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Unternehmen Architektur

Unternehmen Architektur

Buch | Softcover
192 Seiten | Ausstattung: Druckwerk
2023
Arch+ (Verlag)
978-3-931435-74-5 (ISBN)
CHF 33,55 inkl. MwSt
Arbeit
Text: Peggy Deamer

Laut einer Umfrage der deutschen Bundesarchitektenkammer betrug das Gesamt-Brutto-Jahresgehalt in Architektur- und Planungsbüros angestellter Kammermitglieder im Jahr 2021 im Durchschnitt 58.986 €, der Median lag bei 53.000 €. Bei weniger als 10 Jahren Berufserfahrung lag der Median bei 48.000 €. Knapp ein Drittel der Architekt*innen in Architektur- und Planungsbüros in Deutschland ist in Büros mit weniger als 10 Personen angestellt. Insbesondere Frauen sind häufiger in kleinen Büros angestellt. In großen Büros mit 50 und mehr Beschäftigten arbeiten gerade einmal 23 % der Architekt*innen. 47 % der europäischen Architekt*innen sind Partner*innen, Geschäftsführer*innen oder alleinige Inhaber*innen ihrer Büros.

Prolog: Wie sind wir an diesen Punkt gekommen?
Eine junge Zuhörerin hat vor kurzem auf einem Symposium die angesehenen Podiumsgäste gefragt, was sie von einem beruflichen Werdegang im Bereich Architektur erwarten könne. Einer der Teilnehmenden gab die inbrünstige Antwort: „Architektur ist kein Beruf. Sie ist eine Berufung!“
Diese Antwort zeugt von einer Selbsttäuschung und zeigt die ideologische Falle auf, in die Architekt*innen immer wieder tappen: Wir glauben gar nicht, dass wir arbeiten. Wir gehen ins Büro, wir bekommen ein Gehalt, sind aber der Meinung, dass das, was wir produzieren – nämlich Entwürfe –, mehr ist als ein Produkt oder eine Dienstleistung. Zwar erschaffen wir ein Objekt (ein ziemlich großes sogar), aber wir mögen die Vorstellung nicht, dass wir eine „Ware“ herstellen. Wir vergleichen uns mit Ärzt*innen und Rechtsanwält*innen, glauben aber, dass unsere Arbeit zu kreativ und kulturell zu bedeutsam ist, um unter „Dienstleistung“ eingeordnet zu werden. Folglich können wir unsere Arbeit nicht als Arbeit begreifen.
Wenn man bedenkt, dass die meisten Beschäftigten im Architektursektor für durchschnittlich 55.000 Dollar im Jahr 70 Stunden in der Woche arbeiten sollen, dann sind das 15 Dollar pro Stunde, also ungefähr so viel wie meine Tochter fürs Babysitten bekommt und auch nicht mehr als ein Fabrikarbeiter verdient.1 Im Vergleich zu Dienstleistungsberufen beträgt das Einstiegsgehalt bei Architekt*innen – mit einer vergleichbaren Ausbildungsdauer an einer der Spitzenhochschulen wie Yale – weniger als ein Drittel des Gehalts von Anwält*innen und Ärzt*innen. Nach sechs Jahren schließt sich die Lücke etwas, liegt aber immer noch lediglich bei knapp über 45 Prozent.2
Der Grund, warum sich Architekt*innen in dieser Situation wiederfinden, liegt nicht nur in der Unfähigkeit, ihre Arbeit als Arbeit zu erkennen, sondern auch in der lächerlichen Vorstellung vom Entwerfen, die von der eigentlichen Arbeit abgekoppelt ist. Architekt*innen gestalten, Bauunternehmer*innen bauen; wir machen Kunst, sie arbeiten. Diese Aufteilung, im konzeptuellen, aber auch vertraglichen Sinne, verhindert nicht nur, dass Architekt*innen die oben beschriebenen finanziellen und monetären Vorteile der anderen Branchen erhalten, sie nimmt ihnen auch ihre gesellschaftliche Relevanz und ihre persönliche Zufriedenheit. Die Ähnlichkeit zwischen Architektur und McDonald’s als margenschwachen Branchen ist nicht von der Hand zu weisen. Wie oft haben wir schon die Rechtfertigung des unterbezahlten Beschäftigten gehört: „Wie kann ich mehr Geld verlangen, wenn ich weiß, dass der/die Chef*in auch schlecht bezahlt wird?“3 Wenn wir Entwerfen getrennt von Arbeit betrachten, kommt uns unsere gesellschaftliche Relevanz abhanden, da wir uns nicht als Teil der Arbeiter*innenklasse begreifen. Wenn wir über Mindestlöhne diskutieren, über Streiks von nicht gewerkschaftlich organisierten Lebensmitteldienstleistern lesen, oder wenn wir Entwürfe produzieren, die unter menschenunwürdigen Bedingungen von Arbeiter*innen in Asien und dem Nahen Osten gebaut werden, dann scheint uns all das nichts anzugehen. Mehr noch, Marx hat deutlich gemacht, dass Arbeit eine soziale Frage ist, nicht nur weil sie die Arbeitenden verbindet, sondern auch, weil sie jeden Aspekt unseres privaten Umfelds und unserer psychischen Innenwelt durchdringt.
Wie lässt sich verhindern, dass Kunst und Kreativität von den Themen Arbeit/Lohnarbeit, Wert und Geld getrennt werden? Und warum ist die Vorstellung so weit verbreitet, dass Arbeit grundsätzlich keinen Spaß macht, nicht kreativ und ästhetisch ist? Theoretiker*innen, und zwar sowohl jene mit utopischen als auch jene mit pragmatischen Ideen, die den kreativen Charakter von Arbeit verfechten, können uns befreiende Sichtweisen auf neu strukturierte Konzeptionen und Formulierungen von Arbeit eröffnen. Die Implikationen für die Architektur sind hier von wesentlicher Bedeutung.

