African Spatial Thinking
Arch+ (Verlag)
978-3-931435-85-1 (ISBN)
Text: Melissa Makele, Anh-Linh Ngo
Wenn aus westlicher Sicht von Afrika die Rede ist, schrumpft ein Kontinent, der fast dreimal so groß ist wie Europa, auf eine Projektionsfläche zusammen. Stereotype Narrative von Mangel, „Rückständigkeit“ oder Einfachheit verstellen den Blick auf die historische Tiefe, die epistemische Komplexität und die Vielfalt kultureller, sozialer und ökologischer Wissensformen, die den Kontinent prägen. Im Architekturdiskurs tragen sie dazu bei, den Reichtum räumlicher und architektonischer Auseinandersetzungen auszublenden, der sich über Jahrhunderte im Austausch mit anderen Kulturräumen herausgebildet hat. Trotz seines geistigen Reichtums wird Afrika im Globalen Norden häufig durch das Prisma des Praktischen gelesen: als Ort des Machens und einer vermeintlich „informellen“ Praxis, auf den westliche Vorstellungen sozial engagierten Bauens projiziert werden. Die theoretischen und intellektuellen Horizonte, aus denen seine räumlichen Praktiken hervorgehen, bleiben dabei meist ausgeblendet.
Genau hier setzt diese Ausgabe an. African Spatial Thinking | Denkraum Afrika folgt dem Grundsatz, der ARCH+ seit jeher leitet: Theorie und Praxis sind untrennbar. Wer über Räume spricht, muss über die Kräfte sprechen, die sie hervorbringen – und jene Stimmen hörbar machen, die diese Kräfte wiederum prägen. Das Heft vollzieht deshalb eine bewusste Verschiebung: weg vom dominanten Sprechen über Afrika, hin zu einer Zentrierung afrikanischer und afrodiasporischer Denker*innen und Praktiker*innen, die aus ihren jeweiligen historischen, politischen und materiellen Kontexten heraus diskutieren, wie Raum entsteht, verhandelt und verteidigt wird.
Welche geistigen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse beherrschen die Raumproduktionen auf dem afrikanischen Kontinent? Wie reagieren sie auf globale Krisen und Herausforderungen wie Klimawandel, Urbanisierung, Mobilität und soziale Ungleichheit? Und wie lassen sich ausgehend von afrikanischen Analysen andere Vorstellungen von Raum, Verantwortung und Zukunft entwickeln?
Afrika als Idee
Afrika – der Singular im Titel dieser Ausgabe – löst die bekannten Reflexe aus: Ist das nicht vereinheitlichend? Wird die Vielfalt des Kontinents, gar die der Diaspora übergangen? Der senegalesische Philosoph Souleymane Bachir Diagne nimmt diese Einwände in seinem einleitenden Essay vorweg und wendet sie ins Produktive. Für ihn ist der Singular kein Akt der Vereinfachung, sondern ein philosophisches Werkzeug. Um die Pluralität Afrikas politisch fassen zu können, braucht es einen Begriff, der das Nachdenken über Gemeinsamkeiten überhaupt erst eröffnet: „Wenn wir ‚Afrika‘ im Singular sagen“, schreibt er, „geschieht dies nicht aus der Unkenntnis der konstitutiven Pluralität des Kontinents oder der Ethik des Pluralismus, die diese faktische Vielfalt erfordert“, sondern weil es darum geht, „eine Idee zu benennen, ein Projekt, ein Telos.“
Diese Idee steht für eine intellektuelle Bewegung, die ein zerrissenes Gedächtnis wieder zusammenführt – ein Gedächtnis, das durch Versklavung, koloniale Aneignung und imperialistische Herrschaft systematisch ausgelöscht wurde. Doch gerade diese Auslöschung spezifischer Erinnerungen, so Diagne, hat überhaupt erst dazu geführt, dass sich in der Diaspora ein globales afrikanisches Imaginäres herausbilden konnte, das sich mit den antikolonialen Bewegungen auf dem Kontinent verband. In dieser Genealogie steht der Panafrikanismus: nicht als mythische Erzählung einer natürlichen Einheit, sondern als politisches Projekt der Selbstbestimmung, als gedankliche Rückeroberung und Neuimagination dessen, was die Gewaltgeschichte der letzten Jahrhunderte auseinandergerissen hat.
