt Wien viel hermetischer als Rom: eine endlose Abfolge steinerner Fassaden, mit kaum wahrnehmbarem öffentlichem Raum. Michael Obrist: Das öffentliche Leben in Wien findet weniger auf Plätzen statt – es verlagert sich eher in sogenannte Dritte Orte, etwa in die Kaffeehäuser. Wien ist eine Stadt der Innenräume. Die meisten Plätze in Wien sind Orte der Repräsentation, nicht der Begegnung. Stadtplanung ist in Wien traditionell eine eher utilitaristische Angelegenheit: Sie bestand lange Zeit darin, Block um Block hinzuzufügen, ohne dem öffentlichen Raum besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Zwischen 1840 und etwa 1918, in der sogenannten Gründerzeit, erlebte Wien ein rasantes städtisches Wachstum, gekennzeichnet von dichten, massenhaft produzierten privaten Wohnblöcken, die nach einem starren städtebaulichen Raster angeordnet waren. Diese Gebäude haben sich über die Zeit als erstaunlich anpassungsfähig und begehrt erwiesen, nicht zuletzt wegen ihrer großzügigen Raumhöhen. Der klassische Gründerzeitblock konnte beliebig oft wiederholt werden, wie wir etwa in Otto Wagners Vision der unbegrenzten Großstadt sehen. Philip Ursprung: Das Ergebnis ist ein System, keine Form. Michael Obrist: Stimmt, Wagners Generalregulierungsplan von 1892/93 war ebenso ein städtebauliches wie ein unternehmerisches Modell der Bodenspekulation. Will man in einem solchen Raster mehr öffentlichen Raum schaffen, entfernt man einen der Blöcke, so einfach ist das. Der moderne Wohnbau in Wien ist ein Governance-System, das nicht automatisch eine urbane Form hervorbringt. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte der Aufstieg des Massenwohnungsbaus zu überwiegend isolierten Wohnsiedlungen, meist um Innenhöfe herum angeordnet. Diese Raumorganisation nahm ein Gesellschaftsbild und ein öffentliches Leben vorweg, das auf kleine, nach innen gerichtete Gemeinschaften fokussiert war. Woran es in Wien mangelt, sind offen zugängliche öffentliche Räume auf Nachbarschaftsebene. Sabine Pollak: Aber diese Dynamiken beginnen sich jetzt zu verändern. Michael Obrist: Du hast recht. Seit ich in Wien lebe, ist die Stadt um 500.000 Menschen gewachsen. Dieses enorme Bevölkerungswachstum bringt neue Bedürfnisse mit sich – und ein verändertes Verständnis von öffentlichem Raum. Sabine Pollak: In diesem Zusammenhang ist es, glaube ich, wichtig zu betonen: Auch wenn Wien lange von einem Überangebot an Raum profitiert hat – und von der Fähigkeit, dadurch Konflikte aufzufangen und zu entschärfen –, stehen wir jetzt an einem kritischen Wendepunkt. Denn allein die Verfügbarkeit von Raum schützt nicht vor aggressiver Bodenspekulation und neu aufkommenden Konflikten. In den vergangenen Jahren wurden unzählige Wohnhäuser – ja ganze Viertel – aufgekauft, renoviert und in Hotelzimmer oder Kurzzeitvermietungen umgewandelt. Das macht die Stadt zunehmend unzugänglich (→ Essay von Lisz Hirn). Philip Ursprung: Kommen wir vom Thema Konflikt zum Thema Macht. Städte sind historisch gewachsene Machtzentren, die oft aus der Kolonisierung von Territorien und der Beherrschung des Umlands hervorgegangen sind. In diesem Sinne lässt sich fast jede Stadt als koloniales Projekt begreifen. Rom und Wien waren, wenn auch zu sehr unterschiedlichen Zeiten, beide Zentren von Imperien. Wie schlägt sich das in ihrem urbanen und sozialen Gefüge nieder? Lorenzo Romito: Rom war gleich zweimal ein globales Machtzentrum: zuerst während des Römischen Reiches und später als Hauptstadt des Christentums. In beiden Fällen hat die Stadt besser als Bühne internationaler Diplomatie funktioniert denn als emanzipierte Stadt, die sich um ihre eigenen Bürger:innen kümmert. In gewisser Weise war Rom stets eine dysfunktionale Stadt – selbst in seinen goldenen Zeiten. Philip Ursprung: Was meinst du mit dysfunktional? Lorenzo Romito: In der gesamten Neuzeit war Rom weder in der Lage, sich selbst zu verteidigen noch seine Finanzierung ohne die Unterstützung imperialistischer katholischer Nationen zu sichern. Rom war immer eine Stadt, die zu besuchen leichter war als in ihr zu leben – eine Ankunftsstadt für Geflüchtete, Pilger:innen und Tourist:innen. Europäische Könige und Kaiser suchten in Rom die symbolische Legitimation ihrer Macht und hielten die Stadt deshalb aus