Stuttgart
Arch+ (Verlag)
978-3-931435-71-4 (ISBN)
IBA’ 27 StadtRegion Stuttgart
Vor diesem Hintergrund haben fünf lokale Akteure – die Stadt, der Verband Region Stuttgart, die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart, die Universität und die Architektenkammer Baden-Württemberg – das Heft des Handelns in die Hand genommen und 2017 die Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27) ins Leben gerufen. Diese IBA, die mit zehnjähriger Laufzeit eine Region in ihrer vollen industrialisierten Blüte in den Fokus nimmt, kann als Antithese zur IBA Emscher Park betrachtet werden, die zwischen 1989 und 1999 devn Strukturwandel des nördlichen Ruhrgebietes in Richtung postindustrieller Landschaft zu bewältigen versuchte. Eine Zwischenbilanz nach fünfjähriger Laufzeit der IBA’27 zieht die vorliegende ARCH+ Ausgabe. Sie wurde in Kooperation mit dem Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart erarbeitet. Wie gestaltet sich in einem der wirtschaftlich stärksten Zentren Europas und 100 Jahre nach dem Aufbruch der Architekturmoderne am Stuttgarter Weissenhof die Zukunft des Bauens und Zusammenlebens? IBA-Intendant Andreas Hofer sieht die Antwort im Programm einer „Produktiven Stadtregion“6. Die IBA-Webseite erläutert hierzu: „Digitale Transformation, roboterisierte Fabrikation und neue Mobilitätskonzepte verändern Produkte und Produktionsweisen in der Region Stuttgart. Dies ermöglicht neue vertikal verdichtete Fabrikkonzepte und ihre Nähe zu lärmempfindlichen Nutzungen, wie zum Beispiel dem Wohnen oder der Bildung. Für viele Räume in der Region eröffnet sich damit die Chance, sich neu zu erfinden. Die Produktion kehrt in die Stadt zurück, und Industrieareale werden zu Stadtbausteinen. Kleinteilige urbane Landwirtschaft versorgt die Stadt mit hochwertigen Lebensmitteln, moderiert das Klima und erhöht die Biodiversität. Mit dieser neuen produktiven Mischung können heute gesichtslose Gewerbe und reine Wohngebiete zu gemischten, lebendigen und kreativen Stadtquartieren werden. Die Rückkehr der Produktion geht aber weit über die Nutzungsmischung hinaus. Sie findet nicht nur kleinteilig in Erdgeschossen und Hinterhöfen statt, sondern nimmt die Fabrik als gleichberechtigten Stadtbaustein.“7
Das Programm der „Produktiven Stadtregion“ erfordert auf (architektur-)theoretischer Ebene eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Begriffe der Produktion, der Produktivität und der Arbeit, zumal auch die Corona-Pandemie auf dem Feld der Architektur, der Stadtplanung und der Arbeitsprozesse massiv Folgen zeitigt – nicht zuletzt in der Stadtregion Stuttgart. Auch dort wird wohl nach der Pandemie die jahrzehntelang typische Fünf-Tage-Bürowoche für einige Arbeitnehmer*innen obsolet sein. Wie im Juni 2021 die Stuttgarter Nachrichten berichteten, haben etliche Unternehmen ihren Mitarbeiter*innen flexiblere Arbeitsmodelle für die Zukunft zugesichert.8 Vor allem IT- Unternehmen gehen noch weiter und wollen das Homeoffice dauerhaft als neue Normalität etablieren. Cawa Younosi, der als Deutschland-Personalchef bei Europas größtem Softwarekonzern SAP für rund 25.000 Beschäftigte zuständig ist, sagt: „Bei den meisten SAP-Mitarbeitern spielt es keine Rolle, von wo aus sie arbeiten. Wenn es die Tätigkeit nicht zwingend verlangt, an einem bestimmten Ort präsent zu sein, haben die Mitarbeiter bei der Wahl ihres Standorts alle Freiheiten.“9 Besonders radikal positioniert sich in diesem Zusammenhang das US-amerikanische IT-Unternehmen Hewlett Packard, dessen deutscher Ableger in Böblingen rund 2.000 Mitarbeiter*innen beschäftigt: Es erklärte das Homeoffice generell zum neuen Standard-Arbeitsort für die meisten Mitarbeiter*innen und erlaubt künftig möglichst immer Homeoffice. Im Zuge dieses Wandels sollen die Büros zu Orten „der Begegnungen und des Austauschs“ umgestaltet werden.10 Das Unternehmen erklärte: „Man geht dort also vor allem hin, um an Besprechungen, Team- Meetings, Workshops, Trainings oder Feiern mit Kollegen, Kunden und Partnern teilzunehmen.“11 Man wisse aus Mitarbeiterumfragen, dass ortsunabhängige Arbeit von einer großen Mehrheit nicht nur sehr geschätzt werde, sondern obendrein zu einer höheren Produktivität führe.12 Selbst in der in puncto Präsenzarbeit eher traditionell eingestellten Automobilbranche hat sich durch Corona einiges bewegt. So können beispielsweise bei Porsche die Mitarbeiter*innen künftig an bis zu zwölf Tagen im Monat mobil arbeiten, wenn sie nicht in der Produktion arbeiten.13 Vor der Pandemie waren zwei Homeoffice-Tage in der Woche erlaubt. Die Corona-Pandemie – soviel ist schon jetzt deutlich geworden – wird starke Auswirkungen auf gängige Vorstellungen vom Zusammenspiel von Wohnen und Arbeiten haben. Die vorliegende ARCH+ geht im Sinne eines „(Post-)Corona Issue“ diesem Wandel nach.