Wenn hier also von Afrika im Singular die Rede ist, knüpft das Heft an diese emanzipative Tradition an, die aus der Erfahrung der Zersplitterung heraus den Gemeinsinn als politischen Horizont neu formuliert. Viele Beiträge dieser Ausgabe greifen dieses Erbe auf, indem sie lokal verankerte Umwelt- und Raumpraktiken mit einem universalistischen Denken verbinden, das Gerechtigkeit, Ökologie und Zukunft nicht partikular, sondern global fasst. Damit dieses Denken emanzipativ bleibt, darf es nicht in nativistische Vorstellungen von Ursprung, identitärer Reinheit oder kultureller Abgrenzung zurückfallen. Es nimmt afrikanische Positionalität vielmehr als Ausgangspunkt, um eine Reflexion zu eröffnen, die über den Kontinent hinausweist und die wechselseitige Verwobenheit lokaler und globaler Strukturen ins Zentrum rückt.
Das Erbe des Kolonialismus
Eine Auseinandersetzung mit Afrika als Denkraum bleibt jedoch hohl, wenn sie die historische Verantwortung der westlichen Industrienationen für kolonialrassistische Gewalt und Ressourcenausbeutung ausspart. Deutschland spielte dabei eine zentrale Rolle – ein Umstand, den die offizielle Gedenkpolitik gerne ausblendet. Als Gastgeber der Berliner Afrika-Konferenz von 1884/85 – dem Kulminationspunkt des europäischen „Wettlaufs um Afrika“ – war das Deutsche Kaiserreich maßgeblich an der Aufteilung des Kontinents beteiligt. Die deutschen Kolonien – darunter Kamerun, Togo, Tansania, Ruanda, Burundi und Namibia – waren Schauplätze massiver Gewalt, Enteignung und systematischer Ausbeutung. Die Spuren dieser Ordnung reichen bis in die Gegenwart: In Namibia etwa befinden sich noch immer rund 70 Prozent des Ackerlands im Besitz weißer Siedlerfamilien.
Die europäische Moderne, die sich gern auf Ideale der Aufklärung beruft, ist ohne diese kolonialen Grundierungen nicht zu denken. Ihre instrumentelle Rationalität legitimierte rassistische Ideologien pseudowissenschaftlich und etablierte ein System struktureller Unterdrückung, das auf den Arbeits- und Ausbeutungsregimen Schwarzer und versklavter Menschen basierte und die Herausbildung moderner kapitalistischer Produktionssysteme entscheidend vorantrieb. Die Folgen dieser Ordnung – sichtbar in Eigentumsregimen, Grenzziehungen, extraktiven Infrastrukturen und geopolitischen Abhängigkeiten – wirken lange nach der formalen Dekolonisation weiter. Sie haben sich nicht nur materiell, sondern auch mental abgesetzt. In Wissensordnungen, in Konzepten von Fortschritt und Stadt, in Begriffen wie „Informalität“ oder „Modernisierung“ liegen koloniale Sedimente, die freigelegt werden müssen, um anders denken zu können. Das Leitmotiv dieses Heftes ist daher erkenntnistheoretischer Natur: Afrika als Denkraum zu begreifen heißt, den Kontinent als epistemischen Partner ernst zu nehmen und von hier aus (neu) zu denken.
Ein besonders wirkungsmächtiges Erbe ist die kolonial geprägte Dichotomie von Formalität und Informalität, durch die bestimmte sozial-räumliche Praktiken und Architekturen als defizitär markiert und strukturell entwertet wurden. Dabei bildet Informalität für die Mehrheit der Weltbevölkerung die historische Norm, nicht die Ausnahme. Diese Logik zieht sich bis in die Gegenwart: Unter dem Banner von „Modernisierung“ oder „Stadtverschönerung“ lassen Regierungen in vielen Ländern „informelle“ Siedlungen räumen und gesellschaftlich marginalisierte Gruppen vertreiben, um westlich geprägte Fortschrittsnarrative zu erfüllen.
Die Bodenfrage und Gerechtigkeit
Hier setzt Franklin Obeng-Odoom in seinem Beitrag zur Bodenpolitik an. Seine Analyse zeigt, dass die Grenzziehung zwischen „formal“ und „informell“ nur die Oberfläche einer tieferliegenden Ordnung bildet, in der der Boden – als Ressource, als Wert, als Voraussetzung jedes sozialen Lebens – zunehmend von seinen gesellschaftlichen Funktionen getrennt wird. Wer über gerechte Städte sprechen will, muss daher beim Fundament beginnen: beim Boden. Je stärker Grund und Boden formalisiert und damit dem Markt überantwortet werden, desto ungleicher werden Städte; diese Diagnose reicht weit über den afrikanischen Kontext hinaus. Obeng-Odoom verschiebt den Blick daher weg von der Frage, wie Informalität reguliert werden sollte, hin zur grundlegenden Einsicht, dass Ungleichheit auf einem Eigentumsregime beruht, das die von der Gesellschaft erzeugten Werte privatisiert. Im Umkehrschluss heißt das: Jede Veränderung sozialer Verhältnisse bleibt unvollständig, solange die räumlichen Verhältnisse unangetastet bleiben.