Teil I: Kunst als Arbeit/Lohnarbeit
„Ich war schon immer der Überzeugung, dass Kunst eine Lohnarbeit ist, die eine angemessene Vergütung verdient. Es ist oft schwierig, dies auf allen Ebenen des Kunstsystems geltend zu machen. Ich bin mir sicher, dass alle Beteiligten darin übereinstimmen, dass Kunst einen ‚Wert‘ hat, aber wenn es um deren Vergütung geht, wird die Sache diffus. Ich finde die Annahme problematisch, dass Kunst zu produzieren an sich lohnenswert ist und keine Vergütung braucht.“4 (Christine Hill)
Während die Ästhetik dazu tendiert, sich von Fragen der Arbeit zu distanzieren, sind beide – Ästhetik und Arbeit – doch historisch miteinander verflochten. Arbeit als Begriff, der sich vom Prinzip der Lehenspflicht unterschied, kristallisierte sich im späten 15. Jahrhundert mit jenen Handwerkern heraus, die Waren für den Handel bereitstellten. Der Umstand, dass diese Waren aus „freier Arbeit“ stammten, erlaubte es, ihnen einen Tauschwert zuzuschreiben.5 Obwohl die handwerkliche Arbeit nicht von Arbeitern im Auftrag der Arbeitgeber geleistet bzw. zwischen unabhängigen Händlern getauscht wurde, war sie doch von zentraler Bedeutung für das merkantile System, den Vorboten des Kapitalismus.6 Als durch die Industrialisierung der Einfluss der Zünfte auf die „freien“ Handwerker abbrach, wurden diese zu autonomen Arbeitern; gleichzeitig wurde ihre Arbeit, wie alle Arbeit, als Arbeitskraft tauschbar. Mit dieser Veränderung entstand die Unterscheidung zwischen Künstlern und Handwerkern, da Handwerker nun am Fließband standen. Für Marx besaß die Kunst als geistige Produktion das Potential, der kapitalistischen Besitzergreifung von Arbeit zu entgehen. Demnach sind wir alle potentiell Künstler*innen, da der Begriff „Künstler“ nur in Gesellschaften existiert, die durch Arbeitsteilung definiert und strukturiert sind.
„In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen“, schreibt Marx.7 In einer idealen Gesellschaft, „wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann“, ist es möglich „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“8
Die künstlerische Arbeit ist jedoch nach Marx nicht frei, wenn sie dem Kapitalismus in die Hände spielt. „Ein Schriftsteller ist ein produktiver Arbeiter, nicht insofern er Ideen produziert, sondern insofern er den Buchhändler bereichert, der den Verlag seiner Schriften betreibt, oder sofern er der Lohnarbeiter eines Kapitalisten ist.“9 Auch wenn Marx die kapitalistische Umklammerung der Tätigkeiten sicherlich nicht gutheißt, verweist er doch auf deren Unvermeidbarkeit.
Im frühen 20. Jahrhundert gingen die russischen Konstruktivisten mit ihrer Behauptung, dass Kunst Arbeit sei, noch einen Schritt weiter. Angesichts der politischen Atmosphäre versuchten sie auf überzeugende Weise darzulegen, dass die Kunst proletarisch und nicht bürgerlich sei, indem sie deren Verwandtschaft mit der Produktion hervorhoben. Wladimir Majakowski hat 1928 in der Zeitschrift Contemporary Architecture die für die Dichtung erforderlichen Voraussetzungen aufgelistet. An erster Stelle findet sich der Kommentar: „Dichten ist eine Produktion. Ungemein schwer, ungemein kompliziert, aber eine Produktion.“ Später fügt er hinzu: „Nur die Produktionstheorie der Kunst wird den Zerfall, die Grundsatzlosigkeit des Geschmacks, den Individualismus des Urteils beseitigen. Nur die Produktionstheorie wird den verschiedenen Arten der literarischen Arbeit die richtige Stelle zuweisen: dem Gedicht wie der Mitteilung des Arbeiterkorrespondenten. Sie wird an Stelle mystischer Erörterungen über ein poetisches Thema die Möglichkeit geben, exakt an die reifgewordene Frage nach der dichterischen Entlohnung und Bewertung heranzugehen.“10 Ebenso, wenn auch früher, schrieb Alexander Malinowski, alias Bogdanow: „Kreatives Schaffen, ob technologisch, sozio-ökonomisch, politisch, häuslich, wissenschaftlich oder künstlerisch, ist eine Form von Arbeit […], deren Produkt nicht ein repetitives, vorgefertigtes Stereotyp ist, sondern etwas ‚Neues‘. Es gibt keine und kann keine strikte Abgrenzung zwischen kreativem Schaffen und gewöhnlicher Arbeit geben; nicht nur gibt es auf allen Ebenen ein Wechselspiel, es ist oft auch unmöglich zu sagen, welche der beiden Bezeichnungen zutreffender wäre […].“11
Diese inspirierenden Äußerungen verdanken sich zwar einer erzwungenen konformistischen Haltung zum Kommunismus, dennoch zeugen sie auch von der Bereitschaft, Kunst nicht nur als Arbeit zu betrachten, sondern ihre Koexistenz in einem durch Arbeit definierten sozialen Gefüge anzuerkennen. Die deutschen Marxisten jener Zeit, obwohl sie im Gegensatz zu den Russen den Sozialismus aus der Außenperspektive betrachteten, teilten diese Überzeugung. Einige Mitglieder der Frankfurter Schule, darunter vor allem Walter Benjamin, griffen die Idee auf, dass die Arbeit als Modell für die Kunst dienen könnte. In Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935) verknüpft Benjamin geistige und künstlerische mit materieller und technischer Produktion. Damit folgte er Bertolt Brechts Anweisungen für ein episches Theater, das die Unterscheidung von Autor*innen und Darsteller*innen, Darsteller*innen und Bühnenarbeiter*innen sowie Darsteller*innen/Bühnenarbeiter*innen und Publikum aufhebt, da alle als kreativ Arbeitende betrachtet werden.
In einigen künstlerischen Praktiken in den späten 1960er- und 1970er-Jahren wurde, wie auch bei den Konstruktivisten, das Eindringen des Arbeitsbegriffs in die künstlerische Praxis diskutiert. Um der Erschöpfung des Kunstbegriffs entgegenzuwirken, inszenierte die Artist Placement Group (APG) sogenannte „Placements“, die gleichermaßen Performance und finanzielle Verhandlung waren.12 Sie sorgte dafür, dass die Kunst nicht von Wertesystemen, Arbeit und sozialem Wandel abgekoppelt wurde, indem sie Gewerkschaftsvertreter*innen in ihrem „Vorstand“ oder ihre Künstler*innen in Industriebetrieben und öffentlichen Institutionen unterbrachte, damit diese sich vor Ort an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen beteiligen konnten.
In der gleichen Tradition steht der etwas später durch den französischen Kunstkritiker Nicolas Bourriaud geprägte Begriff der Relationalen Ästhetik, mit der eine bestimmte Entwicklung in der Kunst der 1990er-Jahre beschrieben wird und die sich für eine Kunst einsetzt, die, „sich als redaktionelles Instrumentarium versteht, mit dem soziale Formen verändert, umstrukturiert und in ursprüngliche Szenarien integriert werden, wobei das Narrativ, auf dem ihre illusorische Legitimität begründet wurde, dekonstruiert wird. Der Künstler überschreibt bestehende Programme mit neuen und schlägt andere Verwendungsmöglichkeiten für die uns zur Verfügung stehenden Techniken, Werkzeuge und Räume vor.“13
In ihrer 1996 eröffneten Volksboutique in Berlin betrieb Christine Hill, die mit der Relationalen Ästhetik in Verbindung gebracht wird und die „immer der Überzeugung war, dass Kunst Arbeit ist und eine angemessene Entlohnung verdient“14, einen Secondhandladen, in dem sie in der Doppelrolle als Künstlerin und Verkäuferin Tee servierte, Secondhandkleidung verkaufte und Diskussionen anstieß. Als sie das Projekt 1997 für die documenta X in Kassel einrichtete, übertrug sie die Rolle der Verkäuferin im Secondhandladen auf Stellvertreterinnen. In einem anderen Fall kochte und servierte Rirkrit Tiravanija den Besucher*innen seiner Ausstellung Untitled 2002 Essen – das Werk wurde vom Guggenheim Museum mit Unterstützung von American Express angekauft, dessen PR-Abteilung die Programmgestaltung übernahm und nachfolgende Projekte und Veranstaltungen konzipierte.15
Bourriauds Relationale Ästhetik wurde von Künstler*innen, die außerhalb des Systems von Museen und Galerien arbeiteten, für ihre pseudo-soziale Beschäftigung mit einem exklusiven Publikum kritisiert. Dennoch agierten die künstlerischen Vertreter*innen der Relationalen Ästhetik in dem vollen Vertrauen, dass ihre Arbeit innerhalb eines Wertesystems funktionierte, mit dem gespielt werden konnte. Eine andere Sichtweise auf diese Beziehung zwischen Wert und Kunst vertrat der französische Philosoph Jacques Rancière. Rancière betonte, dass Arbeit durch die Logik der Kunst geprägt sei und nicht umgekehrt. In Die Aufteilung des Sinnlichen – Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien (2006) schreibt er, dass das „ästhetische Regime“ der Kunst (im Gegensatz zum trivialeren „ethischen Regime“ oder „poetischen Regime“) mit seiner „Formalität“ und „Sinnlichkeit“ unsere politischen Identitäten und damit auch unsere Haltung zur Arbeit prägt.16 In Die Nacht der Proletarier (1981) vertritt Rancière die Ansicht, dass die Arbeiter in der Französischen Revolution von 1830 nicht gegen ihre harten Lebensbedingungen kämpften, sondern gegen die Begrenztheit ihres Lebens. Anstatt sich nachts für die Arbeit am nächsten Tag zu erholen, lasen sie die Werke von Dichtern und Schriftstellern, die wiederum ihre Nächte damit verbrachten, eine Sprache der Befreiung zu erschaffen. Nachdem sie sich diese Sprache angeeignet hatten und dieses andere Leben lebten, verfügten die Arbeiter über die für eine Rebellion erforderlichen Strategien. Die künstlerische Praxis „antizipiert die Arbeit, weil sie deren Prinzip verwirklicht, nämlich die Umwandlung der sinnlichen Materie in die Selbstdarstellung der Gemeinschaft“.17 Unabhängig davon, ob die Kunst ihrer Verbindung zur Arbeit vorausgeht oder ihr folgt, haben Künstler*innen und Ästhetiker*innen in der Vergangenheit den schmalen Grat dazwischen immer wieder erkundet. Warum ist das an der Architektur vorbeigegangen?