Zum Aufbau des Heftes
Damit ist der Fluchtpunkt dieses Heftes bereits angesprochen. Um in umgekehrter Reihenfolge mit dem Schlusskapitel zu beginnen, das sich der Zukunft der Arbeit im Kontext einer (Post-)Covid-City widmet: In drei so genannten Transformation Talks geht es auf drei unterschiedlichen Maßstabsebenen – dem Betrieb, der Stadtregion (Stuttgart) und dem Land (Baden-Württemberg) – um laufende Transformationsprozesse in Gesellschaft, Wirtschaft und Technologie sowie deren Konsequenzen für Architektur, Stadt- und Raumplanung. Flankiert werden diese Gespräche von zwei theoretischen Beiträgen: einmal Leo Herrmanns Analyse der Handlungsspielräume einer Region-Stuttgart-IBA, die den Anspruch einer „präemptiven Transformation“ formuliert hat; und schließlich Christian Holls Entwurf einer „Zukunft der Arbeit als kulturelles Projekt“. Dem Schlusskapitel voran geht ein Mittelteil, in dem ausgewählte IBA’27-Projekte und -Quartiere in Stuttgart und in den umliegenden Orten Backnang, Fellbach, Kernen, Sindelfingen, Wendlingen und Winnenden vorgestellt werden. Da noch keine der Projekte und Quartiere fertig gestellt sind, werden aktuelle Planungsstände mit Referenzprojekten kombiniert und in Kommentaren evaluiert. Im Grundsatzbeitrag des Mittelteils, der den Titel „Die Stadt der Zukunft ist gebaut“ trägt, empfiehlt Andreas Hofer, die gerade in Stuttgart besonders nervös geführten Debatten zwischen Modernen und Traditionalisten bzw. Postmodernen zu beenden und „sich den Herausforderungen einer Zukunft zu stellen, die keinen Platz für heroische Neuschöpfungen lässt“. Dafür müsse „das Herrische und Normative radikal aus dem Schöpfungsprozess von Stadtplanung und Architektur“ gestrichen und durch „die Ko- Kreation von Raum und Gemeinschaft“ ersetzt werden. Es geht, so Hofer, „um eine prozesshafte Kultur des Weiterbauens anstelle von auf den Neubau ausgerichteten, baurechtlichen Regeln“. Hofers pragmatisches Plädoyer dafür, den Status quo (Stuttgarts) als potentielles Terrain für eine Zukunft nicht-utopischer Orte zu verstehen, steht im Dienste des „Zielbildes“: der „produktive, gerechte und lebenswerte Metropolraum im postfossilen Zeitalter“.
Diesem Zielbild wird mit dem Einstiegskapitel, in dem es um eine Geschichte Stuttgarts und seiner Region mit besonderem Fokus auf das Produktionsparadigma geht, eine historische Grundlage bereitet. Den (geologischen) Grund bereitet hier Maik Novotny mit einem „mineralischen Psychogramm Stuttgarts und seiner Region“, gefolgt von Leo Herrmanns industriegeschichtlichem Aufsatz über Stuttgart zwischen „Motor und Verzweiflung“. Dem schließen sich Kerstin Renz’ Analyse des Stuttgarter Charlottenplatz als Hochamt der autogerechten Stadt sowie ein Beitrag des Verfassers zur Antithese dazu an: dem Schicksal der postmodernen Stadt am Beispiel Stuttgarts. Den Abschluss des historischen Überblicks bilden die von Verena Hartbaum vor dem Hintergrund von „Stuttgart 21“ formulierte Rekapitulation von Verfahren der Öffentlichkeitsbeteiligung in Stuttgart und anderswo, Katharina Stolz’ und Klaus Jan Philipps historische Parade über unverwirklichte „Stuttgarter Utopien“ sowie Elena Markus’ und Nick Försters Odyssee durch Stuttgarts „dirty realism“ der industriellen Stadt. Im beigefügten Heft-im-Heft des ARCH+ features findet sich – neben einer Teildokumentation des Entwurfs einer „Metaeuropäischen Stadt“ am IGmA der letzten Jahre – auch ein Porträt eines Stuttgarters, der ideell gleichsam über dem gesamten Heft schwebt: Wolfgang Frey (1960–2012). Frey errichtete in einem geheimen, kafkaesk anmutenden Zwischengeschoss der S-Bahnhaltestelle Schwabstraße jahrzehntelang eine gigantische, schließlich auf 180 Quadratmeter angewachsene Modelleisenbahnanlage, die das komplette Gleisfeld seiner Heimatstadt Stuttgart und die daran anschließenden Stadtteile in detailgetreuer Nachbildung inklusive aller Verkehrszeichen zeigt. Um an die Pläne der komplizierten Trassenführung des Hauptbahnhofs zu gelangen, heuerte er bei der Bahn an, ließ sich zum Fahrdienstleiter ausbilden und arbeitete in dieser Funktion jahrelang im Hauptstellwerk von Stuttgart.14 Innig verwachsen mit seinem Job, fertigte er für den Vorraum seiner Modelleisenbahnanlage sogar eine exakte 1:1-Replik seines Arbeitsplatzes im Hauptstellwerk an. Selten fallen Leben und Arbeiten so in eins wie bei Wolfgang Frey. Entsprechend wird er als personifiziertes Dementi sowohl der Charta von Athen mit ihren feinsäuberlich getrennten Funktionszonen Arbeit, Wohnen, Freizeit und Verkehr als auch der „Europäischen Stadt“ mit ihrem Tertiärisierungsfokus und ihrer Ignoranz industrieller Produktionssphären vorgestellt.
Diese ARCH+ über Stuttgart (und seine Region) musste eine Auswahl unter den vielen IBA’27-Projekten treffen – und thematisiert insbesondere jene, die einen engen Bezug zum Heftthema der „produktiven Stadtregion“ aufweisen. Spektakuläre Uni-Stuttgart-Projekte wie das derzeit auf dem Campus Vaihingen im Bau befindliche, 36 Meter messende Hochhaus des SFB 1244 „Adaptive Hüllen und Strukturen für die gebaute Umwelt von morgen“ (das bereits offizielles IBA-Projekt ist) oder das sich noch in Planung befindliche Demonstrator-Gebäude (Large-Scale Construction Robotics Laboratory) des Exzellenzclusters „Integratives computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur“ (IntCDC; hier ist der Prozess für die Nominierung als IBA-Projekt noch im Gange), seien an anderer Stelle gewürdigt.15 Dieses Heft versteht sich vor allem als ein Kommentar zu den Städtebaudebatten der letzten Jahrzehnte, die ab den 1970er-Jahren und besonders intensiv seit den 1980er-Jahren von Stichworten wie „kompakte Stadt“, „Europäische Stadt“, „Postindustrialisierung“, „Eventisierung“ und „Neoliberalisierung“ geprägt sind, und die eine Art großes Unbewusstes des Urbanismus erzeugt haben: die Welt der Industrieanlagen, der Fabriken, der Produktionssphäre (und damit auch der Frage nach dem Verkehrsaufkommen zwischen Arbeit und Wohnen) – ausgerechnet jene Arbeitswelten also, die zur Herausbildung der modernen Disziplin „Städtebau“ überhaupt erst geführt hatten. Insbesondere der Fall des Eisernen Vorhangs hatte eine noch nie dagewesene und kaum noch zu überblickende Verlängerung der globalen Lieferketten zur Folge. Seither – und Ausnahmen bestätigen nur die Regel 16 – entfalten sich die weltumspannenden Vernetzungen der Industrieanlagen auf der einen Seite und ein nach wie vor und viel zu stark auf tertiarisierte „Mitten“ fokussierter Urbanismusdiskurs auf der anderen Seite in weitgehender kognitiver Entkopplung zueinander. Metropolregionen wie Stuttgart, deren „schmutziger Realismus“ nach wie vor durch klein-, mittel- und großmaßstäbliche Industrieanlagen geprägt ist, kommt daher eine wichtige Korrektivrolle zu: Städte – daran erinnern uns unter deutschen Großstädten vor allem Stuttgart und sein Speckgürtel – sind eben nicht nur touristisch optimierte Dienstleistungs- und Konsum-Monokulturen mit flächendeckender Versorgung ungeahnter Kaffeekreationen, sondern können auch Poiesis-Territorien sein: Orte, an denen breitenwirksam und großmaßstäblich handelbare Artefakte entwickelt, patentiert und gefertigt werden. Dies alles wieder in das Blickfeld von Architektur und Stadtplanung zu bringen und mit den Wohn- und Lebensformen der Gegenwart und wünschbaren Zukunft abzugleichen, möge zum Erkenntnisspektrum dieser Ausgabe gehören.