Im Anschluss an die antikoloniale marxistische Black Radical Tradition entwickelt Obeng-Odoom daraus eine radikale Alternative: Sein Konzept des „gerechten Bodens“ richtet den Fokus weniger auf eine „gerechte“ Verteilung von Grundeigentum als auf die Bodenrente – jenen Wert, der durch gesellschaftliche Arbeit, Infrastruktur, Lagevorteile und ökologische Voraussetzungen entsteht. Weil diese Rente gesellschaftlich erzeugt ist, sollte sie nicht privat abgeschöpft werden. Ein gerechter Boden bedeutet daher, privat angeeignete Bodenrenten in gemeinwohlorientierte Strukturen zu überführen, die Wohnen, Gemeinwesen und ökologische Regeneration tragen können. Gerechtigkeit meint hier keine moralische Geste, sondern die institutionelle Neuordnung jener materiellen Grundlagen, aus denen soziale und ökologische Zukunft entstehen kann.
Earth Practice und Alltagsurbanität
Die Arbeit von Cave_bureau antwortet hierauf auf einer architekturräumlichen Ebene. Ihr Konzept von „Architektur als earth practice“ rückt die Erde selbst – als Material, als Archiv, als politisches Terrain –
ins Zentrum des Denkens über Zukunft. Ihre Recherchen zu geologischen Erdformationen, Tiefenschichten und Höhlenlandschaften zeigen, wie sich darin die Geschichte kolonialer Landnahme, extraktiver Gewalt und widerständiger Praktiken eingeschrieben hat. Zukunft entsteht hier nicht durch Fortschrittsentwürfe, die von oben aufgesetzt werden, sondern – im Sinne eines reverse
futurism – aus der Konfrontation mit den sedimentierten Bedingungen, die unter unseren Füßen liegen. Cave_bureau schärft diesen Blick, indem sie Zukunft als geologische Praxis versteht: nicht linear, sondern geschichtet; nicht abstrakt, sondern materiell; nicht entrückt, sondern erdverbunden.
Wer also die Zukunft afrikanischer Städte denken will, kommt um die Erde – in ihrem materiellen wie ihrem politischen Sinn – nicht herum. Earth practice bedeutet, das Archiv der Gewalt ebenso ernst zu nehmen wie das Archiv der Möglichkeiten. Es heißt, in Schichten einzudringen, in denen sich der Kolonialismus nicht nur geologisch, sondern auch in den Denktraditionen abgelagert hat – um sie freizulegen, zu kritisieren und neue räumliche Ordnungen zu entwerfen.
Im Zentrum dieser Ausgabe stehen deshalb sozial-räumliche Praktiken, die zeigen, wie sich Fragen von Boden, Gemeinschaft und Zukunft konkret materialisieren. Die Studie zum Compound House macht dies besonders deutlich: ein Hof, der als soziales Rückgrat funktioniert; Räume, die zwischen Wohnen, Arbeiten und Versorgung wechseln können; ein Bausystem, das sich über Generationen hinweg an veränderte soziale und ökologische Bedingungen anpasst. Resilienz entsteht hier aus gemeinsam getragenem Wissen, das Wohnraum, Infrastruktur und Fürsorge zusammendenkt. An diese Formen der Alltagsurbanität knüpft das Gespräch zwischen Mpho Matsipa und Emanuel Admassu an. Beide zeigen, dass Begriffe wie „Stadt“, „Wohnraum“ oder „Informalität“ kaum geeignet sind, um solche Praktiken zu erfassen, weil sie auf westlichen Paradigmen beruhen, die Mobilität, Mehrfachnutzung, fluide Haushaltsformen und soziale Verpflichtungen nur unzureichend berücksichtigen. Ein erweitertes architektonisches Vokabular muss daher aus der Weiterentwicklung eigener räumlicher Logiken und sozialer Ökologien hervorgehen.
Afrikanische Zukünfte
Afrika urbanisiert sich so schnell wie keine andere Weltregion. 700 Millionen Menschen leben bereits in Städten, Tendenz steigend. Was heißt das für die Raumproduktion? Und wer bestimmt, welche Zukünfte möglich sind? Der senegalesische Denker Felwine Sarr formuliert dies in seinem Manifest Afrotopia als Kernfrage: „Die Herausforderung besteht darin, ein Denken zu artikulieren, das das Schicksal des afrikanischen Kontinents zum Gegenstand hat und dabei das Politische, das Wirtschaftliche, das Gesellschaftliche, das Symbolische und die künstlerische Kreativität in den Blick nimmt, gleichzeitig aber jene Orte bestimmt, an denen sich neue Praktiken, neue Diskurse ankündigen, an denen das kommende Afrika Gestalt annimmt.“ Diese Ausgabe präsentiert die Vielfalt dieser konkreten Möglichkeitsräume: in lokalen Bauweisen, die kollektives
Wissen und ökologische Verantwortung verbinden; in Schwarzen Gegenkartografien, die Eigentumsordnungen infrage stellen; in Infrastrukturen, die Wasser, Energie und digitale Technologien als Gemeingüter begreifen; in diasporischen Praktiken, die globale und lokale Bezüge neu herstellen.