Teil II: Arbeit als Kunst/Spiel
„Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.“18 (Karl Marx)
So wie die Auffassung von Kunst als Arbeit nahelegt, dass die Architektur als Berufsstand den „Wert der Arbeit“ berücksichtigen sollte, sollte auch die Tradition, die menschliche Arbeit als inhärent einfallsreich, kreativ und erfüllend versteht, in gleicher Weise von Architekt*innen aufgegriffen werden. Kreativität in der Architektur beruht nicht auf einer ständig erweiterten kategorischen Einbeziehung der Formgebung, sondern vielmehr auf einem fantasievollen Ansatz der Problemlösung.
Der entscheidende Text für fast alle, die sich mit den befreienden, spielerischen Aspekten von Arbeit befassen, ist Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). Schiller spricht zwar nicht explizit von Arbeit, aber er befasst sich mit der grundlegenden Bedeutung von ästhetischem Spiel und Kunst in den „zivilen Klassen“. Kultur, so Schiller, unterdrücke den „sinnlichen Trieb“ zugunsten des „Formtriebs“, sodass das Sinnliche zerstörerisch wirke, wenn es aus seinem Zustand der Unterdrückung hervortrete. Kunst und Spiel könnten diese negative Entladung überwinden, indem sie die falsche Dichotomie zwischen Bedeutung und Form transzendieren.19 Als Verteidigung gegen den möglichen Einwand, dass Kunst in ihrer Ausrichtung auf das „bloße“ Spiel herabgesetzt werde, schreibt Schiller: „aber was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen, daß unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel, und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet? Was Sie […] Einschränkung nennen, das nenne ich […] Erweiterung.“20
Ausgehend von Schiller rechtfertigt Gottfried Semper seine ästhetische Position in seiner „Prolegomena“ von Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder Praktische Aesthetik – Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (1860), indem er die Bedeutung der Freude und des Spiels unterstreicht. So schreibt er: „Was wir mit Schönheitssinn, Freuden am Schönen, Kunstgenuss, Kunsttrieb u.s.w. bezeichnen, ist in erhabnerer Sphäre analog mit denjenigen Trieben, Genüssen und Befriedigungen, durch welche die Erhaltung des gemeinen tellurischen Daseins bedungen ist, und die, genau betrachtet, sich auf Schmerz und dessen momentanes Beseitigen, Betäuben oder Vergessen zurückführen lassen. […] Umgeben von einer Welt voller Wunder und Kräfte, deren Gesetze der Mensch ahnt […], zaubert er sich die fehlende Vollkommenheit im Spiel hervor […], in diesem Spiel befriedigt er seinen kosmogonischen Instinkt.“21
Wie bereits beschrieben, werden nach Marx’ Vorstellung von der idealen sozialistischen Gesellschaft, die durch seine Lektüre von Schiller und anderen deutschen Philosophen der Romantik geprägt ist,22 alle Arbeiter als schöpferisch und jeder als Künstler aufgefasst, wohingegen „Freiheit“ nur außerhalb von Arbeit zu finden ist, wenn diese dem Kapital dient. Mit anderen Worten, Marx stellt das negative und durch den Kapitalismus aufgezwungene Bild von Arbeit dar, das optimistischere Theoretiker später zu revidieren versuchten.
Utopisten schwanken zwischen Marx’ negativem Bild der industriellen Produktion und der Hoffnung auf eine Gesellschaft, in der alle Arbeit fantasiereich ist. So zum Beispiel der amerikanische Sozialist Edward Bellamy, der in seinem utopischen Roman Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887 (1888) ein Regime beschreibt, welches die strikte Arbeitsteilung durchsetzt und die Trennung von Arbeit und Freizeit vorschreibt,23 während der englische Textildesigner sowie Marxist/Sozialist William Morris in Neues aus Nirgendland (1890), seiner kritischen Replik auf Bellamys Ein Rückblick, beschreibt, wie Menschen in seiner Vorstellung einer idealen Gemeinschaft Marx’ Vision ausleben, „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren“24, und ihre Art der Arbeit zur persönlichen Erbauung nach Belieben wechseln. Ebenezer Howards präzise Unterteilung von privater Arbeit und gemeinsamem Vergnügen in seiner Gartenstadt setzte Frank Lloyd Wright seine Broadacre City entgegen und bestand darauf, dass „unsere Freizeit, unsere Kultur und unsere Arbeit unser eigen sind und mit größter Wahrscheinlichkeit Eins sein werden“.25 Le Corbusier, der den grundlegenden Wert des (echten) Spiels verfocht, sagte: „Nur die, die spielen, sind ernsthafte Menschen […]. Die Bergsteiger, Rugbyspieler, Karten- und Glücksspieler sind Betrüger, da sie nicht spielen.“26
Während diese Utopisten mit ihrer Vision einer idealen Form von Arbeit vor allem deren tatsächliche Unannehmlichkeit hervorheben, richten die Philosophen des 20. Jahrhunderts – die entweder dem Lager der Neomarxisten oder dem der Pragmatisten angehören – den Blick auf die kreativen Aspekte von Arbeit im Kapitalismus. Herbert Marcuse greift Marx’ philosophische Hinterfragung von Schillers Betonung der Bedeutung des Spiels in den „zivilen Klassen“ auf. Indem er Schillers Dichotomie von sinnlichem Trieb und Formtrieb mit Freuds Lust- und Realitätsprinzip gleichsetzt, erhebt Marcuse Arbeit zum Lustprinzip. Er schreibt: „Abschaffung der Mühsal, Verbesserung der Umgebung […] All diese Tätigkeiten entspringen direkt dem Lustprinzip und begründen gleichzeitig Arbeiten und Werke, die die Einzelnen zu ‚größeren Einheiten‘ zusammenführen. Befreit aus der verstümmelnden Herrschaft des Leistungsprinzips modifizieren sie die Impulse, ohne sie vom Ziel abzulenken. So gibt es Sublimierung und infolgedessen Kultur; aber die Sublimierung geht in einem System dauerhafter und sich ausweitender libidinöser Beziehungen vor sich, die in sich selbst Werkbeziehungen sind.“27
In jüngerer Zeit betonen Neomarxisten das gemeinschaftliche, kooperative und kollaborative Wesen von Arbeit. Maurizio Lazzarato spricht in seinem Essay „Immaterielle Arbeit“ (1996) von dieser als „Begriff […], der die neue, die informationelle und kulturelle Dimension der Ware hervorbringende Qualität von Arbeit artikuliert“.28 Und in Bezug auf den Übergang von einer Dienstleistungs- zu einer Informationswirtschaft schreiben Antonio Negri und Michael Hardt in Empire – Die neue Weltordnung (2002): „Die Kooperation ist der Arbeitstätigkeit vollkommen immanent.“29 Nach Lazzarato ist Arbeit nunmehr die Domäne von „Massenintellektualität“, und von den Arbeitenden „wird erwartet, ‚aktive Subjekte‘ bei der Koordination unterschiedlicher Funktionen innerhalb der Produktion zu werden, statt sie bloß als einfaches Kommando zu ertragen. Ein kollektiver Lernprozeß rückt ins Herz der Produktivität, da es nicht länger darum geht, bereits kodifizierte professionelle Kompetenzen in unterschiedlicher Weise zusammenzusetzen oder zu organisieren, sondern es nach neuen zu suchen gilt.“30
Da das alte Modell für die Beschreibung von Produktion und Konsum nicht mehr brauchbar ist, so Lazzarato, solle man sich jenem Modell der Ästhetik zuwenden, welches „Autorschaft, Reproduktion und Rezeption“ umfasst: wenn der/die Autor*in seine Individualität verliert, wird „Reproduktion“ Organisation und „Rezeption“ ist dann auch Kommunikation. Lazzarato besteht darauf, dass dies nicht „utopisch“ sei, da diese Form von Arbeit immer noch die Funktionsweise des Kapitalismus beschreibe, da die Subjekte immer noch den Anforderungen der „Produktion um der Produktion willen“ entsprechen müssen. Kritiker*innen der immateriellen Arbeit weisen darauf hin, dass Arbeit schon immer eine immaterielle Seite hatte – Marx hat in seiner Argumentation nie die physische Natur der Arbeit betont, sondern vielmehr die soziale und subjektive Konstruktion von Arbeit. Und immaterielle Arbeit wird immer eine materielle Seite haben – während wir schwitzend unsere Zeit vor Computer, Spülbecken oder Ladentheke verbringen.
Für Alexander Galloway ist das Spiel – das ultimative Ziel – bereits in unsere kapitalistischen Produktionsstrukturen eingebettet, wie er in seiner Erörterung des Postkapitalismus darlegt: „Nach dem Versuch, sich ein Leben nach dem Kapitalismus vorzustellen […], sieht man, wie sich zwei der bislang nützlichsten Tropen für die Kommunikation eines Lebens nach oder außerhalb des Kapitalismus – Netzwerk und Spiel – langsam verschieben […]. Klar ist, dass die Möglichkeit eines Lebens nach dem Kapitalismus heute oftmals durch eine Anwendung der grundlegenden Merkmale des Kapitalismus selbst zum Ausdruck gebracht wird. Spiel ist Arbeit und Netzwerke sind Souveräne.“31
Peter Drucker, „der Mann, der die Unternehmergesellschaft erfand“ und der von den 1950er- bis weit in die 1980er-Jahre der Guru der Unternehmensführung war, nahm die Dezentralisierung des Kapitalismus, die Privatisierung und das Marketing vorweg. In Die postkapitalistische Gesellschaft (1993) geht Drucker jedoch einen Schritt weiter, wenn er das Wesen der Arbeit im Spätkapitalismus beschreibt. Im 18. Jahrhundert, so argumentiert Drucker, sei das Wissen des Arbeiters auf Werkzeuge, im 19. und frühen 20. Jahrhundert sei es hingegen auf Produktivität angewendet worden (Taylorisierung); gegenwärtig würde es auf das Wissen selbst angewendet. Heute würden „Wissensarbeiter*innen“ mit dem Wissen die Produktionsmittel besitzen. Da sich dank der Fähigkeiten dieser Arbeiter*innen – Forschung, Produktdesign, Herstellung, Marketing, Werbung, Kundenberatung, Finanzwesen, Vertragswesen – technische Einsichten mit Marketingstrategien und finanzieller Expertise verbinden lassen, wird die herkömmliche Unterscheidung zwischen Waren und Dienstleistungen aufgehoben. Da, so betont er, Unternehmen zu sehr „auf Dinge fokussiert“ waren und zu viele Dinge produziert haben, plädiere er für einen „geplanten Verzicht“, die Verblendung angesichts der Erfolge von gestern müsse ein Ende finden, die Dinge müssten verschlankt und eine Destabilisierung in Kauf genommen werden. Ziel von Organisationsmanagement sei die Erkenntnis, dass Arbeitnehmer*innen die wertvollste Ressource sind (die flexibelste und intelligenteste Komponente des Systems); außerdem müssten alternative, auf Spezialist*innen basierende Organisationsmodelle aufgebaut werden und die Unternehmen müssten sich eingestehen, dass das eigentliche Geschäft nicht „darin besteht, wie die Dinge richtig gemacht werden, sondern darin, das Richtige zu tun“. Diese Art von Arbeit, wie sie die Architektur verkörpert – nicht weil sie Form generiert, sondern weil sie so fließend organisiert ist –, klingt ziemlich vielversprechend.