Mein herzlicher Dank gilt Leo Herrmann, der von Seiten des IGmA die Redaktionsarbeit für diese Ausgabe leitete, sowie allen Autor*innen und Gesprächspartner*innen, die zu dieser Ausgabe beigetragen haben. Ebenso herzlich möchte ich Andreas Hofer und seinem Team von der IBA’27 sowie Anh-Linh Ngo und allen Mitarbeiter*innen der ARCH+ für die angenehme und fruchtbare Zusammenarbeit danken.
1 Uwe Bogen: „Stuttgart, der ewige Spitzenreiter: Willkommen in der schönsten Stadt der Welt!“, in: Stuttgarter Nachrichten, 25.1.2017, www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stuttgart-der-ewige-spitzenreiter-willkommen-in-der-schoensten-stadt-‘der-welt.ef368308-d558-4548-aa96-a62626f6eee2.html (Stand: 1.5.2022)
2 Zit. nach Tag24.de: „Jan Böhmermann zieht in seiner ZDF-Show über Stuttgart her“, 5.12.2020, www.tag24.de/unterhaltung/promis/jan-boehmermann/ jan-boehmermann-zieht-in-seiner-zdf-show-ueber-stuttgart-her-1750300 (Stand: 1.5.2022)
3 Elise Taylor: „Travel – Why Is Stuttgart, Germany, The Least Stressful City In The World?“, in: Vogue, 15.9.2017, www.vogue.com/article/why-is-stuttgart- germany-the-least-stressful-city-in-the-world (Stand: 1.5.2022)
4 Vgl. „Stuttgart ist die teuerste Großstadt Deutschlands“, in: Stuttgarter Zeitung, 25.3.2021, www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.bestandsmieten-2020- gestiegen-stuttgart-ist-die-teuerste-grossstadt-deutschlands.b3b04ea3-44ef-4c93-b7a1-a74453d09462.html (Stand: 1. Mai 2022)
5 Jürgen Dispan, Andreas Koch, Tobias König: Strukturbericht der Region Stuttgart 2019, Stuttgart/Tübingen 2019, www.iaw.edu/files/dokumente/ Strukturbericht_Region_Stuttgart_2019.pdf, S. 79
6 Vgl. IBA’27: „Die IBA’27 hat ihr Programm gefunden: ‚Produktive Stadtregion‘ im Mittelpunkt“, www.iba27.de/die-iba27-hat-ihr-programm-gefunden-produktive-stadtregion-im-mittelpunkt (Stand: 1.5.2022)
7 Zit. nach IBA’27: „Neuerfindung einer Stadtregion: Themen und Räume“, www.iba27.de/wissen/iba27/themen-und-raeume (Stand: 1.5.2022)
8 Vgl. „Diese Firmen machen das Homeoffice zur neuen Arbeitsnormalität“, in: Stuttgarter Nachrichten, 3.6.2021, www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt. coronapandemie-diese-firmen-machen-das-homeoffice-zur-neuen-arbeitsnormalitaet. 3fa6a286-261d-4a15-9d4e-d63873801eb9.html (Stand: 1.5.2022)
9 Ebd.
10 Ebd.
11 Zit. nach ebd.
12 Vgl. ebd.
13 Vgl. ebd.
14 Vgl. hierzu und im Folgenden Begleitbüro SOUP: „Das Wolfgang-Frey- Projekt“, begleitbuero.de/das-wolfgang-frey-projekt-2 (Stand: 1.5.2022)
15 Weitere Informationen zur Beteiligung der Universität Stuttgart an der IBA’27 finden sich hier: www.beschaeftigte.uni-stuttgart.de/uni-aktuell/meldungen/ iba2027-lenkungskreis (Stand: 1.5.2022)
16 Als Ausnahme der Regel ist beispielsweise zu erwähnen: Hiromi Hosoya, Markus Schaefer (Hg.): Industrie.Stadt – Urbane Industrie im digitalen Zeitalter, Zürich 2021
1Editorial
Anh-Linh Ngo
2Einleitung STUTTGART
DIE PRODUKTIVE STADT(-REGION) UND DIE ZUKUNFT DER ARBEIT
Stephan Trüby
16STUTTGART UND DAS PRODUKTIONSPARADIGMA
18LAST EXIT OUTLETCITY
EIN MINERALISCHES PSYCHOGRAMM STUTTGARTS UND SEINER REGION
Maik Novotny
30MOTOR UND VERZWEIFLUNG
DIE WIRTSCHAFT DER REGION STUTTGART UND DAS UNBEHAGEN IM WOHLSTAND
Leo Herrmann
40MONUMENT EINER AUTOGERECHTEN STADT DER STUTTGARTER CHARLOTTENPLATZ
Kerstin Renz
48DER DEUTSCHE ARCHITEKTURHERBST 1977 FF. STUTTGART UND DIE POSTMODERNE ARCHITEKTUR
Stephan Trüby
60SOLIDARISCHE STADTREGION STUTTGART? VERFAHREN DER ÖFFENTLICHKEITSBETEILIGUNG ZWISCHEN WASSERWERFER UND QUALIFIZIERUNGSMANAGEMENT
Verena Hartbaum
70STUTTGARTER UTOPIEN
Katharina Stolz, Klaus Jan Philipp
78DIRTY REALISM IN STUTTGART
EIN VERSUCH ZUR REGIONALEN THEORIE DES SCHMUTZES
Elena Markus und Nick Förster Bildessay: Nick Förster
90DIE PRODUKTIVE STADTREGION – AUSGEWÄHLTE PROJEKTE DER IBA’27
92AUF DEM WEG IN DIE PRODUKTIVE STADTREGION
Andreas Hofer und Tobias Schiller
96INSIDE OUT
ZUM PRODUKTIVEN STADTQUARTIER WINNENDEN
Kommentar: Markus Schaefer
104DORF ALS GEMEINGUT
ZUR QUARTIERSENTWICKLUNG HANGWEIDE
Kommentar: Matthias Ottmann
108PRODUKTIVE LANDSCHAFTEN
EIN KOMMENTAR ZUM IBA’27-PROJEKT
„AGRICULTURE MEETS MANUFACTURING“ IN FELLBACH
Kommentar: Andreas Kipar
116KONVERSION UND KREISLAUF
BESTAND ALS RESSOURCE FÜR DIE
ENTWICKLUNG DES KRANKENHAUSAREALS SINDELFINGEN
Kommentar: Eva Stricker
126VOM FLICKENTEPPICH ZUR MAKER-REGION
Kommentar: Ute Meyer
138DIE STADT DER ZUKUNFT IST GEBAUT
Andreas Hofer
140DIE ZUKUNFT DER ARBEIT (POST-CORONA)
142PRÄEMPTIVER WANDEL?