Malcom Ferdinand öffnet diesen Blick für planetare Dimensionen. Seine „Kosmopolitik der Beziehungen“ fragt, wie eine gemeinsame Welt entstehen kann, die die Pluralität menschlicher und nicht-menschlicher Existenzen ernst nimmt. Solche Visionen machen deutlich: Dekolonisierung ist kein moralisches Add-on, sondern Voraussetzung jeder nachhaltigen Ordnung. Sie verlangt Rechenschaft, Reparatur und transformative Strukturen, die Gemeinwohlorientierung und ökologische Verantwortung zusammendenken.
Ausblick
Die in dieser Ausgabe verhandelten Debatten gewinnen im kommenden Jahr einen neuen institutionellen Resonanzraum: die erste Panafrikanische Biennale in Nairobi. Initiiert von Omar Degan, ist sie mehr als ein Festival oder Schaufenster. Sie ist ein Akt der Selbstermächtigung: eine Plattform, die nicht von außen definiert wird, sondern aus afrikanischen Kontexten heraus entsteht, mit eigenen Prioritäten, eigenen Begriffen, eigener Kritik. Sie schafft erstmals einen Ort, an dem architektonische Praxis, Forschung und Theorie auf kontinentaler Ebene miteinander ins Gespräch treten, frei von den Filtern internationaler, meist westlicher Kanoninstanzen. Sie setzt einen Impuls, der weit über den Kontinent hinausreicht: eine Neugewichtung globaler Diskurse, eine Verschiebung der Blickachsen und die kollektive Formierung einer Architektur, die sich aus ihren eigenen genealogischen, politischen und materiellen Bedingungen heraus definiert.
Die Theorien und Praktiken des afrikanischen Kontinents bieten hierfür entscheidende Impulse. Sie weisen weit über geografische Grenzen hinaus und machen die raumpolitischen Potenziale dieser transformativen Ansätze auch für den Globalen Norden sichtbar. Sie ermutigen zu einer grundlegenden Neuausrichtung im Denken über Raum und Gesellschaft, hin zu einer Welt, die für alle bewohnbar ist.
Denkraum Afrika
Text: Melissa Makele, Anh-Linh Ngo
Wenn aus westlicher Sicht von Afrika die Rede ist, schrumpft ein Kontinent, der fast dreimal so groß ist wie Europa, auf eine Projektionsfläche zusammen. Stereotype Narrative von Mangel, „Rückständigkeit“ oder Einfachheit verstellen den Blick auf die historische Tiefe, die epistemische Komplexität und die Vielfalt kultureller, sozialer und ökologischer Wissensformen, die den Kontinent prägen. Im Architekturdiskurs tragen sie dazu bei, den Reichtum räumlicher und architektonischer Auseinandersetzungen auszublenden, der sich über Jahrhunderte im Austausch mit anderen Kulturräumen herausgebildet hat. Trotz seines geistigen Reichtums wird Afrika im Globalen Norden häufig durch das Prisma des Praktischen gelesen: als Ort des Machens und einer vermeintlich „informellen“ Praxis, auf den westliche Vorstellungen sozial engagierten Bauens projiziert werden. Die theoretischen und intellektuellen Horizonte, aus denen seine räumlichen Praktiken hervorgehen, bleiben dabei meist ausgeblendet.
Genau hier setzt diese Ausgabe an. African Spatial Thinking | Denkraum Afrika folgt dem Grundsatz, der ARCH+ seit jeher leitet: Theorie und Praxis sind untrennbar. Wer über Räume spricht, muss über die Kräfte sprechen, die sie hervorbringen – und jene Stimmen hörbar machen, die diese Kräfte wiederum prägen. Das Heft vollzieht deshalb eine bewusste Verschiebung: weg vom dominanten Sprechen über Afrika, hin zu einer Zentrierung afrikanischer und afrodiasporischer Denker*innen und Praktiker*innen, die aus ihren jeweiligen historischen, politischen und materiellen Kontexten heraus diskutieren, wie Raum entsteht, verhandelt und verteidigt wird.
Welche geistigen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse beherrschen die Raumproduktionen auf dem afrikanischen Kontinent? Wie reagieren sie auf globale Krisen und Herausforderungen wie Klimawandel, Urbanisierung, Mobilität und soziale Ungleichheit? Und wie lassen sich ausgehend von afrikanischen Analysen andere Vorstellungen von Raum, Verantwortung und Zukunft entwickeln?