Teil III: Architektur
Die beiden Argumentationsstränge, die hier verfolgt werden, führen zu bemerkenswert ähnlichen Projektionen für eine postfordistische Arbeit: Kreativität, die nicht auf die Herstellung von Objekten, sondern auf Prozesse angewandt wird; Destabilisierung; organisatorische Flexibilität; Sollbruchstellen; Stärkung der Autonomie des Arbeitenden. Die Architektur funktioniert zunehmend auf diese Weise, auch wenn ihre sichtbaren Strukturen dies noch nicht widerspiegeln. Design umfasst heutzutage nicht nur die Erfindung eines Objekts, sondern es ist eine Tätigkeit, die die Definition und Lösung von Problemen sowie eine Strukturierung von Informationen einschließt und auf der Grundlage anerkannter Bedingungen und Regeln eine bestimmte Vorgehensweise definiert.32 Die architektonische Arbeit wird nicht länger von Architekt*innen ausgeführt, vielmehr handelt es sich um eine kreative Bearbeitung eines von Spezialist*innen angefertigten Designs, welches von einer Vielzahl von Beitragenden entwickelt wurde. Architektonische Arbeit ist zunehmend dezentral und aufgefächert, kollaborativ und unternehmerisch, wissensbasiert und quelloffen, spezialisiert und flexibel.
Der Vorteil für Architekt*innen – wenn wir die Idee aufgreifen, dass unser Wissen und unsere Leistung eine räumliche, materielle und organisatorische Innovation ist – ist eine Neukonzeption unserer Vergütung und unserer Position im sozialen Gefüge.
Eine solche Neukonzeption der Vergütung beginnt mit der Abschaffung eines Honorars auf Basis der prozentualen Baukosten, was die fatale Vorstellung begünstigt, dass unser Wert sich am Objekt bemisst, das wir produzieren, und nicht am Wissen, das seiner Entwicklung zugrunde liegt. Nicht nur die Einmaligkeit des Objekts erhält hier fälschlicherweise einen Stellenwert, sondern wir werden sozusagen für Akkordarbeit bezahlt, die entwürdigendste Form der Entlohnung. Marx spricht diesbezüglich klare Worte: „Sie bildet daher sowohl die Grundlage der früher geschilderten modernen Hausarbeit als eines hierarchisch gegliederten Systems der Exploitation und Unterdrückung.“ Und er fährt fort: „Den Stücklohn gegeben, ist es natürlich das persönliche Interesse des Arbeiters, seine Arbeitskraft möglichst intensiv anzuspannen, was dem Kapitalisten eine Erhöhung des Normalgrads der Intensität erleichtert. Es ist ebenso das persönliche Interesse des Arbeiters, den Arbeitstag zu verlängern, weil damit sein Tages- oder Wochenlohn steigt.“33
Architekt*innen dürfte dies nur allzu bekannt vorkommen. Wenn dieses Szenario nur für den/die Partner*in des Architekturbüros im Verhältnis zu Kund*innen zuzutreffen scheint und nicht für die angestellten Mitarbeiter*innen, die den Großteil des Berufsstandes ausmachen, hat Marx auch dafür eine Erklärung parat: „Das [hierarchisch gegliederte System der Exploitation und Unterdrückung] besitzt zwei Grundformen. Der Stücklohn erleichtert einerseits das Zwischenschieben von Parasiten zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter, Unterverpachtung der Arbeit (subletting of labour). Der Gewinn der Zwischenpersonen fließt ausschließlich aus der Differenz zwischen dem Arbeitspreis, den der Kapitalist zahlt, und dem Teil dieses Preises, den sie dem Arbeiter wirklich zukommen lassen. […] Andrerseits erlaubt der Stücklohn dem Kapitalisten, mit dem Hauptarbeiter […] einen Kontrakt für soviel per Stück zu schließen, zu einem Preis, wofür der Hauptarbeiter selbst die Anwerbung und Zahlung seiner Hilfsarbeiter übernimmt. Die Exploitation der Arbeiter durch das Kapital verwirklicht sich hier vermittelst der Exploitation des Arbeiters durch den Arbeiter.“34 Das ursprüngliche und eigentliche Problem ist die Angepasstheit.
Alternativen dazu widersetzen sich nicht nur dem Akkordmodell der Vergütung, sondern auch einer Struktur, in der Architekt*innen den Bauherr*innen untergeordnet sind. Die naheliegende Option wäre hier die Baugruppe, es existieren aber auch findigere und weniger kostenintensive Ansätze. Bei der integrierten Projektabwicklung mit einer Zweckgesellschaft, einer Art Gesellschaft mit beschränkter Haftung, legen die Eigentümer*innen einen vereinbarten Geldbetrag beiseite, der als Wert des Projekts festgelegt wird; die Architekt*innen und die Auftragnehmer*innen (und andere) kalkulieren ihre Leistungen nach Aufwand, sodass sie in keinem Fall Geld verlieren. Es wird ferner vereinbart, dass es keine Gerichtsverfahren geben kann. Wenn die Arbeitskosten unter den Zielkosten liegen, werden die Ersparnisse durch drei geteilt. Ebenso würde die Bezahlung nach Gewinnanteil – eine Berechnung, die für die Bezahlung unabhängiger Projektmanager*innen zugrunde gelegt wird – den Mehrwert der architektonischen Intervention aufzeigen, eine Zahl, die nicht schwer zu ermitteln wäre.
Andere Vergütungsmodelle als das übliche Stunden- oder Jahresgehalt bieten sich auch für Architekt*innen an. Wissensbasierte Unternehmen konkurrieren um die besten und klügsten Köpfe und passen ständig ihre Vergütungsmodelle an, um ein Gleichgewicht zwischen der Attraktivität des Arbeitsplatzes sowie der Bindung der Spitzenkandidaten und der Rentabilität des Unternehmens herzustellen. Dass die Architekturbüros diesem Ansatz bei der Einstellung und Entlohnung noch nicht folgen, hat sicher damit zu tun, dass sich die Hochschulabsolvent*innen trotz ihrer teuren und sieben Jahre dauernden Ausbildung immer noch als billige Arbeitskräfte zur Verfügung stellen. Wie dem auch sei, anstelle von Pauschalvergütungen sollten anreizbasierte Löhne in Betracht gezogen werden. Miteigentümerschaft, leistungsabhängige Vergütung, variable Vergütungskomponenten, Aktienoptionen für Mitarbeiter*innen oder andere Verträge zwischen Unternehmenseigentümern und Mitarbeiter*innen, bei denen die Wertschöpfung und der Gewinn geteilt werden, sind in Vergütungsmodellen der New Economy und der Wissensarbeit üblich.
In der Erörterung des Stücklohns findet sich in Marx’ Kapital folgende Fußnote: „Selbst der apologetische Watts bemerkt: ‚Es wäre eine große Verbesserung des Stücklohnsystems, wenn alle an einem Stück Arbeit Beschäftigten Teilhaber am Vertrag wären, jeder entsprechend seinen Fähigkeiten, statt daß ein Mann daran interessiert ist, seine Kameraden für seinen eigenen Vorteil abzurackern‘.“35
Wenn wir nie wieder hören wollen, dass potentiell Beschäftigte im Bereich Architektur sagen, dass sie verstehen, warum sie so gut wie nichts bezahlt bekommen, denn sie wissen, dass das Unternehmen, für das sie arbeiten möchten, so gut wie nichts verdient, müssen wir auch Gewerkschaften und Betriebsräte ins Auge fassen. Gewerkschaften standen traditionellerweise immer schon im Dienst von kreativen Unternehmen – sie sind der moderne Inbegriff des Zunftwesens, das in der Architektur für seine Einbindung von Designer*innen/Hersteller*innen so bewundert wird, aber den Personalapparat für den Berufsstand völlig zu übersehen scheint. Diese Gewerkschaften, einst kämpferische Organisationen, deren Mitglieder zum Streik bereit waren, sind heute weniger gegen das Management gerichtet und verstehen sich eher als Gemeinschaften zur Unterstützung und Förderung. Diese alternativen Formen der Vergütung und Sicherheit, die im Herzen des Kapitalismus funktionieren, sollten nicht als ideale Lösungen für humanistische, ästhetische Produkte betrachtet werden. Aber das Unbehagen, welches wir angesichts dieser alternativen Organisationsmodelle empfinden, ist ein Hinweis auf die unentschuldbare intellektuelle Distanz zwischen architektonischer Arbeit und anderen Arbeitsstrukturen. Das Beängstigende ist nicht die mangelnde Vertrautheit mit diesen Strukturen, sondern unsere selbstgerechte Ignoranz ihnen gegenüber.
Der soziale Nutzen, den man für Architektur aus der Geschichte der Lohnarbeit ziehen kann, besteht darin, gesellschaftlich überhaupt erst erkannt zu werden. Arbeitende identifizieren sich mit Arbeitenden. Während viele der mit der Relationalen Ästhetik assoziierten Künstler*innen sich geweigert haben, ihre Werke im Guggenheim Museum in Abu Dhabi auszustellen – einem Gebäude, welches von Zwangsarbeiter*innen errichtet wurde –, bleiben die Architekt*innen unbeeindruckt. Die Appelle der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch an Architekt*innen, die in den Emiraten und China Gebäudeentwürfe entwickeln, doch auf ihre Kunden einzuwirken, da- mit diese die miserablen Baubedingungen ändern, stießen auf taube Ohren. Architekt*innen weisen zu Recht darauf hin, dass sie nicht mit am Verhandlungstisch sitzen, weigern sich aber leider, darüber nachzudenken, welche Folgen ihr mangelndes Engagement hat. Die Architektur muss ihre Aphasie ablegen und sich als eine Gemeinschaft von Arbeitenden verstehen. Nur dann hat ihr kulturelles Gütesiegel einen echten gesellschaftlichen Wert.
In dieser Phase des Übergangs im Architekturberuf, in der die Verantwortung für die Gestaltung und das finanzielle Know-how auf verschiedene Akteur*innen verteilt sind, ist die Schaffung eines neuen Modells für die Architekturpraxis völlig offen. Jetzt ist es an der Zeit, umfassend darüber nachzudenken, wie diese neue Praxis aussehen soll und wie ihre Organisation mit dem übergreifenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gefüge verknüpft werden kann. Als frisch aufgeklärte Akteur*innen in der Arbeitswelt haben Architekt*innen nun die Freiheit, ein imaginiertes Ideal in die Realität umzusetzen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die deutschsprachige Erstveröffentlichung des Textes „Work“, der 2014 in einer längeren Version in der Zeitschrift Perspecta 47: Money, S. 27–39, erschienen ist. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Perspecta, Yale School of Architecture.


Abb.1 Alexander Deineka Friedliche Baustelle, Studie für ein Wandmosaik, 1959/60, Öl auf Leinwand, 160 x 180 cm
Die Grenzen zwischen Arbeit und Kunst – oder Arbeit und Freizeit – verschwimmen in dieser Studie für ein Mosaik, das auf der Ersten Nationalen Kunstausstellung „Sowjetisches Russland“ 1960 in Moskau gezeigt werden sollte.

Abb.2 Christine Hill in der Volksboutique Small Business, Choriner Straße, Berlin, 2010, Installation
Ausgehend von ihrer Installation Volksboutique, die unter anderem 1997 auf der documenta X ausgestellt wurde, setzt sich Christine Hill – im Bild bei einer Neuauflage der Volksboutique – immer wieder mit dem Arbeitsbegriff in der Kunst auseinander.

Abb.3 Hans Hollein: Eben gelandet. Hans Hollein in seinem mobilen Büro, 1969
Hans Holleins mobiles Büro bestand aus einer pneumatischen Konstruktion, die es den Nutzer*innen ermöglicht, überall zu arbeiten. Angesichts gegenwärtiger Prozesse von Globalisierung und Digitalisierung sowie Phänomenen wie Digital Nomads und Clickworkern scheint diese künstlerische Auseinandersetzung Debatten um den Ort und die Transparenz der Arbeit vorwegzunehmen.

Abb.4 Wang Qingsong: Work! Work! Work!, 2012, C-Print, 180 x 300 cm
Die aufwändig inszenierten Arbeiten des Fotografen Wang Qingsong verstehen sich als Kommentare zu den ökonomischen Zwängen und zur unwägbaren Zukunft einer zunehmend kapitalistischen chinesischen Gesellschaft. Dieses Foto entstand im Pekinger Büro des Architekten Ole Scheeren.