DIE IBA’27 ZWISCHEN TRANSFORMATIONSAUFTRAG UND SYMBOLISCHEM AKT
Leo Herrmann
Bildessay: Niels Schubert
152DIE ZUKUNFT DER ARBEIT ALS KULTURELLES PROJEKT
Christian Holl
160VOM WANDEL DER ARBEIT
Wolfgang Beinhauer, Thilo Brandel,
Nick Kratzer, Regine Leibinger und Andreas Möller im Gespräch mit Stephan Trüby
174VON DER AUTOSTADT ZUR MOBILITÄTSSTADT
Wolf Engelbach, Katja Gicklhorn, Jürgen King, Caroline Ruiner und Markus Weismann im Gespräch mit Stephan Trüby Bildessay: Felix Sattel
182RAUM UND TRANSFORMATION
Kathrin Braun, Melina Danieli, Matthias Kiese, Thomas Kiwitt und Silvia Palka im Gespräch mit Leo Herrmann
188Beteiligte
191Bildquellen
192Impressum
Team dieser Ausgabe: Paul Barth, Nora Dünser (CvD), Mojan Kavosh, Sascha Kellermann (Projektleiter), Sarah Knechtel, Markus Krieger, Vera Krimmer,
Alex Nehmer, Anh-Linh Ngo (Redaktionsleitung)
KEIN
VERKEHR ⁄
VERKEHR
Gastredaktion: Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA), Universität Stuttgart: Stephan Trüby, Leo Herrmann Mitarbeit: Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27): Andreas Hofer, Tobias Schiller und das IBA’27-Team
Cover: Elias Binder
FRAGMENTE EINER (SPRACHE DER) METAEUROPÄISCHEN STADT
Zur Architekturlehre am Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA; 2018 ff.
ARBEIT / KEINE ARBEIT – WOHNEN / KEIN WOHNEN – FREIZEIT / KEINE FREIZEIT – VERKEHR / KEIN VERKEHR
FRAGMENTE EINER (SPRACHE DER) METAEUROPÄISCHEN STADT
Zur Architekturlehre am Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA; 2018 ff.)
DIE STADT DER MODERNE PRODUKTIV WENDEN TEXT: ANH-LINH NGO Zwei der jüngsten ARCH+ Ausgaben sind aus unterschiedlichen Blickwinkeln derselben Frage nachgegangen: Wenn die moderne Lebenswelt unterteilt ist in sich ausschließende Räume der Produktion und Reproduktion (im Sinne der Regenerierung der Arbeitskraft) – können wir diese Ausdifferenzierung rückgängig machen, oder zumindest weiterentwickeln? In der Ausgabe 244 Wien – Das Ende des Wohnbaus (als Typologie) haben wir daran erinnert, dass „die funktional-räumliche Trennung, die sich historisch im Zusammenhang mit der kapitalistischen Produktionsweise herausbildete, […] von Beginn an zu Lasten der sozialen und kulturellen Kohäsion der Stadt [ging]. Von den ökologischen Folgen, die immer deutlicher zu Tage treten, ganz zu schweigen.“ Daraus haben wir die Forderung abgeleitet: „Wenn die Trennung von Arbeit (Produktion) und Wohnen (Reproduktion) eine Voraussetzung für die kapitalistische Produktionsweise bildet, kann die Architektur nur einen Beitrag zu einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel jenseits der vordergründigen Verbesserung der Wohnverhältnisse leisten, indem sie diese Trennung aufhebt! Sie muss den Wohnbau in der Form, in der wir ihn als ausschließende Typologie seit Beginn der Moderne betreiben, beenden. Sie muss Wohnen als gesellschaftliche und damit städtische Funktion begreifen.“ Ähnlich hatte die Frauenbewegung im Gefolge von ’68 diese Argumentation zum Slogan „Wohnen ist Arbeiten“ verdichtet. Wie die Ausgabe 246 Zeitgenössische feministische Raumpraxis verdeutlichte, stellten die Feministinnen damit vor allem das Produktionsparadigma der Moderne infrage. Im Kapitalismus wird die Reproduktionsarbeit privatisiert und der häuslichen Sphäre zugeordnet, was unter dem Strich zu einer Externalisierung von Kosten führt – meist zu Lasten von Frauen. Dieser diskursive Hintergrund bietet uns die Gelegenheit, in der vorliegenden Ausgabe zur „Produktiven Stadt“ bewusst auf den Bereich der „Produktion“ zu fokussieren. Die Schärfung der Diskussion um die Stadt als produktives Feld geschieht im Kontext der IBA’27 StadtRegion Stuttgart mit der dortigen spezifischen industriellen Basis. Statt von einer Zukunft ohne Arbeit zu träumen, die unter den gegebenen Umständen folgenlos bleiben muss, erkennen wir in der dezentralen Neuverteilung von Arbeit im Raum reale gesellschaftliche Chancen. Schließlich liegt gerade darin, so der Soziologe Nick Kratzer im Interview, „eine riesige Gelegenheit und auch eine riesige Gestaltungsaufgabe“. Und wir entgehen damit auch dem antimodernen Impuls, der sich immer einschleicht, wenn wir die Auswüchse der Moderne kritisch reflektieren, wie das ARCH+ features mit Arbeiten des IGmA an der Universität Stuttgart vor Augen führt. Es geht hier explizit nicht um ein Zurück zur sogenannten Europäischen Stadt der Vormoderne. Denn „die Stadt der Zukunft ist gebaut“, so der Appell Andreas Hofers, Intendant der IBA’27, in dieser Ausgabe. Damit ist nicht nur im ökologischen Sinne ein Aufruf zur Transformation des Bestehenden gemeint. Vielmehr handelt es sich um die radikale Anerkennung der Eigenlogik und damit auch der Schönheit der modernen Stadt, die sich gerade durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auszeichnet. Befreit von der Last, aufs Neue die „Stadt der Zukunft“ zu entwerfen, können wir endlich die Inwertsetzung und Aneignung der Zwischenräume, der Bruchstellen, der ungeliebten Infrastrukturen angehen und damit die Stadt der Moderne produktiv wenden. Für die kollegiale und produktive Zusammenarbeit im Rahmen der Gastredaktion danken wir dem Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA), insbesondere Stephan Trüby und Leo Herrmann. Der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27) gilt unser besonderer Dank für die anregende und vertrauensvolle Kooperation, allen voran Andreas Hofer, Karin Lang, Tobias Schiller und dem gesamten Team der IBA’27. Auch dem ARCH+ Team, insbesondere Sascha Kellermann für die Projektleitung, gebührt großer Dank für die Umsetzung des wichtigen Debattenbeitrags.