Afrika als Idee
Afrika – der Singular im Titel dieser Ausgabe – löst die bekannten Reflexe aus: Ist das nicht vereinheitlichend? Wird die Vielfalt des Kontinents, gar die der Diaspora übergangen? Der senegalesische Philosoph Souleymane Bachir Diagne nimmt diese Einwände in seinem einleitenden Essay vorweg und wendet sie ins Produktive. Für ihn ist der Singular kein Akt der Vereinfachung, sondern ein philosophisches Werkzeug. Um die Pluralität Afrikas politisch fassen zu können, braucht es einen Begriff, der das Nachdenken über Gemeinsamkeiten überhaupt erst eröffnet: „Wenn wir ‚Afrika‘ im Singular sagen“, schreibt er, „geschieht dies nicht aus der Unkenntnis der konstitutiven Pluralität des Kontinents oder der Ethik des Pluralismus, die diese faktische Vielfalt erfordert“, sondern weil es darum geht, „eine Idee zu benennen, ein Projekt, ein Telos.“
Diese Idee steht für eine intellektuelle Bewegung, die ein zerrissenes Gedächtnis wieder zusammenführt – ein Gedächtnis, das durch Versklavung, koloniale Aneignung und imperialistische Herrschaft systematisch ausgelöscht wurde. Doch gerade diese Auslöschung spezifischer Erinnerungen, so Diagne, hat überhaupt erst dazu geführt, dass sich in der Diaspora ein globales afrikanisches Imaginäres herausbilden konnte, das sich mit den antikolonialen Bewegungen auf dem Kontinent verband. In dieser Genealogie steht der Panafrikanismus: nicht als mythische Erzählung einer natürlichen Einheit, sondern als politisches Projekt der Selbstbestimmung, als gedankliche Rückeroberung und Neuimagination dessen, was die Gewaltgeschichte der letzten Jahrhunderte auseinandergerissen hat.
Wenn hier also von Afrika im Singular die Rede ist, knüpft das Heft an diese emanzipative Tradition an, die aus der Erfahrung der Zersplitterung heraus den Gemeinsinn als politischen Horizont neu formuliert. Viele Beiträge dieser Ausgabe greifen dieses Erbe auf, indem sie lokal verankerte Umwelt- und Raumpraktiken mit einem universalistischen Denken verbinden, das Gerechtigkeit, Ökologie und Zukunft nicht partikular, sondern global fasst. Damit dieses Denken emanzipativ bleibt, darf es nicht in nativistische Vorstellungen von Ursprung, identitärer Reinheit oder kultureller Abgrenzung zurückfallen. Es nimmt afrikanische Positionalität vielmehr als Ausgangspunkt, um eine Reflexion zu eröffnen, die über den Kontinent hinausweist und die wechselseitige Verwobenheit lokaler und globaler Strukturen ins Zentrum rückt.
Das Erbe des Kolonialismus
Eine Auseinandersetzung mit Afrika als Denkraum bleibt jedoch hohl, wenn sie die historische Verantwortung der westlichen Industrienationen für kolonialrassistische Gewalt und Ressourcenausbeutung ausspart. Deutschland spielte dabei eine zentrale Rolle – ein Umstand, den die offizielle Gedenkpolitik gerne ausblendet. Als Gastgeber der Berliner Afrika-Konferenz von 1884/85 – dem Kulminationspunkt des europäischen „Wettlaufs um Afrika“ – war das Deutsche Kaiserreich maßgeblich an der Aufteilung des Kontinents beteiligt. Die deutschen Kolonien – darunter Kamerun, Togo, Tansania, Ruanda, Burundi und Namibia – waren Schauplätze massiver Gewalt, Enteignung und systematischer Ausbeutung. Die Spuren dieser Ordnung reichen bis in die Gegenwart: In Namibia etwa befinden sich noch immer rund 70 Prozent des Ackerlands im Besitz weißer Siedlerfamilien.
Die europäische Moderne, die sich gern auf Ideale der Aufklärung beruft, ist ohne diese kolonialen Grundierungen nicht zu denken. Ihre instrumentelle Rationalität legitimierte rassistische Ideologien pseudowissenschaftlich und etablierte ein System struktureller Unterdrückung, das auf den Arbeits- und Ausbeutungsregimen Schwarzer und versklavter Menschen basierte und die Herausbildung moderner kapitalistischer Produktionssysteme entscheidend vorantrieb. Die Folgen dieser Ordnung – sichtbar in Eigentumsregimen, Grenzziehungen, extraktiven Infrastrukturen und geopolitischen Abhängigkeiten – wirken lange nach der formalen Dekolonisation weiter. Sie haben sich nicht nur materiell, sondern auch mental abgesetzt. In Wissensordnungen, in Konzepten von Fortschritt und Stadt, in Begriffen wie „Informalität“ oder „Modernisierung“ liegen koloniale Sedimente, die freigelegt werden müssen, um anders denken zu können. Das Leitmotiv dieses Heftes ist daher erkenntnistheoretischer Natur: Afrika als Denkraum zu begreifen heißt, den Kontinent als epistemischen Partner ernst zu nehmen und von hier aus (neu) zu denken.