1Anm. d. Red.: Peggy Deamers Beobachtungen und Analysen bezüglich der Arbeitssituation von Architekt*innen beziehen sich auf den US-Kontext.
2Vgl. Phil Bernstein: „Money, Value, Architects, Buildings“, in: Perspecta 47: Money, 2014, S. 15–21
3James Surowiecki: „The Pay Is too Damn Low“, in: The New Yorker, 12.8.2013, www.newyorker.com/magazine/2013/08/12/the-pay-is-too-damn-low (Stand: 17.11.2022)
4Régine Debatty: „Interview with Christine Hill“, in: We Make Money Not Art Blog, 4.7.2007, we-make-money-not-art.com/interview_with_20 (Stand: 17.11.2022); siehe auch Lucy Lippard, Barbara Steiner (Hg.): Inventory – The Work of Christine Hill and Volksboutique, Ostfildern 2004
5Richard Biernacki: The Fabrication of Labor – Germany and Britain 1640–1914, Berkeley 1997, S. 215
6Ebd., S. 235
7Karl Marx, Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie – Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten, Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. 1845–1846, MEW Bd. 5, Berlin 1969, S. 379
8Ebd., S. 33
9Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, MEW Bd. 26/1, Berlin 1965, S. 128
10Wladimir Majakowski: Wie man Verse macht, Zürich 1960, S. 52
11Alexander A. Bogdanow: „Puti proletarskogo tworchestwa“ (Wege der proletarischen kreativen Arbeit), in: O Proletarskoi kulture, Bd. 15/16, 1920, S. 50 ff.
12Gegründet 1966, hat diese von Künstlern geführte Organisation in London Kunst aus den Galerien herausgeholt und in die Geschäfts- und Regierungswelt eingeführt.
13Nicolas Bourriaud: „Precarious Constructions – Answers to Jacques Rancière on Art and Politics“, in: Open 17 (2009), S. 20–37, hier S. 35
14Debatty 2007 (wie Anm. 4)
15Siehe Walead Beshty: „Neo-Avantgarde and Service Industry – Notes on the Brave New World of Relational Aesthetics“, in: TEXTE ZUR KUNST 59 (September 2005), S. 150–157, www.textezurkunst.de/59/neo-avantgarde-and-service-industry
(Stand: 18.11.2022)
16Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen – Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006
1717 Ebd., S. 69
18Karl Marx: Das Kapital, Bd. I, MEW Bd. 23, Berlin 1973, S. 193
19Friedrich Schiller: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen, Tübingen 1795
20Ebd., S. 86
21Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder Praktische Aesthetik – Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Frankfurt a. M., 1860, S. XXI
22Vgl. die Darstellung von Marx’ Glauben an die Vorstellungswelt der Antike, in: George E. McCarthy: Classical Horizons – The Origins of Sociology in Ancient Greece, Albany 2003
23Edward Bellamy: Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887, Leipzig o. J. [1890], hg. v. Wolfgang Both, Berlin 2017
24Marx, Engels 1969 (wie Anm. 7), S. 33
25Frank Lloyd Wright: When Democracy Builds, Chicago 1945, zitiert nach Robert Fishman: Urban Utopias in the Twentieth Century, Cambridge 1982, S. 129
26Le Corbusier: Last Works, London 1970, S. 174
27Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1965, S. 209
28Maurizio Lazzarato: „Immaterielle Arbeit – Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus“, in: Antonio Negri, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno: Umherschweifende Produzenten – Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin 1998, S. 39–52, hier S. 39
29Michael Hardt, Antonio Negri: Empire – Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M./ New York 2002, S. 305
30Lazzarato 1998 (wie Anm. 28), S. 42
31Alexander R. Galloway: „Warcraft and Utopia“, in: ctheory.net: 1000 Days of Theory, journals.uvic.ca/index.php/ctheory/article/view/14501/5342 (Stand: 18.11.2022)
32Für eine hervorragende Darstellung der Verwirrung in der Architektur bezüglich deren Arbeitspraktiken, siehe Paolo Tombesi: „On the Cultural Separation of Design Labor“, in: Peggy Deamer, Phillip G. Bernstein (Hg.): Building (in) the Future – Recasting Labor in Architecture, New York 2010, S. 117–136
33Marx 1973 (wie Anm. 18), S. 577 f.
34Ebd., S. 577
35Ebd.

1 Editorial
Anh-Linh Ngo

4 An den Beruf
Jakob Walter, Felix Hofmann, Victor Lortie

5 Aus dem Beruf
Olaf Grawert

16 BERUF / BERUFUNG

18 Arbeit
Peggy Deamer

26 Arbeit, Produktion und der Zweck der Architektur
Douglas Spencer

34 Eine (unvollständige) Geschichte des Architekturberufs
Leonie Charlotte Wagner

38 Architektur ohne Lobby
Ruth Schagemann, Andrea Gebhard und Susanne Wartzeck im Gespräch mit Olaf Grawert und Arno Brandlhuber

42 Rechte und Ordnungen
Paul Barth

44 Büroprofil: CHYBIK+KRISTOF
Ondřej Chybík im Gespräch mit Olaf Grawert

50 Büroprofil: Ana Filipović
Ana Filipović im Gespräch mit Olaf Grawert

56 Was ist ein guter Architektenvertrag?
Carl-Stephan Schweer

60 Wir bauen selbst
Peter Grundmann im Gespräch mit Anh-Linh Ngo

66 „Schlimmer geht immer“
Marisa Cortright

70 Fotoessay: The Worker’s Project
Leonhard Clemens

76 Architektur als Klassengesellschaft
Paola De Martin

84 PROFIT / VERANTWORTUNG

86 In Krisenbereitschaft
Oana Bogdan im Gespräch mit Olaf Grawert und Felix Hofmann

96 Der Marketingwert von Architektur
Jan Knikker im Gespräch mit Olaf Grawert und Jolene Lee

102 Das Unternehmen als Projekt
Elke Doppelbauer

106 Büroprofil: l’atelier, Nomadic Architecture Studio
Pierre Escobar im Gespräch mit Olaf Grawert und Paul Barth

112 Büroprofil: Space&Matter
Marthijn Pool im Gespräch mit Olaf Grawert

118 Büroprofil: IFUB*
Bernhard Kurz, Johannes Krohne und die Studiomanagerin Verena Limmer-Mahrous im Gespräch mit Paul Barth und Olaf Grawert

124 Planen Und Bauen Im Team
Antje Boldt

128 Sehenden Auges ins Feuer
Nick Beech

138 MARKT / GESELLSCHAFT

140 Hoc Opus, Hic Labor
Maria Shéhérazade Giudici

148 Die Pyramide und das Labyrinth
Will Orr, Ricardo Ruivo

156 Public Practice
Finn Williams im Gespräch mit Jakob Walter und Paul Barth

160 Büroprofil: Assemble
Assemble im Gespräch mit Olaf Grawert

166 Büroprofil: ARGE.CO
Milena Buchwalder, Lorenz Bachmann, Laszlo Blaser, Theresa Behling und Lukas Fink im Gespräch mit Olaf Grawert

176 Gründet Betriebsräte!
Jakob Walter

178 Vertrauen in Alternativen
Gabu Heindl im Gespräch mit Jakob Walter und Sascha Kellermann

186 Redaktionsprofil: ARCH+ / s+

188 Beteiligte

191 Bildnachweise

192 Impressum

ARCH+ Team dieser Ausgabe: Nora Dünser (CvD), Felix Hofmann, Sascha Kellermann (Projektleitung), Victor Lortie, Lukas Meyer, Anh-Linh Ngo (Redaktionsleitung), Jakob Walter (Projektleitung)

s+ Gastredaktion: Arno Brandlhuber, Ludwig Engel, Olaf Grawert (Projektleitung)

Cover: Wang Qingsong: Work! Work! Work! (Detail), 2012       
 
Die durch das Heft laufenden Statistiken sind der Studie The Architectural Profession in Europe – 2022 Sector Study des Architects’ Council of Europe sowie dem Bericht zur Strukturbefragung abhängig beschäftigter Kammermitglieder der Bundesarchitektenkammer aus dem Jahr 2022 entnommen.