DIRTY REALISM IN STUTTGART EIN VERUCH ZUR REGIONALEN THEORIE DES SCHMUTZES TEXT: ELENA MARKUS UND NICK FÖRSTER Freitagabend, A8, auf dem Weg nach Stuttgart. Die Autobahn ist ziemlich leer, der geplante Zwischenstopp scheitert. Die Raststätte ist wegen Corona geschlossen. Weiter am Flughafen vorbei und unter der Brücke mit dem rot beleuchteten Bosch-Zeichen durch. An der Anschlussstelle Stuttgart-Möhringen biegen wir auf die B27 ab und stehen gut zehn Minuten später vor dem Bavaria Hotel Münchner Hof. Unsere Stuttgart-Odyssee hat begonnen. Wie der Reisende Krieger im gleichnamigen Film von Christian Schocher aus dem Jahr 1981 schlüpfen wir in die Rolle eines ◊Odysseus“ hinein, ◊der herumirrt und seine Heimat sucht“. Das Hotel ist unser Ithaka, von wo aus wir durch die Peripherien von Stadt und Gesellschaft streifen. Unter dem Stern des Dirty Realism geht unsere zweitägige Odyssee durch die schmutzigen Ränder der ◊sauberen“ Theorien. Wir erkunden eine schmutzige Realität, in der die Stadt noch heute gefangen zu sein scheint, und studieren das bröckelnde Narrativ der industriellen Stadt. Todesnacht von Stammheim Bei Sonnenuntergang nähern wir uns der Justizvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim, die in das Licht der Abendsonne getaucht ist (Abb. 1). Das berühmteste Gefängnis Deutschlands liegt auf der Achse zwischen dem barocken Schloss Solitude und der einstigen Residenzstadt Ludwigsburg. Ein Schotterweg führt entlang der Gefängnismauer. Zahlreiche Spaziergänger*innen ziehen in der Abendsonne an uns vorbei. Zur Linken eröffnet sich der Blick auf ein idyllisches Panorama mit Kleingärten und Feldern. Zur Rechten sind ein Sicherheitsstreifen und die hohe Mauer aus Betonfertigteilen zu sehen. Über die Mauer ragt der achtstöckige Gefängnisriegel aus den frühen 1960er-Jahren. Auf der siebten Etage waren zwischen 1974 und 1977 die prominenten Mitglieder der ersten RAF-Generation im Hochsicherheitstrakt untergebracht. Wie eine missglückte Weihnachtsdekoration ranken Stacheldrahtrollen über die Stahlbetonfassade. Die Stirnseiten des Riegelbaus sind außen durch vertikale, mit Glasbausteinen ausgefachte Felder gegliedert. Eine schnelle Netz-Recherche bringt eine entsprechende Innenperspektive zum Vorschein: Diese zeigt einen breiten Korridor, von dem aus die Zellen erschlossen werden und der an einem Glasbausteinpaneel endet. In bester Tradition des modernen Bauens sorgen sie für mehr natürliches Licht und eine angenehmere Atmosphäre. Die Fassade rekurriert auf einen vom industriellen Bauen inspirierten Funktionalismus, der zwischen der Pariser Maison de Verre und der Stadtbibliothek Stuttgart zu verorten ist. Das Mehrzweckgebäude auf dem Gelände der JVA, das für den RAF-Prozess errichtet wurde, liegt hinter der Anstaltsmauer und ist von außen nicht sichtbar. Am 28. April 1977 endete hier der Prozess mit lebenslangen Verurteilungen. Mit der „Todesnacht“ zum 18. Oktober 1977 (als Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe tot in ihren Zellen aufgefunden und daraufhin der von der zweiten RAF-Generation entführte Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer ermordet wurde), fand der Deutsche Herbst seinen Höhepunkt. In diesem Moment und an diesem Ort materialisierte sich die historische Wende, die eine Abkehr vom Idealismus der 1968er hin zum dirty Pragmatismus der 1980er-Jahre kennzeichnete. Aufgewachsen mit dem träumerischen Hintergrund der vormaligen Idealist*innen, lehnten die schmutzigen Realist*innen in der Folge jede Art von Politik ab. „Man kann viele dieser Geschichten als politisch lesen, auf eine leise Art und zumindest in ihren Details“, schreibt der Ideologe des Dirty Realism, Bill Buford, zur neueren amerikanischen Literatur im Jahr 1983, „aber es ist eine aus der Distanz betrachtete Politik: Es sind Geschichten nicht des Protests, sondern des Anlasses dafür.“ Um den zeitgebundenen desillusionierten Blick auf die Wirklichkeit in diesen Geschichten zu benennen, die er als „schlichte, schmucklose, billige Tragödien über Menschen, die tagsüber fernsehen, Groschenromane lesen oder Country und Westernmusik hören“ charakterisiert, wählt Buford den Begriff des Schmutzigen Realismus. In diese Zeit gehört auch der konservative politische Umschwung, der sich in Deutschland mit dem Aufruf Helmut Kohls zu einer „geistig-moralischen Wende“ 1982 ankündigte. Dieser neue Konservatismus, den seine Apologet*innen als „konsequent antiideologisch und dementsprechend pragmatisch ausgerichtet“ verteidigten, markierte zugleich eine Sinn- und Hoffnungskrise der aufkommenden Generation. Der Bruch von 1977 kennzeichnete auch eine Umkehrung der Wahrnehmung: Statt einer durch die Modernen propagierten „sauberen“ Wirklichkeit trat jetzt deren „schmutzige“ Kehrseite in den Vordergrund. Die bis dahin für die Planungsdisziplin unsichtbar gebliebenen Randgebiete und industriellen Areale verschmolzen zu einer postindustriellen Stadtlandschaft. Eine Maximierung von „Dirt“ ging mit den ökonomischen Prinzipien der postindustriellen Zeit einher. Eine Wende hin zum Fetisch „Schmutz“ bestimmt seitdem die Ikonografie der postindustriellen Gesellschaft, in der sich Kommerzarchitekturen mit den vernakulären Formen unter dem Begriff des Volkstümlichen paradox vermischen. Zurück auf der Schnellstraße legen wir einen kurzen Zwischenstopp an der Hanns-Martin-Schleyer-Halle ein. Die Mehrzweckhalle von Siegel, Wonneberg und Partner, die 1983 eingeweiht wurde, soll in naher Zukunft abgerissen werden. Der geplante Abriss mit einem anschließenden Neubauprojekt würde die bestehende Kontroverse um den Namen der Halle elegant beenden: „Zuletzt hatte das Linksbündnis im Stuttgarter Gemeinderat die Umbenennung wegen Schleyers Rolle im Dritten Reich gefordert“, schreibt die SWR Aktuell am 6. September 2021, wenngleich „[d]er Sohn des von der RAF ermordeten Hanns Martin Schleyer, Jörg Schleyer, […] das als ‚unerträgliche Geschichtsklitterung‘ bezeichnet.