rein repräsentativen Gründen aufrecht. Diese Macht spiegelt sich in den prunkvollen Gebäuden und öffentlichen Plätzen wider, aber das moderne Rom war nie eine selbstbestimmte Macht. Es speiste seine Bedeutung immer aus anderen Nationen. Und selbst nach der italienischen Einigung unter der Savoyer Monarchie war Rom eher Kulisse für patriotische Proklamationen. Seine Macht blieb flüchtig – bloße Repräsentation und ein Missbrauch der imperialen Vergangenheit der Stadt. Philip Ursprung: Wie äußert sich das räumlich? Lorenzo Romito: Schauen wir uns zum Beispiel die Piazza Venezia an: Mit dem Bau des Denkmals für König Vittorio Emanuele II. – geplant nach dessen Tod im Jahr 1878 – wurde der Platz faktisch zum neuen Zentrum des modernen Roms erklärt. Für das monumentale Ensemble wurde ein Teil des Kapitols zerstört, darunter zahlreiche Wohnhäuser und bedeutende historische Bauten. Ähnlich verhielt es sich mit der Achse von der Piazza Venezia bis zum Kolosseum entlang der antiken Kaiserforen: Mussolini ließ weite Teile der Ruinenlandschaft überbauen, für deren „Freilegung“ zuvor noch eine groß angelegte Räumungs- und Abrisskampagne durchgeführt wurde. Ziel der gesamten Operation war es, Roms imperiale Vergangenheit propagandistisch auszuschlachten und eine perfekte Kulisse historischer Kontinuität für die faschistischen Machtinszenierungen zu schaffen. Entsprechend setzte Mussolini den Stadtumbau anlässlich des Staatsbesuchs von Hitler im Jahre 1938 in Szene. Heute ist die Piazza Venezia erneut eine riesige Baustelle. In den kommenden zehn Jahren soll dort eine unfassbar teure U-Bahn-Station entstehen – ein weiteres Mammutprojekt, dessen Nutzen für die Lokalbevölkerung mehr als fraglich ist. In diesem Sinne ist Rom tatsächlich eine dysfunktionale Stadt. Philip Ursprung: Wie steht es um die Macht der beiden Städte über ihr jeweiliges Umland? Vor dem Hintergrund neuer globaler Machtzentren – politisch, finanziell oder technologisch – zeigt sich die Kluft zwischen Stadt und Land heute tiefer denn je. Wie verhalten sich Rom und Wien gegenüber ihren jeweiligen Provinzen? Michael Obrist: Roms Verwaltungsgebiet ist riesig, es reicht weit über die eigentliche Stadt hinaus. Wiens Stadtgrenzen dagegen sind mit seinen Verwaltungsgrenzen deckungsgleich – und die Sozialdemokratie hat außerhalb dieser Grenzen nicht einen Quadratzentimeter politische Gestaltungsmacht. Diese scharfe räumliche und politische Trennlinie zeigt sich sehr deutlich: Während Wien stark auf öffentlichen Wohnungsbau und öffentlichen Nahverkehr setzt, verlässt sich das umliegende Niederösterreich in beiden Bereichen fast ausschließlich auf private Lösungen. Sabine Pollak: Ich kann mich an nur eine Situation erinnern, bei der diese scharfe Trennung plötzlich verblasste – das war während der Überschwemmungen im Jahr 2024. Mit einem Mal strömte so viel Wasser aus dem Umland in die Stadt, dass wir gezwungen waren, diesen Notstand gemeinsam zu bewältigen. Und plötzlich funktionierte die Zusammenarbeit zwischen Wien und dem Umland reibungslos. Philip Ursprung: Ist Rom eine Stadt der Tragödie oder der Komödie? Lorenzo Romito: Rom war immer eine Komödie – eine international gefeierte Komödie. Die Tragödie der römischen Arbeiterklasse dagegen ist kaum je sichtbar, mit der einzigen großen Ausnahme des neorealistischen Kinos. Erst durch die Linse Pasolinis und seiner Vorgänger:innen sehen und begreifen wir die ungeheuren Kämpfe, die diese Stadt ausgefochten hat. Paradoxerweise nehmen wir diese Zeugnisse nur als Kunst wahr – und wir mögen sie oder mögen sie nicht, je nachdem, ob wir Pasolini mögen oder nicht mögen. Das für sich ist eine Tragikomödie! Wenn wir uns Pasolinis Filme ansehen, erkennen wir kaum, dass sich da reale Tragödien vor unseren Augen abspielen; wir sehen die Tragödie als Teil der Komödie. Philip Ursprung: Ist Wien eine Stadt der Komödie oder der Tragödie? Sabine Pollak: Der Tragödie. Michael Obrist: Was sich nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland im Jahr 1938 in Wien ereignet hat – die systematische Verfolgung und beinahe vollständige Vernichtung der jüdischen Gemeinde Wiens –, ist natürlich eine tiefe Tragödie, die sich unauslöschlich ins kollektive Gedächtnis der Stadt eingeschrieben hat. Aber Wien