Ein besonders wirkungsmächtiges Erbe ist die kolonial geprägte Dichotomie von Formalität und Informalität, durch die bestimmte sozial-räumliche Praktiken und Architekturen als defizitär markiert und strukturell entwertet wurden. Dabei bildet Informalität für die Mehrheit der Weltbevölkerung die historische Norm, nicht die Ausnahme. Diese Logik zieht sich bis in die Gegenwart: Unter dem Banner von „Modernisierung“ oder „Stadtverschönerung“ lassen Regierungen in vielen Ländern „informelle“ Siedlungen räumen und gesellschaftlich marginalisierte Gruppen vertreiben, um westlich geprägte Fortschrittsnarrative zu erfüllen.
Die Bodenfrage und Gerechtigkeit
Hier setzt Franklin Obeng-Odoom in seinem Beitrag zur Bodenpolitik an. Seine Analyse zeigt, dass die Grenzziehung zwischen „formal“ und „informell“ nur die Oberfläche einer tieferliegenden Ordnung bildet, in der der Boden – als Ressource, als Wert, als Voraussetzung jedes sozialen Lebens – zunehmend von seinen gesellschaftlichen Funktionen getrennt wird. Wer über gerechte Städte sprechen will, muss daher beim Fundament beginnen: beim Boden. Je stärker Grund und Boden formalisiert und damit dem Markt überantwortet werden, desto ungleicher werden Städte; diese Diagnose reicht weit über den afrikanischen Kontext hinaus. Obeng-Odoom verschiebt den Blick daher weg von der Frage, wie Informalität reguliert werden sollte, hin zur grundlegenden Einsicht, dass Ungleichheit auf einem Eigentumsregime beruht, das die von der Gesellschaft erzeugten Werte privatisiert. Im Umkehrschluss heißt das: Jede Veränderung sozialer Verhältnisse bleibt unvollständig, solange die räumlichen Verhältnisse unangetastet bleiben.
Im Anschluss an die antikoloniale marxistische Black Radical Tradition entwickelt Obeng-Odoom daraus eine radikale Alternative: Sein Konzept des „gerechten Bodens“ richtet den Fokus weniger auf eine „gerechte“ Verteilung von Grundeigentum als auf die Bodenrente – jenen Wert, der durch gesellschaftliche Arbeit, Infrastruktur, Lagevorteile und ökologische Voraussetzungen entsteht. Weil diese Rente gesellschaftlich erzeugt ist, sollte sie nicht privat abgeschöpft werden. Ein gerechter Boden bedeutet daher, privat angeeignete Bodenrenten in gemeinwohlorientierte Strukturen zu überführen, die Wohnen, Gemeinwesen und ökologische Regeneration tragen können. Gerechtigkeit meint hier keine moralische Geste, sondern die institutionelle Neuordnung jener materiellen Grundlagen, aus denen soziale und ökologische Zukunft entstehen kann.
Earth Practice und Alltagsurbanität
Die Arbeit von Cave_bureau antwortet hierauf auf einer architekturräumlichen Ebene. Ihr Konzept von „Architektur als earth practice“ rückt die Erde selbst – als Material, als Archiv, als politisches Terrain –
ins Zentrum des Denkens über Zukunft. Ihre Recherchen zu geologischen Erdformationen, Tiefenschichten und Höhlenlandschaften zeigen, wie sich darin die Geschichte kolonialer Landnahme, extraktiver Gewalt und widerständiger Praktiken eingeschrieben hat. Zukunft entsteht hier nicht durch Fortschrittsentwürfe, die von oben aufgesetzt werden, sondern – im Sinne eines reverse
futurism – aus der Konfrontation mit den sedimentierten Bedingungen, die unter unseren Füßen liegen. Cave_bureau schärft diesen Blick, indem sie Zukunft als geologische Praxis versteht: nicht linear, sondern geschichtet; nicht abstrakt, sondern materiell; nicht entrückt, sondern erdverbunden.
Wer also die Zukunft afrikanischer Städte denken will, kommt um die Erde – in ihrem materiellen wie ihrem politischen Sinn – nicht herum. Earth practice bedeutet, das Archiv der Gewalt ebenso ernst zu nehmen wie das Archiv der Möglichkeiten. Es heißt, in Schichten einzudringen, in denen sich der Kolonialismus nicht nur geologisch, sondern auch in den Denktraditionen abgelagert hat – um sie freizulegen, zu kritisieren und neue räumliche Ordnungen zu entwerfen.