“ 40 Jahre nach der postmodernen „Entdeckung“ der Stadtperipherie statuiert die Stadtregion Stuttgart ein zweifaches Exempel. Eine nach wie vor lebendige industrielle Realität mit ihrem heroischen Narrativ vereint sich hier mit der wachsenden Unruhe und dem Bedürfnis, dieses „schmutzige Stuttgart“ durch die Linse der Theorie neu zu überdenken. Unsere erste Diagnose lautet: Nicht mehr Berlin oder London, sondern Stuttgart ist heute die heimliche Hauptstadt des Dirty Realism. Sechszylinder und Bausparvertrag Der nächste Tag unserer Odyssee beginnt im rustikalen Interieur des Frühstücksraumes im Bavaria Hotel (Abb. 2): Holzstühle mit Herzausschnitt, bleiverglaste blau-weiße Rautenfenser, Menschenleere. Das Brezel-Frühstück (9,80 Euro pro Person) fällt aus. Stattdessen holen wir uns zwei Pappbecher mit dünnem Kaffee aus einer Bäckerei um die Ecke und spekulieren über die schwäbische Entsprechung zum bayerisch-postindustriellen Slogan „Laptop und Lederhose“. Diese finden wir eine halbstündige Autofahrt später bei der Villa Porsche: „Sechszylinder und Bausparvertrag.“ Ferdinand Porsches Einfamilienhaus von Paul Bonatz und Fritz Scholer aus dem Jahr 1923 – ordentlich und zugleich bescheiden mit einem Satteldach, Gauben, Fensterläden und einer geräumigen Doppelgarage – liegt in prominenter Lage auf dem Killesberg; drumherum zieht sich eine streng geometrische Thujenhecke (Abb. 3). Der obligatorische Porsche Cayenne steht in der Einfahrt. Hinter den Garagentoren tüftelte Porsche einst an seinem „Kraft durch Freude“-Wagen. So entstand die Erfolgsgeschichte der deutschen Autoindustrie, der VW Käfer. Die Villa repräsentiert heute die kreativ-ökonomische Vision einer produktiven Stadt, in der das herstellende Gewerbe mit den nicht-industriellen städtischen Nutzungen harmonisch koexistiert. Auf die Kritik an der postindustriellen Stadtökonomie folgend, erwies sich die Idee einer produktiven Stadt als fruchtbar. Die Reindustrialisierung in Form einer wissensintensiven, innovativen und nachhaltigen Produktion erfährt mit der Industrie 4.0 eine positive Umwertung. Die Region Stuttgart, seit jeher von kleinmaßstäblicher Produktion und Handwerk geprägt, präsentiert sich als ein Silicon Valley ex ante. Die informellen Werkstätten von Porsche und Daimler verbinden im Nachhinein den schwäbischen Tüftlermythos mit dem kalifornischen Garagenfetisch. In der suburbanen Produktionsidylle harmonieren 3D-Drucker und digitale Handarbeit mit dem (schwäbischen) Garage Rock. Auch der Kulturwissenschaftler Martin Roth proklamiert anlässlich der IBA’27: „Es gibt einfach zu große Angst […] in dieser genialen Stadt, wo wir Sprit im Blut haben, dass irgendwann einmal Silicon Valley davorsteht.“ Daraus schließt er: „[W]ir sollten also mehr tun, als nur Häuser zu bauen und Produkte zu zeigen. Es geht auch um Engineering, es geht um die Verbindung von Engineering mit unserer Alltagswelt.“ Wir fahren weiter (Abb. 4, 5). Zwischen den Autowaschanlagen, Fastfoodketten und einem vorstädtischen Wohngebiet auf dem angrenzenden Hügel franst die Erzählung einer produktiven Stadt aus: Wir sind auf der Kehrseite des „Swabian Dream“ angekommen. In Untertürkheim scheinen die kleinstädtischen Straßenfluchten stets auf das Werksgelände zuzulaufen. Zwischen den weißen Häuschen und grünen Weinbergen blitzt stets ein ubiquitärer Benzstern durch (Abb. 6). Trotz des kontinuierlichen Drucks der steigenden Bodenpreise blieb in den 1990ern eine großflächige Deindustrialisierung der Region weitgehend aus. Das Nebeneinander von Wohnviertel und Industriegelände entlang des Neckartals erinnert uns an die Sozgorod-Idee einer vorbildlichen Industriestadt aus den 1920er-Jahren. In Magnitogorsk, das nach den Plänen von Ernst May als eine Arbeiterstadt in der Steppe errichtet werden sollte, steht heute das Fabrikgelände des Metallurgischen Kombinats östlich des Ural-Flusses nicht nur funktional, sondern auch symbolisch den Wohnvierteln gegenüber. Das Gegenüber von Wohnen und Industrie findet auch im Neckartal zwischen dem Fluss, der Autobahn, den Bahntrassen und der Kleinstadt seine milde Entsprechung. Stellt das „retroaktive Silicon Valley“ den einen Teil des Mythos der produktiven Stadt dar, so ist die „Sozgorod Stuttgart“ der andere Teil. In der polyzentrischen Region überkreuzen sich verschiedene Zeitebenen zu einer prä-post-industriellen Dirty Realität, die das Dilemma einer post-innovativen Stadt verkörpert. Karl Marx meets Richard Florida. Brrrm-tata-brrrm-tat, brrrm-tata-brrrm-tat Es geht weiter über die Stadtautobahn B14. Wir fahren über das Kreuz Stuttgart auf die A81 und weiter durch den Heslacher