hat auch eine tragikomische Seite – den sogenannten „Wiener Schmäh“: eine Form des Humors, die von zynischer Ironie und Selbstironie lebt und die ein ganz wesentlicher Teil der Wiener Identität ist. Der Wiener Schmäh spiegelt die historische Neigung der Stadt zu pragmatischem Skeptizismus und widersprüchlichen Haltungen wider, gepaart mit einer Aversion gegen hochfliegende philosophische Prinzipien. Kein Hegel kam je aus Wien, nur skeptische Denker:innen. Der Wiener Humor lebt von dieser Mischung aus Leichtigkeit und Tiefe, die einen guten Einblick in die kulturelle Psyche der Stadt gewährt. Philip Ursprung: Was kann Rom von Wien lernen? Lorenzo Romito: Es wäre großartig, wenn die römische Stadtverwaltung einen Blick nach Wien werfen würde – um zu lernen, wie man Stadtpolitik tatsächlich umsetzt und wie Inklusion effektiv gestaltet werden kann. Denn was die meisten sozialen Bewegungen fordern, ist ja kein radikaler politischer Umsturz, sondern schlicht ein demokratischeres, effizienteres Planungssystem. Philip Ursprung: Und was kann Wien von Rom lernen? Sabine Pollak: In Rom finden viele spannende zivilgesellschaftliche Initiativen Raum, vor allem in leerstehenden Gebäuden. Diese zufällig entstehenden kulturellen und sozialen Orte ermöglichen kreative Nutzungen, die das stark regulierte Wiener Modell der Raumproduktion schlicht nicht zulässt. Ehemalige Bürogebäude werden zu Mikroapartments, schlecht belichtete Erdgeschosse zu Werkstätten, Tiefgaragen zu Clubs. Das Übermaß an Brachen und die Aneignung robuster, adaptiver Strukturen fördern die Entstehung urbaner Gemeingüter unterschiedlichster Art. Was Wien also von Rom lernen kann, ist ein kreativer Umgang mit dem Bestand. Die Wiener Effizienz in Finanzierung und Umsetzung öffentlicher Projekte hat ihren Preis: Vielfalt. Die Stadt unterliegt einem bürokratischen Homogenisierungsdruck, der Experimente nahezu verunmöglicht. Und das gilt nicht nur für Wien, sondern für Europa insgesamt. Der wirtschaftliche Druck auf den Bausektor ist inzwischen enorm – es bleibt kaum Raum für Experiment und Improvisation, während die Regulierungen immer restriktiver werden. Das Streben nach immer höheren Standards in einer Zeit schrumpfender öffentlicher Mittel führt dazu, dass am Ende immer weniger Menschen von den eingesetzten Ressourcen profitieren. Ich bin überzeugt: Es kann nur dann allen besser gehen, wenn es wirklich jedem von uns besser geht. Oder anders gesagt: Wenn es dir besser geht, ist das schön für dich, aber es darf nicht auf Kosten der anderen geschehen. Ein technologisch hochgerüstetes Gebäude, das sämtliche Umwelt- und Komfortstandards erfüllt, aber nur seinen Bewohner:innen zugutekommt, ist eine teure, egozentrische Angelegenheit. Nachhaltiger ist es, solidarische Netzwerke zu knüpfen, die möglichst vielen Menschen Zugang zu gutem Wohnraum und öffentlichen Räumen verschaffen. Auch das, denke ich, kann Wien von Rom lernen. Michael Obrist: Und noch etwas, das Wien von Rom lernen kann, ist Selbstermächtigung. Sie entsteht oft durch die Aneignung unerwarteter architektonischer Typologien – Orte, an denen neue Lebensformen erprobt werden, die in den bestehenden Systemen nicht vorgesehen sind. In Wien etwa bekommen Ehepaare oder eingetragene Partnerschaften nach wie vor einen bevorzugten Platz auf der Warteliste für eine Gemeindewohnung. Eine der großen Zukunftsfragen wird sein, wie radikal wir den Begriff des Haushalts neu denken – und wie wir alternative Modelle des Zusammenlebens jenseits der Kernfamilie entwickeln können. Ich bin überzeugt: Das gelingt nur über Selbstermächtigung. Denn sie schafft deutlich resilientere Strukturen der Solidarität, die den Krisen der Zukunft standhalten können.

Erscheinungsdatum
Zusatzinfo 200 farbige Abbildungen
Verlagsort Berlin
Sprache englisch; deutsch
Maße 235 x 297 mm
Gewicht 850 g
Einbandart geklebt
Themenwelt Technik Architektur
Schlagworte Architektur • Commoning • leistbarer Wohnraum • Österreichischer Pavillon • Rom • Sozialer Wohnungsbau • Venedig Architekturbiennale 2025 • Wien • Wohnungsfrage
ISBN-10 3-931435-89-X / 393143589X
ISBN-13 978-3-931435-89-9 / 9783931435899
Zustand Neuware
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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