Im Zentrum dieser Ausgabe stehen deshalb sozial-räumliche Praktiken, die zeigen, wie sich Fragen von Boden, Gemeinschaft und Zukunft konkret materialisieren. Die Studie zum Compound House macht dies besonders deutlich: ein Hof, der als soziales Rückgrat funktioniert; Räume, die zwischen Wohnen, Arbeiten und Versorgung wechseln können; ein Bausystem, das sich über Generationen hinweg an veränderte soziale und ökologische Bedingungen anpasst. Resilienz entsteht hier aus gemeinsam getragenem Wissen, das Wohnraum, Infrastruktur und Fürsorge zusammendenkt. An diese Formen der Alltagsurbanität knüpft das Gespräch zwischen Mpho Matsipa und Emanuel Admassu an. Beide zeigen, dass Begriffe wie „Stadt“, „Wohnraum“ oder „Informalität“ kaum geeignet sind, um solche Praktiken zu erfassen, weil sie auf westlichen Paradigmen beruhen, die Mobilität, Mehrfachnutzung, fluide Haushaltsformen und soziale Verpflichtungen nur unzureichend berücksichtigen. Ein erweitertes architektonisches Vokabular muss daher aus der Weiterentwicklung eigener räumlicher Logiken und sozialer Ökologien hervorgehen.
Afrikanische Zukünfte
Afrika urbanisiert sich so schnell wie keine andere Weltregion. 700 Millionen Menschen leben bereits in Städten, Tendenz steigend. Was heißt das für die Raumproduktion? Und wer bestimmt, welche Zukünfte möglich sind? Der senegalesische Denker Felwine Sarr formuliert dies in seinem Manifest Afrotopia als Kernfrage: „Die Herausforderung besteht darin, ein Denken zu artikulieren, das das Schicksal des afrikanischen Kontinents zum Gegenstand hat und dabei das Politische, das Wirtschaftliche, das Gesellschaftliche, das Symbolische und die künstlerische Kreativität in den Blick nimmt, gleichzeitig aber jene Orte bestimmt, an denen sich neue Praktiken, neue Diskurse ankündigen, an denen das kommende Afrika Gestalt annimmt.“ Diese Ausgabe präsentiert die Vielfalt dieser konkreten Möglichkeitsräume: in lokalen Bauweisen, die kollektives
Wissen und ökologische Verantwortung verbinden; in Schwarzen Gegenkartografien, die Eigentumsordnungen infrage stellen; in Infrastrukturen, die Wasser, Energie und digitale Technologien als Gemeingüter begreifen; in diasporischen Praktiken, die globale und lokale Bezüge neu herstellen.
Malcom Ferdinand öffnet diesen Blick für planetare Dimensionen. Seine „Kosmopolitik der Beziehungen“ fragt, wie eine gemeinsame Welt entstehen kann, die die Pluralität menschlicher und nicht-menschlicher Existenzen ernst nimmt. Solche Visionen machen deutlich: Dekolonisierung ist kein moralisches Add-on, sondern Voraussetzung jeder nachhaltigen Ordnung. Sie verlangt Rechenschaft, Reparatur und transformative Strukturen, die Gemeinwohlorientierung und ökologische Verantwortung zusammendenken.
Ausblick
Die in dieser Ausgabe verhandelten Debatten gewinnen im kommenden Jahr einen neuen institutionellen Resonanzraum: die erste Panafrikanische Biennale in Nairobi. Initiiert von Omar Degan, ist sie mehr als ein Festival oder Schaufenster. Sie ist ein Akt der Selbstermächtigung: eine Plattform, die nicht von außen definiert wird, sondern aus afrikanischen Kontexten heraus entsteht, mit eigenen Prioritäten, eigenen Begriffen, eigener Kritik. Sie schafft erstmals einen Ort, an dem architektonische Praxis, Forschung und Theorie auf kontinentaler Ebene miteinander ins Gespräch treten, frei von den Filtern internationaler, meist westlicher Kanoninstanzen. Sie setzt einen Impuls, der weit über den Kontinent hinausreicht: eine Neugewichtung globaler Diskurse, eine Verschiebung der Blickachsen und die kollektive Formierung einer Architektur, die sich aus ihren eigenen genealogischen, politischen und materiellen Bedingungen heraus definiert.