Tunnel. Unsere Odyssee führt uns ins Herz der polyzentrischen Zwischenstadt. Wir navigieren ziellos durch Industrieareale, Weinberge und Ansammlungen von weiß gestrichenen Einfamilienhäusern. Am Rand der Autobahn fliegt uns das SI-Centrum entgegen. Ein weiterer Reisender Krieger überholt uns in seiner C-Klasse; durch den stockenden Berufsverkehr treibt er auf das Mercedes-Werk in Sindelfingen zu. Der Weg dorthin führt durch eine zersplitterte Landschaft, in der sich alle Stadt-Land-Gegensätze längst in einer dickflüssigen urbanen Masse aufgelöst haben. Jeder Kilometer zum Werk wird ab sofort mit 38 Cent Pendlerpauschale kompensiert, informiert die Auto Bild im Februar 2022. Nachdem die Entfernungspauschale 1955 als Reaktion auf die steigende Motorisierung auch für Pkws eingeführt wurde, fungiert sie seit den 1980er-Jahren als ein Korrektiv gegen die steigenden Energiepreise und wirkt unweigerlich als Motor der Zersiedelung und des Flächenfraßes. Die neueste Erhöhung der Pauschale ist eine weitere Panne auf dem Weg in die Post-Autostadt. So bleiben die monumentalen Autobahnknoten nach wie vor die wahren Zentren der Region – die eigentlichen Piazze der polyzentrischen Metropole. Die Zwischenstadt Stuttgart, entstanden aus „zahllosen rationalen Einzelentscheidungen“, verdichtet sich hin und wieder entlang ihrer Entwicklungsachsen. Sie stellt ein radikales Gegenbild zur sogenannten europäischen Stadt dar. Die Peripherie ist ihr wahres Zentrum und die eigentliche Stuttgarter Innenstadt wirkt, im Talkessel eingezwängt, viel eher provinziell. In ein Gerüst von Infrastruktur legt sich ein Flickenteppich aus einzelnen Verdichtungen, in dem das Stuttgarter Kerngebiet nur eines von vielen peripheren Zentren bildet. Die Region bleibt auch heute noch ein Paradebeispiel für den raumplanerischen Diskurs um die Zwischenstadt, der seinerzeit an die Entdeckung der „schmutzigen“ Stadt der 1980er-Jahre anschloss. Mit einem Verkehrs- und Siedlungsflächenanteil von rund 23 Prozent ist die Region eines der am dichtesten bebauten Gebiete Deutschlands und kann „beinahe vollständig als städtischer und suburbaner Raum“ gelesen werden; in dieser Form nicht zuletzt aufgrund der heterogenen Topografie und spezialisierten Unterzentren entstanden. Wir nehmen die Ausfahrt 24 nach Böblingen-Hulb. Zur Rechten heißt uns das Schild „This is for you, World.“ im Mercedes-Werk Sindelfingen willkommen. Das Werksgelände erstreckt sich über eine Fläche, die mit der Größe der sie umgebenden Kleinstadt vergleichbar ist (Abb. 7). Wir unterbrechen unsere Irrfahrt auf einem ehemaligen Flugfeld am Rand des Werksgeländes, das im Westen von dem Indoor-Freizeitpark Sensapolis begrenzt wird und im Osten in einen geräumigen Parkplatz des Automobilzentrums Motorworld mündet (Abb. 8). Wenige hundert Meter südlich landen wir in der Fußgängerzone von Böblingen: Eine vorbildliche Zwischenstadt, die „aus lauter autonomen Systemen, die relativ unverbunden nebeneinander liegen“, besteht. In diesem regionalen Potpourri vermischen sich Industriezonen mit Wohngebieten und Büroparks. Und genau darin liegt nach Sieverts die Stärke der „Zwischenstadt“ . Wenngleich das Konzept samt dem dazugehörigen Diskurs erst im Sand zu verlaufen schien, bietet es im Unterschied zur mehrfach kompromittierten Idee einer europäischen Stadt „viele einfachere Möglichkeiten, inselhaft einzugreifen, ohne das ganze System ändern zu müssen“. Es spricht in der Tat vieles für eine Neubewertung der „anästhetischen“ urbanen Region. Im „Plädoyer für eine IBA in der Region Stuttgart“ wird der regionale Ansatz zum präventiven Strukturwandel ebenfalls befürwortet. Optimistisch formuliert das Dokument die drei wichtigsten Gründe für eine neue Bauausstellung in Stuttgart. Zum einen heißt es, „das Potenzial in der Region ist riesig“, zum zweiten erscheint „der regionale Ansatz“ als „neu und spannend“, und zum dritten feiert die Weißenhofsiedlung im Präsentationsjahr der IBA ihren hundertsten Geburtstag. Die Wiedergeburt einer Faszination des Banalen ergriff angesichts der kommenden Bauausstellung nun die gesamte Metropole Stuttgart. Zuletzt erhoffte die Architekturtheoretikerin Liane Lefaivre, die den Begriff des Dirty Realism 1988 von der Literatur auf die Architektur- und Stadtproduktion übertrug, mit der Formel „Make the Stone Stony“ von Viktor Šklovskij einen ungetrübten Blick auf die Strukturen des Gewöhnlichen zu gewinnen. Der Rückweg zum Hotel führt uns über eine Schnellstraße, eine von vielen Stuttgarter Entsprechungen zum Sunset Strip. Ein gigantisches zungenförmiges Vordach einer casino-ähnlichen Waschanlage ragt über die Straße hervor: „Mr. Wash“ (Abb. 9). Unter der hell erleuchteten Zunge geht der Reisende Krieger der automobilen Care-Arbeit nach. Der künstliche Sternenhimmel bringt die Kurven und Kanten der polierten Karosserie bestens zur Geltung. Schlüsselfertigbau „Mies van der Rohe weist anlässlich der Einweihung der Weißenhofsiedlung 1927 auf die Widersprüche innerhalb der Siedlung und zwischen der Siedlung und dem umgebenden Alltag der Architektur hin“ – lesen wir in einer Publikation des gemeinnützigen Vereins Stiftung Architekturforum Baden-Württemberg. Wie der Untertitel – „Warum muss so vieles so hässlich sein?