Die Wissenschaftliche Weltauffassung (eBook)
180 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-7520-6 (ISBN)
Dr. Lothar Arendes arbeitete in der Hirnforschung und hatte seine Doktorarbeit über Aufmerksamkeit und Gedächtnis am Göttinger Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie verfasst. Zuvor hatte er in den USA den Master of Science in kognitiver und physiologischer Psychologie und in Gießen den Magister Artium in Philosophie mit den Studienelementen Theoretische Physik und Soziologie erworben. Sein Studium begonnen hatte er in Hannover mit dem Physikum in der Tiermedizin, wo er nun wieder wohnhaft ist.
1. Detailkenntnisse versus Überblick
Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert, in dem die Naturwissenschaften zu einer großen Vielzahl von Ergebnissen gelangten, welche die technische Entwicklung beschleunigten und dadurch die gesamte Gesellschaft grundlegend veränderten. Parallel zu diesen Erfolgen in den Detailfragen der einzelnen Forschungsdisziplinen wurde jedoch das Gesamtbild unseres Verständnisses von der Natur, von der Welt in ihrem Grundaufbau, immer unklarer. Das klassische wissenschaftliche Weltbild, welches ein physikalisch-chemisches Weltbild war, basierte auf den zwei Säulen des Atomismus und Mechanismus. Beginnend mit den Atomisten des 17. Jahrhunderts wurde angenommen, die Welt würde aus kleinsten Bausteinen, Atomen, bestehen, aus denen sich alle anderen Objekte baukastenartig zusammensetzen würden.1 Zusätzlich glaubte man an eine mechanistische Dynamik dieser Objekte, wonach die Anfangskonstellation dieser Objekte und der zusätzlich angenommenen physikalischen Grundkräfte die weitere Entwicklung der Welt für die gesamte Zukunft eindeutig festlegen würde: Alle Objekte bewegen sich unverändert geradlinig, solange ihre Bewegungsrichtung oder Geschwindigkeitsgröße nicht durch auf sie wirkende Kräfte geändert wird. Im Rahmen dieses atomistisch-mechanistischen Weltbildes glaubte man, dass über diese materiellen Objekte und den Grundkräften hinausgehend keine weiteren Entitäten existieren würden, und Vermutungen über zusätzliche biologische oder gar psychologische und soziologische Wesenheiten wurden teilweise sogar als unwissenschaftlich diffamiert.
Die Wissenschaftlergemeinschaft ist allerdings nie ein homogener Block, in dem alle dasselbe glauben. Neben dem scheinbar gesicherten Grundwissen, das fast alle teilen, gibt es die Bereiche der Forschung, in denen die Meinungen teilweise sehr weit auseinander gehen. Es gab immer Wissenschaftler, die das atomistisch-mechanistische Weltbild nicht akzeptierten. In der Biologie gab es immer wieder Forscher, die das scheinbar zielgerichtete Verhalten biologischer Vorgänge nicht für erklärbar hielten im Rahmen einer mechanistischen Dynamik. Das Herz hat die Funktion, die Blutzirkulation aufrechtzuerhalten, um dadurch den Organismus am Leben zu erhalten. Aber wie soll man dieses zweckhafte Verhalten mit Hilfe der physikalischen Kräfte mechanistisch erklären? Viele Biologen sahen in dieser Fragestellung schon immer ein grundsätzliches Problem, wohingegen die Mechanisten annahmen, es läge hier kein grundsätzliches Versagen der Physik vor, vielmehr könne man das Verhalten von Herz und Kreislauf nur deshalb nicht mathematisch gemäß den physikalischen Prinzipien errechnen, weil dieses und ähnliche Systeme sehr komplex und deshalb von Menschen aus praktischen Gründen mathematisch nicht errechenbar seien. Das atomistisch-mechanistische Weltbild stand aber noch anderen Problemen gegenüber. So war immer unklar, wie man auf dieser Grundlage das Bewusstsein erklären könne. Psychische Qualitäten wie Farben, Töne und Gefühle sind nicht einfach nur Zusammensetzungen aus Atomen. Um diesem Problem zu entgehen, nahmen immer wieder manche Wissenschaftler recht kuriose Einstellungen an; so negierten sogar die Behavioristen im 20. Jahrhundert die Existenz von Bewusstsein. Um derartigen externen Problemen des klassischen Weltbildes, der Physik, zu entgehen, waren Wissenschaftler zwar immer sehr einfallsreich, aber nicht immer überzeugend.
Der Zusammenbruch dieses Weltbildes fand jedoch erst statt, als es zu internen Problemen innerhalb der Physik kam. Unter anderem um die Fernwirkung aus der Gravitationstheorie zu eliminieren, ersetzte Albert Einstein Newtons Gravitationstheorie durch seine geometrische Theorie. Einsteins Theorien führten dazu, dass die Masse nicht mehr die „quantitas materiae“ ist, sondern ein Maß des Energiegehaltes, und dass es neben der Materie-Energie noch eine weitere Substanz, die Raumzeit, gibt, wobei das raumzeitliche Verhalten der Objekte aus klassischer Sicht in manchen Fällen völlig paradox sein kann (Zeitschleifen u.ä.). Um die diskontinuierlichen Atomspektren zu erklären, wurde kurze Zeit nach den Relativitätstheorien (RT) in den 20er Jahren die Quantenmechanik (QM) entwickelt, die den Bruch mit dem klassischen Weltbild endgültig herbeiführte. Diese Theorie lässt sich mit klassischen Vorstellungen überhaupt nicht mehr verstehen (siehe Anhang und Arendes 2019). Zum Beispiel bestimmen die physikalischen Kräfte nicht mehr eindeutig das Verhalten der Objekte, vielmehr beschreibt die QM nur die Wahrscheinlichkeiten, bestimmte Phänomene zu beobachten. Und schließlich entwickelte sich wenig später im Zuge der relativistischen Quantenmechanik die Elementarteilchenphysik, welche das atomistisch-baukastenartige Element des klassischen Weltbildes endgültig aufgeben musste, auch wenn man weiterhin von „Teilchen“ spricht. Die sogenannten „Elementarteilchen“ sind nicht im klassischen Sinn unzerstörbare Urbausteine der Welt, sondern ein rätselhaftes Etwas, das sich von einer Art in eine andere Art umwandeln kann und das spontan aus dem Nichts entstehen und ins Nichts verschwinden kann (s. Falkenburg 1995; Greiner & Wolschin 1994a).