Die freiwilligen Gefangenen der Architekturarbeit Text: Anh-Linh Ngo Regelmäßig wird die Architekturprofession von Wellen widersprüchlicher Gefühle aufgewühlt, die zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifel schwanken. Diese Heimsuchung resultiert aus der schizophrenen Erfahrung, die Architekt*innen täglich machen: Sie erleben, wie sozial wirksam die Architektur als Medium sein kann, während ihr Berufsstand selbst scheinbar ohnmächtig den Marktkräften ausgeliefert ist. Die Fähigkeit der Architektur, sowohl materiell in das soziale Gefüge ordnend einzugreifen als auch ästhetisch-symbolisch auf das Leben einzuwirken, steht der ernüchternden Erkenntnis gegenüber, dass der Architektenberuf trotz dieser gesellschaftlichen Berufung vor allem eine Dienstleistung für jene anbietet, die sich Architektur leisten können. Architekt*innen sehen sich einem unauflösbaren Dilemma ausgesetzt: Der soziale Anspruch erhebt die Architektur zu einer gesellschaftlichen Disziplin, der sie unter den gegebenen politischen und ökonomischen Verhältnissen nur selten gerecht werden kann. Derzeit wird wieder einmal erregt über das Berufsbild diskutiert. Einige Diskussionen erinnern an Debatten aus den 1970er-Jahren, die innerhalb der Redaktion der ARCH+ heftig geführt wurden. Damals standen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüber: Die einen vertraten die Meinung, dass sich Architekt*innen als lohnabhängige Arbeiter*innen der Arbeiterbewegung anzuschließen hätten. Sie müssten, marxistisch gesprochen, ein Klassenbewusstsein entwickeln und sich gewerkschaftlich organisieren. Gewerkschaften seien als politische „Kampforganisationen“ ein notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaftsform.1 Die anderen gaben stattdessen der basisdemokratischen Selbstorganisation im politischen Kampf den Vorzug. Sie orientierten sich dabei an sozialen Bewegungen, die jenseits traditioneller Massenorganisationen nach anderen Formen der Kooperation suchten, wie etwa in der genossenschaftlichen Selbsthilfe. Damit zielte die zweite Fraktion auf „die unmittelbar politische Dimension, welche bezogen ist auf die Subjekte als Subjekte und nicht als Träger von Charaktermasken, sei es die des Staatsbürgers oder die des Verkäufers der Ware Arbeitskraft“.2 Der damit implizierte Vorwurf an die orthodoxe Linke lautete, dass die einseitige gewerkschaftliche Orientierung nur der Verteidigung ökonomischer Interessen diene und man damit „den ‚politischen Kampf‘ dem ‚ökonomischen Kampf‘ zeitlich nachordnet“.3 Fast 50 Jahre nach diesen heftigen Auseinandersetzungen, die dazu führten, dass 1977 die gewerkschaftsorientierte Fraktion die Redaktion verließ,4 haben wir es mit einer Situation zu tun, in der vor allem das Subjekt und dessen wirtschaftliches Fortkommen im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung stehen. Die fortschreitende Individualisierung und Liberalisierung der letzten fünf Jahrzehnte hat dazu geführt, dass sich das Subjekt heute längst nicht mehr als Angehöriger festgefügter Gesellschaftsformationen definiert. Die Sorge, wir liefen Gefahr, „Träger von Charaktermasken“ zu sein, hat sich erübrigt. Stattdessen tragen wir alle die Einheitsmaske des Marktes, der alle Lebensbereiche durchdrungen hat. Vor dem Hintergrund der vollständigen Ökonomisierung des Lebens werden Architekt*innen in bestimmten Diskursen heute erneut aufgerufen, ein Klassenbewusstsein zu entwickeln, sich als Arbeiter*innen gewerkschaftlich zu organisieren und solidarisch mit anderen Arbeiter*innen zu sein. Diese Argumente klingen vertraut, allerdings sind inzwischen weitere hinzugekommen, die mit dem Ressourcenverbrauch, den extraktiven Lieferketten und prekären Arbeitsbedingungen die destruktive Seite der Baubranche problematisieren. Das ökologische und soziale Bewusstsein stellt einen diskursiven Fortschritt dar, der über die ökonomische Besserstellung des eigenen Berufsstands hinausweist. Trotz dieser thematischen Erweiterung wird der Kampf auch heute noch auf dem ökonomischen Feld ausgetragen: „Denn eine politische Bewegung in einer Gesellschaft, in der die Beziehungen der Individuen zueinander sich nur über den Austausch von Waren herstellen – also durch ökonomische Formbestimmungen vermittelt sind –, kann eben gerade nicht von diesen ökonomischen Formbestimmungen abstrahieren.“5 Die Warenförmigkeit der Gesellschaft wird hier kurzerhand als logisch notwendig vorausgesetzt. Zugleich schoben die Vertreter*innen der damaligen organisierten Linken eine „klassenanalytische Bestimmung“ von sozialen Bewegungen nach, aus der die Geringschätzung gegenüber deren Suche nach alternativen Ökonomien sprach: „[…] sie als Kleinproduzenten, befangen im Prozeß der einfachen Warenzirkulation zu erkennen, würde ja erst erklären können, warum sie genau dazu neigen, einerseits die Produkte ihrer Arbeit als den Angelpunkt der ‚politischen Identitätsfindung‘ zu begreifen und andererseits in besonderer Weise dem Schein von Freiheit und Gleichheit anheimzufallen, worin sie die Durchsetzung ihrer ökonomischen Interessen gut aufgehoben wähnen“.6 Abgesehen vom marxistisch geschulten Jargon der damaligen Zeit tauchen diese und andere Argumente in Versatzstücken in den heutigen Debatten wieder auf, wenn auch nicht auf demselben theoretischen Niveau vorgetragen. Das liegt nicht nur an der fehlenden theoretischen Fundierung des Diskurses von heute, sondern ist auch der Erregungslogik der Sozialen Medien geschuldet, die im Meinungskampf eingesetzt werden. Hier ein Shitstorm über die schlechte Bezahlung von Architekt*innen, dort eine Entrüstung über lange Überstunden in Entwurfsstudios. Auffällig ist, dass die Forderung nach mehr Teilhabe am ökonomischen Kuchen und nach gewerkschaftlicher Organisierung im Architekturbereich am lautesten im angelsächsischen Raum zu hören ist–in jenen Gesellschaften also, die am stärksten durchökonomisiert wurden, insbesondere im akademischen Bereich. Auch die Angriffe auf das bürgerliche Selbstverständnis des Berufsstands, auf den „Schein von Freiheit und Gleichheit“, werden heute in ähnlicher Weise wiederholt. Die Kreativität als Kern des Architekturentwurfs wird dabei gänzlich infrage gestellt, so als würde diese völlig losgelöst von den gesellschaftlichen Bedingungen existieren.7 Und wieder klafft ein Spalt zwischen solchen theoretischen Diskursen und den kleinteiligen Versuchen praktizierender Architekt*innen, ihr Büro anders zu organisieren, alternative Arbeits- und Wirtschaftsmodelle umzusetzen, pragmatisch nach Wegen aus der totalen Abhängigkeit vom Markt zu finden und ihrer sozialen Verantwortung so gut wie möglich nachzukommen. Diese Spaltung wird in diesem Heft ein Stück weit dokumentiert. Vielleicht spiegelt sich darin auch die Spaltung der Erfahrungswelten wider: auf der einen Seite Architekt*innen und Theoretiker*innen, die in finanzialisierten Systemen arbeiten, die den Profit zur Maxime erhoben haben; auf der anderen Seite die Vielzahl kleiner Büros, die in Europa immer noch das Standardmodell des Berufsstandes darstellen. Letztere begreifen die Auseinandersetzung mit den Bauherr*innen als eine gesellschaftliche Aufgabe. Denn hier, in der direkten Konfrontation mit den Bauaufgaben, beginnt die alltägliche politische Arbeit: in der Überzeugungsarbeit, in der Aushandlung von Prioritäten, Werten, Haltungen. Wenn man diesen Kern der Entwurfsarbeit aufgibt, gibt man die Architektur auf. Was an der gegenwärtigen Debatte am meisten irritiert, ist, dass sie bar jedes utopischen Potentials daherkommt. Es wird kaum über die Arbeit in ihrer gesellschaftlichen Funktion diskutiert. Ganz anders in den 1960er- und 70er-Jahren, als man den utopischen Sozialismus eines Charles Fourier wiederentdeckte, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Arbeit angesichts der beginnenden Industrialisierung in der Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen grundlegend neu dachte und im Konzept des Phalanstère räumlich zum Ausdruck brachte.8 Fourier suchte die Arbeit in der individuellen Triebstruktur des Menschen – in dessen Leidenschaften, Eigenliebe und Gemeinschaftssinn – zu verankern. Die Menschen würden nicht mehr aus Mangel oder um des Gewinns willen arbeiten, sondern um sich zu vervollkommnen. Dies setzte auch eine neue Idee der genossenschaftlichen Grundversorgung voraus, die bereits in die Richtung eines Grundeinkommens wies. Von solcher Radikalität sind die heutigen Debatten weit entfernt. Stattdessen scheint man die Alternativlosigkeit des kapitalistischen Systems internalisiert zu haben. Die menschliche Arbeit, die unabhängig von ihrer Sinnhaftigkeit als Ware meistbietend verkauft wird, wird nicht grundlegend infrage gestellt. Stattdessen wird in bestimmten Kreisen ein Argument gebetsmühlenartig wiederholt: Architekt*innen könnten nur solidarisch mit anderen Arbeiter*innen sein, wenn sie sich selbst als Architekturarbeiter*innen begriffen. Es heißt, die Arbeit der Architektur müsse entmystifiziert werden. Sie unterscheide sich nicht von irgendeiner anderen Arbeit. Entwurf, Projekt, Imagination und Kreativität seien Überbleibsel des bürgerlichen Bewusstseins,9 Kernelemente einer architektonischen Ideologie, die vom eigentlichen politischen Kampf ablenkten. Der Architekturarbeit soll auf diese Weise jeglicher Dünkel, man kann auch sagen, jeder Idealismus ausgetrieben werden. Was sich vordergründig progressiv anhört, entpuppt sich bei näherer Betrachtung jedoch als eine Regression. Schließlich waren wir in der Auseinandersetzung mit dem Konzept der Arbeit schon mal weiter. Statt das schöpferische Potential der Architekturarbeit, das trotz aller problematischen Seiten des Berufs in dessen Fähigkeit besteht, neue Welten zu entwerfen, für alle zu erschließen, soll sie auf eine normale Form der Lohnarbeit zurückgestutzt werden. Dadurch werden nicht nur die Möglichkeiten der Architektur negiert, sondern es wird auch die gesellschaftliche Funktion der Arbeit preisgegeben. Architekt*innen machen sich damit zu freiwilligen Gefangenen der Architekturarbeit, wie es das Foto des chinesischen Künstlers Wang Qingsong auf den Punkt bringt, der das Büro Ole Scheeren mit Krankenhauskleidung und dem sprechenden Titel Work! Work! Work! in Szene setzte (siehe Covermotiv). Um einen wirklichen Fortschritt für die Architekturarbeit zu erreichen, muss stattdessen zunächst die Arbeit selbst revolutioniert werden, und das heißt, sie aus ihrer Warenförmigkeit zu befreien. Es geht dabei eben nicht darum, die Arbeitskraft besser zu verkaufen oder sie im Sinne der Work-Life-Balance vom „eigentlichen“ Leben abzukoppeln – das wäre aus emanzipatorischer Perspektive ein ziemlich deprimierender Fortschritt. An den gesellschaftlichen Bedingungen der Arbeit würde sich schließlich nichts ändern. Die eigentliche Entmystifizierung der Arbeit besteht darin, sie als eine „fiktive Ware“ zu entlarven, wie dies Karl Polanyi in seinem wegweisenden Buch The Great Transformation getan hat. Die Arbeit zu entmystifizieren hieße dann gerade nicht, sich von ihr emotional zu distanzieren, ihr kreatives Potential zu negieren und das Leben vor dem Zugriff der Arbeit zu schützen, sondern sie im Gegenteil wieder im Lebenszusammenhang zu verorten: „Arbeit ist bloß eine andere Bezeichnung für eine menschliche Tätigkeit, die zum Leben an sich gehört, das seinerseits nicht zum Zwecke des Verkaufs, sondern zu gänzlich anderen Zwecken hervorgebracht wird; auch kann diese Tätigkeit nicht vom restlichen Leben abgetrennt, aufbewahrt oder flüssig gemacht werden.“10 Im Umkehrschluss bedeutet es: So lange wir die „Warenfiktion“ der Arbeit aufrechterhalten, so lange wir also die Arbeit als eine fiktive Ware begreifen, so lange werden wir den Menschen und sein Leben selbst als eine Ware behandeln. Mit dieser Einsicht hat Polanyi das Grundproblem der heutigen Gesellschaft benannt: „Im Zuge dieser Entwicklung war die menschliche Gesellschaft zu einem Beiwerk des Wirtschaftssystems herabgesunken.“11
 Angesichts dieses Befundes besteht die eigentliche Revolution darin, das Wirtschaftssystem wieder in der Gesellschaft zu verankern und damit auch die gesellschaftliche Bedeutung der Arbeit ins Zentrum zu rücken. Nur so lässt sich die Logik der Ausbeutung von Mensch und Natur überwinden. Vom Gelingen dieser Revolution hängt nicht zuletzt das ökologische Überleben der Menschheit ab. Wenn also die junge Generation, die ihren Glauben an die revolutionäre Kraft der Architektur längst verloren hat, heute fragt: „Wofür Überstunden machen?“, lautet eine mögliche Antwort: Für eine Politisierung der Architektur in der Praxis, wie es die Disziplin auch in den 1970er-Jahren mit dem Anschluss an die sozialen Bewegungen versuchte. Ein solches gesellschaftliches Engagement für die unterschiedlichsten sozialen, dekolonialen, ökologischen und anderen Agenden von heute wird jedoch nie so gut bezahlt sein wie die Arbeit fürs Kapital. Diese Ungleichverteilung von Ressourcen liegt in der Kapitalisierung unserer Welt begründet. Denn die Rendite von Kapital, das hat der Ökonom Thomas Piketty in seiner Studie Das Kapital im 21. Jahrhundert gezeigt, reproduziert sich immer schneller als Arbeit jemals Ertrag erwirtschaften kann.12 Ein möglicher Ausweg daraus liegt wie oben beschrieben in der Revolution der Arbeit, nicht in der Konkurrenz zum Kapital. Dies gilt auch für die Architekturarbeit. Dafür lohnt es sich, gemeinnützige Arbeit zu leisten, sich nicht-kommerziell zu engagieren, auch mal Überstunden zu machen. Denn soweit wir die Menschheitsgeschichte überblicken können, hat es noch nie eine Revolution zum Tariflohn gegeben.