Die Theorien und Praktiken des afrikanischen Kontinents bieten hierfür entscheidende Impulse. Sie weisen weit über geografische Grenzen hinaus und machen die raumpolitischen Potenziale dieser transformativen Ansätze auch für den Globalen Norden sichtbar. Sie ermutigen zu einer grundlegenden Neuausrichtung im Denken über Raum und Gesellschaft, hin zu einer Welt, die für alle bewohnbar ist. ARCH+ 262: African Spatial Thinking | Denkraum Afrika
Wenn aus westlicher Sicht von Afrika die Rede ist, schrumpft ein Kontinent, der fast dreimal so groß ist wie Europa, auf eine Projektionsfläche zusammen. Stereotype Narrative von Mangel, „Rückständigkeit“ oder Einfachheit verstellen den Blick auf die historische Tiefe, die epistemische Komplexität und die Vielfalt kultureller, sozialer und ökologischer Wissensformen, die den Kontinent prägen. Trotz seines geistigen Reichtums wird Afrika im Globalen Norden häufig durch das Prisma des Praktischen gelesen: als Ort des Machens und einer vermeintlich „informellen“ Praxis, auf den westliche Vorstellungen sozial engagierten Bauens projiziert werden.
African Spatial Thinking | Denkraum Afrika vollzieht deshalb eine bewusste Verschiebung: weg vom dominanten Sprechen über Afrika, hin zu einer Zentrierung afrikanischer und afrodiasporischer Denker*innen und Praktiker*innen, die aus ihren jeweiligen historischen, politischen und materiellen Kontexten heraus diskutieren, wie Raum entsteht, verhandelt und verteidigt wird.
1Editorial
Denkraum Afrika
Melissa Makele, Anh-Linh Ngo
10Essay
Afrika denken/entwerfen
Souleymane Bachir Diagne
16Essay
Boden als Gemeingut
Franklin Obeng-Odoom
30Interview
Geologie des Widerstands als Reparatur
Kabage Karanja & Stella Mutegi (Cave_bureau)
im Gespräch mit Markus Krieger & Melissa Makele
48Essay
Informalisierte Architekturen und „informelle“ Moderne
Kuukuwa Manful, Emmanuel Ofori-Sarpong
60Praxis
Die erinnerte Moderne Westafrikas
Aziza Chaouni & Dana Salama (Aziza Chaouni Projects)
78Praxis
Togos Architekturmoderne
Jeanne Autran-Edorh & Fabiola Büchele (Studio NEiDA),
Sabrine Bako
90Interview
African Mobilities
Mpho Matsipa im Gespräch mit Emanuel Admassu
104Praxis
Two Markets
Emanuel Admassu, Jen Wood (AD–WO)
106Bildessay
Mutations
Andrew Esiebo
112 ARCH+ features
Pan-African Biennale
Omar Degan im Gespräch mit Markus Krieger &
Melissa Makele
114Essay
Afrotopia
Felwine Sarr
116Interview
Städte als Orte der Sinnproduktion
Carole Diop, Nzinga Biegueng Mboup, Dominique Petit-Frère
im Gespräch mit Melissa Makele
132Praxis
Fihankra: Die Wohnhöfe Westafrikas
Bushra Mohamed
140Praxis
Case Study: Compound House in Ghana
Nana Biamah-Ofosu
144Praxis
Goethe-Institut Dakar
Kéré Architecture
150Praxis
Backyard Community Club
DeRoche Projects
156Praxis
Architektur der Fürsorge
Eve Nnaji, Papa Omotayo
166Praxis
African Centre for Cities
Edgar Pieterse
170Interview
Praktiken der Mitwirkung
Zegeye Cherenet Mamo im Gespräch mit Marc Angélil
182Essay
Die afrikanische Stadt und die Plantage
Kenny Cupers, Wangui Kimari
194Essay
Smart-City-Ideale hacken
Prince Guma
204Praxis
Topografien des Aufstands
Ola Hassanain
208Praxis
Afrikanisch bei der Abreise, Schwarz bei der Ankunft
Khensani Jurczok-de Klerk
216Essay
Für eine Kosmopolitik der Beziehungen
Malcom Ferdinand
220 Beteiligte
223Bildnachweise
224 Impressum
ARCH+ Team dieser Ausgabe:
Nora Dünser (CvD), Markus Krieger, Daniel Kuhnert, Melissa Makele (Projektleitung), Anh-Linh Ngo (Redaktionsleitung), Lion Tautz
| Erscheinungsdatum | 06.11.2024 |
|---|---|
| Zusatzinfo | 200 farbige und s/w Abbildungen |
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | englisch; deutsch |
| Maße | 235 x 297 mm |
| Gewicht | 850 g |
| Einbandart | geklebt |
| Themenwelt | Technik ► Architektur |
| Schlagworte | Afrika • Diaspora • Infrastruktur • Klimaresilienz • Kolonialismus • Multiperspektivität • Ökologie • Ökonomie • Soziale Ungleichheit • Theorie • Zukunftsfragen |
| ISBN-10 | 3-931435-85-7 / 3931435857 |
| ISBN-13 | 978-3-931435-85-1 / 9783931435851 |
| Zustand | Neuware |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
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