Der Stand der heutigen Wissenschaft ist somit der, dass die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen eine Fülle von Detailkenntnissen erreicht haben, dass es mehrere fundamentale und sehr interessante Theorien gibt, dass man aber über den Grundaufbau der Welt, über die Grundprinzipien und Bausteine der Natur so sehr im Unklaren ist, dass viele Wissenschaftler dazu übergegangen sind, diese Fragen für irrelevant, wenn nicht gar für unwissenschaftlich zu halten. Demgegenüber muss jedoch betont werden, dass ein Überblickwissen über die Grundstrukturen der Welt auch für die fachspezifische Forschung von Bedeutung ist. Die Funktion eines Weltbildes beschränkt sich nämlich nicht darauf, lediglich einen synoptischen Überblick über die Welt zu liefern. Vielmehr haben Weltbilder auch die heuristische Funktion, den Wissenschaftlern bei ihren Forschungen Leitideen zu geben, die dazu beitragen können, spezifische Detailprobleme zu lösen. Ein Weltbild gibt den Forschern allgemeine Hinweise, wonach sie zu suchen haben. Hierauf wird im zweiten Kapitel über die naturphilosophische Methodologie genauer eingegangen.
Nach dem Zusammenbruch des klassischen Weltbildes ist nun eine der wichtigsten Aufgaben von Wissenschaft und Philosophie, ein neues Weltbild zu entwerfen. Das heute zu entwickelnde wissenschaftliche Weltbild unterscheidet sich erkenntnistheoretisch in einer wichtigen Hinsicht vom atomistisch-mechanistischen des 17. Jahrhunderts. Als im 17. Jahrhundert unsere heutige Form der Naturwissenschaft – systematische Experimente mit Hilfe dafür entwickelter Technologie und mathematische Darstellung ihrer Ergebnisse – entstand, konnte sich das atomistisch-mechanistische Weltbild noch nicht auf umfangreiche naturwissenschaftliche Erkenntnisse stützen, sondern war diesen Untersuchungen erst vorangestellt und entstammte aus allgemeinen philosophischen Überlegungen, die aus der Antike überliefert waren. Heute hingegen liegt eine Vielzahl von empirischen Daten und Theorien vor, aus denen heraus sich ein neues wissenschaftliches Weltbild herauskristallisieren kann. Während also das alte Weltbild der naturwissenschaftlichen Forschung vorangestellt war (sich aber natürlich im Verlauf der Forschung mit deren Ergebnissen änderte), geht das neue Weltbild erst aus der naturwissenschaftlichen Forschung hervor. Natürlich können auch hierbei allgemeine philosophische Überlegungen eine Rolle spielen, die sich auf Gedanken etwa aus der griechischen Antike beziehen.
Im klassischen wissenschaftlichen Weltbild nahm die Physik eine dominierende Rolle ein. Denn wenn sich alle Objekte ausschließlich aus den kleinsten Teilchen zusammensetzen und das Verhalten dieser Teile in allen Situationen nach den gleichen Gesetzen verläuft, so sollten sich zumindest im Prinzip alle Wissenschaften und somit das ganze Weltbild auf die Physik reduzieren lassen, da die Physik die Wissenschaft dieser Teile ist. Im Rahmen dieses Weltbildes war diese reduktionistische Sichtweise zwingend. Da man aber dieses Weltbild nicht mehr vertreten kann, ist diese dominierende Stellung der Physik nicht mehr überzeugend. Aus diesem Grund sollen hier bei der Ausarbeitung eines neuen Weltbildes und den darauf aufbauenden Leitideen zusätzlich die Ergebnisse der anderen Wissenschaften, vor allem die von Biologie, Psychologie und Soziologie, herangezogen werden. Es mag jedoch sein, dass es allgemeine Naturgesetze gibt, die auf allen Systemebenen, in allen Fachbereichen, gelten – sowohl bei unbelebter Materie als auch bei biologischen und sozialen Systemen, bei Elementarteilchen, Molekülen, Geweben, Organen, Organismen und Gesellschaften. Eine Wissenschaft, die allgemeine Gesetze aller Systemebenen untersucht, könnte man nun als Physik in einem allgemeinen Sinne bezeichnen; in einem engeren Sinne versteht man heute aber unter Physik die Untersuchung lebloser Materie und einfacher Objekte innerhalb von Organismen (Moleküle, Ionen etc.), und in diesem Sinn will ich den Begriff Physik im Folgenden gebrauchen. Für die Untersuchung von Gesetzmäßigkeiten auf allen Ebenen (von lebloser...
| Erscheint lt. Verlag | 5.7.2023 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Technik |
| ISBN-10 | 3-7578-7520-6 / 3757875206 |
| ISBN-13 | 978-3-7578-7520-6 / 9783757875206 |
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