Dank
Dieses Heft wurde von der jungen Generation der ARCH+ Redaktion initiiert und umgesetzt, allen voran Jakob Walter sowie Felix Hofmann, Victor Lortie und Lukas Meyer. Die Beteiligten sind frischgebackene Absolventen oder teilweise noch Studierende und auf der Suche nach einer eigenen Perspektive für ihren Beruf. Für die kritische und ernsthafte Auseinandersetzung danke ich ihnen sehr herzlich. Großer Dank gebührt auch Olaf Grawert als Gastredakteur, der das Thema aus der eigenen Praxis und der Lehre an der ETH Zürich heraus fundiert mitgestaltete. Bei der Umsetzung des Heftes hatten Sascha Kellermann und Nora Dünser aus dem Team der ARCH+ großen Anteil. Ihnen und allen, die seitens der Gastredaktion bei station+ an der ETH Zürich mitgewirkt haben, gilt mein Dank. An den Beruf Text: Jakob Walter, Felix Hofmann, Victor Lortie Diese Ausgabe ist dem Beruf gewidmet, den wir als angehende Architekten vor allem über Praktika und kurzfristige Arbeitsverhältnisse kennengelernt haben. Zur redaktionellen Arbeit bei ARCH+ sind wir nicht ohne eine gewisse Desillusionierung gekommen: Die Diskrepanz zwischen dem ganzheitlichen Anspruch, der im Studium gefragt war, und den materiellen Zwängen, die sich aus der Realität der Praxis ergeben, schien sich für uns nicht länger auflösen zu lassen. Als Architekt*in zu arbeiten, kommt einem unausgesprochenen Pakt gleich. Die vergleichsweise geringe materielle Wertschätzung eines akademischen Abschlusses wird in Kauf genommen, um an kreativen und sinnstiftenden Aufgaben – bestenfalls im Dienste der Allgemeinheit – zu arbeiten. Unter angehenden Architekt*innen wächst seit einigen Jahren allerdings das Unbehagen darüber, dass diese stillschweigende Vereinbarung aus dem Gleichgewicht geraten ist. Einerseits sehen immer mehr junge Menschen einer wachsenden Prekarität ins Auge. Zwar steigen die Löhne in der Architektur, doch die Lebenshaltungskosten, allen voran die Mieten, steigen schneller. Andererseits haben sich in jüngerer Zeit auch die Ansprüche der Architekt*innen an ihre Arbeit geändert. Aus einer Bewusstwerdung der sozialen, wirtschaftlichen und vor allem ökologischen Folgen der eigenen Praxis heraus sowie einem Zweifel an der Architektur als Lösungsgeberin politisiert sich eine jüngere Generation von Architekt*innen zusehends. Vielerorts kommt die Frage auf: Wofür noch Überstunden leisten? Im Dezember 2021 spitzte sich die Debatte um die Arbeitsverhältnisse in der Architektur in den sozialen Netzwerken zu. Anlass war der gescheiterte Versuch der gewerkschaftlichen Organisierung der Angestellten bei SHoP Architects in New York. Als Subjekte der Bewegung waren die „Architectural workers“ ausgerufen: Angestellte Architekt*innen sollten sich (abermals) als Teil der Arbeiterklasse verstehen. Diese von uns aufmerksam verfolgte Diskussion steht beispielhaft für eine Lösungskategorie, die sich auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Architektur fokussiert. Uns war es jedoch auch ein Anliegen, den architektonischen Pakt von der anderen Seite her zu betrachten und Ansätze zu finden, damit die Profession nicht in einen drögen Dienst nach Vorschrift zurückfällt, selbst wenn er heute besser bezahlt wird. Während der Konzeptions- und Produktionsphase dieser Ausgabe sind wir nicht umhingekommen, unsere eigene Befangenheit miteinzubeziehen, was die Arbeit persönlicher und emotionaler machte als üblich. Schließlich gilt für ARCH+ nicht weniger die nüchterne Beobachtung, dass die Produktion von Architektur(diskurs) einer unternehmerischen Form unterliegt. Die hier aufgeworfenen Fragen richten sich daher auch an uns selbst: In welchen Architekturunternehmen wollen wir arbeiten? Was sind wir zu welchen Bedingungen bereit zu leisten? Ergebnis des Prozesses ist ein Nachdenken unter neuen Vorzeichen: Welche Parameter bestimmen die Qualität von Architektur, wenn wir sie nicht nach ihrer Ästhetik und Programmatik, sondern nach der ihr zugrundeliegenden Organisationsform bewerten wollen? Es gibt viele Wege, einen neuen Pakt zu schmieden, in dem sich die Überstunden nicht nur für Architekt*innen wieder lohnen, sondern auch für die Welt, die wir mit unserer Arbeit zu verbessern versuchen. Diese Ausgabe stellt damit auch den Versuch einer Versöhnung mit dem selbstgewählten Berufsweg dar. Die Diskursproduktion sollte keine Exitstrategie sein, um sich den Aufgaben der Architektur nicht stellen zu müssen. Im Gegenteil: Dieses Heft ist in dem aufrichtigen Wunsch entstanden, den Diskurs wieder auf die eigene Disziplin und die eigene Handlungsmacht zurückzuführen. 1Klaus Brake, Helga Fassbinder, Renate Petzinger: „Basisdemokratie versus gewerkschaftliche Orientierung“, in: ARCH+ 28: Glückliche Neue Heimat (Dezember 1975),
S. 54–63, hier S. 61 2Wolfgang Ehrlinger, Adalbert Evers, Christoph Feldtkeller, Mark Fester, Sabine Kraft, Nikolaus Kuhnert, Jörg Pampe: „Tendenzwende?“, in: ARCH+ 27 (September 1975),
S. 1–11, hier S. 6 3Ebd. 4Siehe „Austrittserklärung der Redaktionsmitglieder Klaus Brake, Helga Fassbinder und Renate Petzinger aus der Redaktion ARCH+“, Sonderdruck 1977 5Brake, Fassbinder, Petzinger (wie Anm. 1), S. 60 6Ebd. S. 63 7Vgl. Nick Beech: „Sehenden Auges ins Feuer: Das (Selbst-)Bild der Architektur“, in dieser Ausgabe, S. 128–137 8Charles Fourier: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen
[1808], hg. v. Theodor W. Adorno, übers. v. Gertrud von Holzhausen, Frankfurt a. M. 1966 9Vgl. Nick Beech (wie Anm. 7) 10Karl Polanyi: The Great Transformation – Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen [1944], übers. v. Heinrich Jelinek,
Frankfurt a. M. 1978, S. 107 11Ebd., S. 111 12Vgl. Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert, übers. v. Ilse Utz und Stefan Lorenzer, München 2014

Gründet Betriebsräte! Plädoyer für die Gründung von Betriebsräten in Deutschland Text: Jakob Walter Ein besonderer Dank geht an Franziska Wollscheid, Speaksperson von MVRDV Berlin, die für diesen Artikel einen beispielhaften Einblick gab, und an Altun Jenner, Fachreferentin für die Themenbereiche Betriebsverfassungs­recht / Wirtschaftsausschuss des DGB Bildungswerk Hamburg. In Deutschland sind Betriebsräte seit ihrer gesetzlichen Kodifizierung im Betriebsver­fassungsgesetz 1952 ein fester Bestandteil im arbeitsrechtlichen Verhältnis zwischen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen. Heute jedoch sinkt die Zahl der Unternehmen mit Betriebsrat, auch wenn der Anteil der von Betriebsräten vertretenen Arbeitnehmer*innen immer noch erheblich ist – in Deutschland sind es etwa 38 Prozent.1 Aber nach wie vor stellt der Betriebsrat ein sinnvolles Instrument dar, um Arbeitsbedingungen auch in Zeiten von Digitalisierung, wirtschaftlicher Ungewissheit und Corona­Pandemie auszuhandeln. Als gesetzlich legitimierte Vertretung bedarf er für seine Gründung keiner Zustimmung seitens der Arbeit­geber*innen. Er ist dabei nicht als Widersacher der Arbeitgeber*innen zu verstehen, sondern als Werkzeug der Mitarbeiter*innen: Angestellte mit Arbeitnehmer*innenvertretung sind so circa 12 Prozent produktiver und die Unternehmen erwirtschaften 14 Prozent höhere Gewinne.2 Statistisch gesehen erhalten zudem Angestellte in Unternehmen mit Betriebsrat eine bessere Bezahlung3 und arbeiten drei Stunden weniger in der Woche als Angestellte in Unternehmen ohne Arbeitnehmer*innenvertretung.4 Darüber hinaus ist ein Betriebsrat gesetzlich laut § 80 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) dazu verpflichtet, sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter einzusetzen, ein Gender­-Pay­-Gap muss problematisiert werden. Betriebsräte sind in Deutschland weit ver­breitet – nur in der Baubranche nicht. Zuletzt fiel hier der Anteil der Unternehmen mit Betriebsräten auf 2 Prozent und liegt damit auf dem letzten Platz im deutschlandweiten Branchenvergleich.5 Noch dramatischer sieht es in deutschen Architekturbüros aus. Der Anteil ist hier verschwindend gering, obwohl es bereits ab fünf festen Mitarbeiter*innen möglich wäre, einen Betriebsrat zu gründen. Dabei hätten Architekt*innen allen Grund dazu. Denn laut Umfrage schneidet die Architekturbranche beim Thema Work­-Life-­Balance und Familienfreundlichkeit vergleichsweise schlecht ab.6 Architekt*innen in Planungsbüros machen 5,2 Überstunden pro Woche, 32 Prozent der Architekt*innen in den Planungsbüros gaben an, weder finanziell noch durch Freizeitaus­gleich kompensiert zu werden.7 Das Gehalt liegt im Vergleich zu den meisten anderen Branchen unter dem Durchschnitt. Im Mittel verdienen Personen mit einem Hochschulabschluss in Deutsch­land durchschnittlich 65.853 Euro, während Architekt*innen im Schnitt laut derselben Studie jährlich nur 59.083 Euro verdienen.8 Während in Deutschland Betriebsräte eine freiwillige Option sind, muss jedes Unternehmen in den Niederlanden (einschließlich der Archi­tektenbüros) ab einer Größe von 50 Mitarbeiter­*innen einen Betriebsrat haben. So beispiels­weise auch MVRDV in Rotterdam, die derzeit mehr als 280 Mitarbeiter*innen beschäftigen und deren deutsche Dependance eines der wenigen Archi­tekturbüros in Deutschland ist, das über einen Betriebsrat verfügt, auch wenn der Berliner Betriebsrat kein rechtskräftiges Organ wie das 82 % der europäischen Architekt*innen arbeiten im Jahr 2022 in Vollzeit, das sind 7 % mehr als 2020. Die Zahl in Teilzeit arbeitender Architekt*innen ist historisch niedrig mit 12 % – ebenso die Zahl arbeitsloser Architekt*innen mit 2 %. (DE: Vollzeit 81 %, Teilzeit 18 %, arbeitslos 2 %) Der Anteil kleiner Büros mit 1–2 Mitarbeiter*innen wuchs in Europa, der Anteil mittelgroßer Architekturbüros mit 31–50 Personen schrumpfte im Vergleich zu den Vorjahren, der Anteil großer Büros über 50 Personen stieg an. Laut einer Umfrage der Bundesarchitektenkammer sind 72 % aller selbstständigen Architekt*innen in Deutschland männlich und 52 % aller angestellten Architekt*innnen weiblich. Rotterdamer Pendant ist. Dazu müssten die Mit­arbeiter*innen bei MVRDV Berlin selbst einen Betriebsrat nach deutschem Recht gründen. Der Rotterdamer Betriebsrat steht aber den Mit­arbeiter*innen der Dependancen in Shanghai, Paris, Berlin und New York zur Verfügung. Dazu wird in jeder Dependance jährlich eine sogenann­te Speaksperson gewählt, die sich zweimal im Monat mit dem Rotterdamer Betriebsrat zum Aus­ tausch trifft. So können die Mitarbeiter*innen im Ausland, vermittelt über die Speaksperson, auch Einfluss auf die Geschäftsführung nehmen. Dazu trifft sich jeder Betriebsratableger einmal pro Woche zu internen Abstimmungen und mindes­tens viermal im Jahr mit der Geschäftsführung und Personalabteilung, um Anliegen der Beleg­schaft zu vermitteln. So wurde beispielsweise in den letzten Jahren ein Inflationsausgleich durchgesetzt, eine Erhöhung des „Overtime­-Dinner­-Zuschusses“ beschlossen sowie eine neue Homeoffice­-Regelung während der Corona­-Pandemie ausgehandelt. Ein Betriebsrat kann außerdem dabei helfen, Tarifverträge unter Architekt*innen populärer zu machen. Zwar gibt es bereits seit den 1980er­-Jahren für die im Arbeitgeberverband selbständi­ger Ingenieure und Architekten (ASIA) vertre­tenen Unternehmen einen Tarifvertrag, der immer wieder mit ver.di ausgehandelt wird. Die An­wendung dieses Tarifvertrags erfolgt allerdings auf freiwilliger Basis und erfordert die Ein­sicht in die Notwendigkeit seitens der Arbeit­geber*innen. Betriebsräte könnten ihre Arbeit­geber*innen über die Möglichkeiten eines Tarif­vertrags informieren. Dadurch, dass der Betriebsrat ein anonymi­sierendes Sprachrohr darstellt, werden die einzelnen Beschäftigten in den Auseinander­setzungen mit ihren Vorgesetzten aus der Schussbahn genommen und gleichzeitig erhalten ihre Anliegen mehr Nachdruck. Das kommt vor allem denjenigen Gruppen zugute, die unter struktureller Diskriminierung leiden, wie Frauen oder junge Mitarbeiter*innen. Ein Betriebsrat könnte hilfreich sein bei der Durchsetzung von Entlastung und Umverteilung von Arbeit oder einer besseren Bezahlung von Überstunden sowie Arbeitnehmer*innen­-freundlichen Homeoffice­- und Urlaubsregelungen oder Weiterbildungsmaß­ nahmen. Es gibt also genügend Gründe, um einen Betriebsrat als Werkzeug für konstruktive Arbeitsverhältnisse in Architekturbüros ernst zu nehmen. Dazu braucht es keine Gesetzes­änderung oder Lobbyarbeit, sondern nur drei Mitarbeiter*innen, die den Versuch wagen. Anleitung zur Gründung eines Betriebsrats im vereinfachten Wahlverfahren laut § 14a BetrVG für Architekturbüros mit 5 bis 100 Angestellten Zur Gründung eines Betriebsrats müssen sich drei angestellte Mitarbeiter*innen eines Architektur­büros zusammentun und die gesamte Belegschaft zu einer Versammlung einladen. Es müssen nicht alle Angestellten teilnehmen, aber je mehr, desto besser. Die Versammlung benennt bis zu drei Mit­arbeiter*innen zum Wahlvorstand. Dessen Aufgabe ist es, Vorschläge für Betriebsratskandidat­*innen entgegenzunehmen. Diese müssen volljährig und seit mindestens sechs Monaten im Unternehmen angestellt sein. Bei Unternehmen mit mehr als 20 Festangestellten müssen Kandidat*innen zudem mindestens zwei unterstützende Unterschriften nachweisen, wobei auch die eigene zählt. Der Wahlvorstand hat nach seiner Ernennung eine Woche Zeit, die Wahlversammlung abzuhalten, in der über die eingegangenen Kandidaturen ab­gestimmt werden kann. Die Abstimmung erfolgt nicht­-öffentlich und anonym. Die Wahlversammlung muss protokolliert werden. Der Wahlvorstand gibt den neu gewählten Betriebsrat bekannt und informiert anschließend alle Arbeitgeber*innen und Arbeit­nehmer*innen schriftlich über den Wahlausgang. Der Betriebsrat wie auch der Wahlvorstand (6 Monate nach Ausübung der Funktion) und die Kandidat*innen (6 Monate nach Aufstellung zur Wahl) sind laut Kündigungsschutzgesetz (KSchG) vor normaler Kündigung geschützt. Zudem sind sie für die Arbeit im Betriebsrat von anderen Tätigkeiten zu befreien und bei Bedarf auf Kosten der Arbeit­geber*innen zu schulen. Gegebenenfalls muss auch ein eigenständiges Büro für den Betriebsrat eingerichtet werden. Der Betriebsrat muss bei allen Entscheidungen, die die Angestellten betreffen, mitwirken. Er hat bei Kündigungen, Neuanstellungen oder Über­stundenregelungen ein Mitspracherecht. Der Ausschluss des Betriebsrates von diesen Ent­scheidungen ist strafbar. Die Wahl des Betriebsrates findet alle vier Jahre statt. Betriebsverfassungsgesetz § 9 Zahl der Betriebsratsmitglieder Der Betriebsrat besteht in Betrieben mit in der Regel •5 bis 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern aus einer Person, •21 bis 50 wahlberechtigten Arbeitnehmern aus 3 Mitgliedern, •51 wahlberechtigten Arbeitnehmern bis 100 Arbeitnehmern aus 5 Mitgliedern. 1Peter Ellguth, Susanne Kohaut: „Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung – Aktuelle Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2021“, in: WSI-Mitteilungen 75/4 (März 2022), S. 333 2Steffen Mueller, Georg Neuschaeffer: „Worker Participation in Decisionmaking, Worker Sorting, and Firm Performance“, in: Industrial Relations – A Journal of Economy and Society 60/4 (Oktober 2021), doi.org/10.1111/irel.12288 (Stand: 10.1.2023) 3Hans-Böckler-Stiftung: „Höhere Löhne in Unternehmen mit Betriebsrat“, www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-hoehere-loehne-in-unternehmen-mit-betriebsrat-10639.htm (Stand: 10.1.2023) 4Hans-Böckler-Stiftung: „Kürzere Arbeitszeiten mit Betriebsrat“, www.boeckler. de/de/boeckler-impuls-kuerzere-arbeitszeiten-mit-betriebsrat-7033.htm (Stand: 10.1.2023) 5Ellguth, Kohaut 2022 (wie Anm. 1), S. 334 6Bundesarchitektenkammer (Hg.): Ergebnisse der Befragung der abhängig beschäftigten Kammermitglieder (Berichtjahr 2021), S. 60 7Ebd., S. 120 8StepStone GmbH (Hg.): Gehaltsreport 2021, Düsseldorf 2021, S. 13

Erscheinungsdatum
Zusatzinfo Ca. 90 farbige, 20 s/w Abbildungen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 235 x 297 mm
Gewicht 850 g
Einbandart geklebt
Themenwelt Technik Architektur
Schlagworte Arbeit • Architekturarbeit • Beruf • Betriebsrat • Dienstleistung • ETH Zürich station.plus • Klassengesellschaft • Ökonomie • Wertschöpfung • Work-Life-Balance
ISBN-10 3-931435-74-1 / 3931435741
ISBN-13 978-3-931435-74-5 / 9783931435745
Zustand Neuware
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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