“ – der 2007 anlässlich eines offenen Ideenwettbewerbs erschienenen Publikation verrät, führt der Herausgeber Roland Ostertag die Hässlichkeit Stuttgarts auf die zerstörerische Rolle der Architekturmoderne zurück. Der technische Fortschritt fresse den Sinn und die Schönheit des Bauens auf; eine Entwicklung, die sich schon mit der Weißenhofsiedlung manifestieren würde. Anstelle von Stadt entstehe „Solitärabfall“, so Ostertag und Konsorten weiter. Wie die Schmutzexpertin und Anthropologin Mary Douglas hingegen meint, steht der Schmutz für uns im Wesentlichen für Unordnung, aber es gilt für sie zugleich: „Schmutz als etwas Absolutes gibt es nicht: Er existiert nur vom Standpunkt des Betrachters aus.“ Die Angst vor Verunreinigung (des Körpers) stellt Douglas in Verbindung mit den symbolischen Strukturen einer Gesellschaft. Die „Glaubenskrise“ der modernen Reinheit trat somit mit den Zweifeln am industriellen Reinheitsbekenntnis auf. Das Neue Bauen verbannte einst mit dem Versprechen einer neuen Welt nicht nur den Schmutz, sondern auch alles Persönliche: „[A]n die Stelle schöner Illusion tritt körperliche Wirklichkeit“, postuliert Hannes Meyer 1926. In der Konsequenz sollte der Reinheit nackter Körper die Reinheit reiner Konstruktion entsprechen, und das mit länderübergreifender Geltung, denn „Internationalität ist ein Vorzug unsrer Epoche“, so Meyer. Für den marxistischen Architekten Hans Schmidt bildete die Standardisierung und Nutzung von „allgemeingebrauchten, typischen“ Architekturelementen die Basis für eine über alle Klassenunterschiede erhobene Architektur. Für ihn stellte das Typische keine ästhetische, sondern eine gesellschaftliche Frage dar, die sich der ästhetischen Definition von Engels unterordnete. Mit dem schnell kompromittierten Baufunktionalismus geriet in der Nachkriegszeit auch die Hoffnung auf eine große Erneuerung mit standardisierten Bauweisen in Verruf. Die Weißenhofsiedlung vor dem inneren Auge, fahren wir weiter nach Stuttgart-Möhringen. Zum Hauptsitz von Züblin, einem Bauunternehmen, das sich in den späten 1970er-Jahren des Problems annahm und eine Lösung anbot: den Schlüsselfertigbau. Für eine postmoderne Antwort auf die moderne Fertigteilfrage beauftragte Züblin einen Kirchenarchitekten. Gottfried Böhm stellte 1985 die neue Firmenzentrale fertig. Die Vorgabe des Unternehmens, das Bürogebäude mit den von Züblin gefertigten Betonfertigteilen zu planen, setzte Böhm in Form zweier symmetrisch gesetzter Büroflügel aus rot gefärbten Betonfertigteilen um, die durch eine Atriumhalle aus Glas miteinander verbunden sind. Von innen schweift der Blick über die monumentalen Treppentürme in der Mitte des Hauses auf das Feld und die Tristesse der städtischen Peripherie. Vor einem Büroflügel platzierte Böhm im Westen zwei bofilleske Pavillons, unter denen eine Tankstelle und Parkplätze angeordnet wurden (Abb. 10). In der schlossartigen Anlage mit einem gläsernen Satteldach über dem Atrium und mehreren mit Türmchen gekrönten Treppenhäusern entlang der Betonfassaden wirken die einzelnen Fertigteilelemente wie sonderbare Ornamente. Keine Spur von Monotonie als Ausdruck der fortschrittlichen Gleichheit – ob im Namen des Sozialismus oder der kapitalistischen Bauindustrie. Die hellroten Brüstungsplatten und die dunkelrot gefärbten vertikalen Tragelemente schließen sich zu einem Konglomerat zusammen, das sich von der sauberen Erzählung einer Weißenhofsiedlung verabschiedet. Die „profane Verunreinigung“ der modernen Bauhygiene erfolgt vor dem Hintergrund eines Umbruchs in die postmoderne Zeit. Die „verschmutzte“ Architektur stellt ein Abbild der atomisierten und diskontinuierlichen Wirklichkeit dar. Douglas schreibt: „In einem Chaos sich ständig verändernder Eindrücke konstruiert jeder von uns eine stabile Welt, in der die Gegenstände erkennbare Umrisse, einen festen Ort und Bestand haben.“ Der Kreis schließt sich: Erst eine klare Trennung von sauber und unsauber, dann die Verunreinigung und schließlich die erneut versuchte Ansteckung des Unreinen mit dem Reinen. „Wir müssen ein klares Ziel, eine klare Fragestellung formulieren“, schreiben Arno Lederer und Werner Sobek angesichts der aktuellen IBA für Stuttgart und die Region, und fügen hinzu: „Wir fordern den Mut zur Utopie.“ Aber eine Stadtproduktion nach dem Muster einer produktiven Stadt verweigert eine klare Grenzziehung, so wie sie auch saubere Lösungen verweigert, und diese ist zwischen Rutesheim, Großbottwar, Alfdorf und Frickenhausen nicht mehr in die hermetische Form einer Siedlung hineinzupressen. Max-Horkheimer- Kabinett Bei Anbruch der Abenddämmerung machen wir uns auf den Weg zu unserer letzten Station: das Max-Horkheimer-Kabinett im dritten Obergeschoss der Stadtbibliothek Stuttgart. Wir legen einen kurzen Zwischenhalt beim ehemaligen Bürogebäude der Baumwollspinnerei der Familie Horkheimer in Stuttgart-Zuffenhausen ein – sprechende Architektur par excellence. Der aufwändig dekorierte Backsteinbau mit einer imposanten Spinne auf dem Giebel macht Vorfreude auf eine denkwürdige Fortsetzung in der Innenstadt. Diese stellt sich aber als eine Enttäuschung heraus. Im Horkheimer-Kabinett finden wir weder eine Büste noch Originalschriften oder wertvolle Gegenstände von Horkheimer vor. Der aus dem quadratischen Grundriss des Regelgeschosses herausgeschnittene, verglaste Raum ist ein kahler, mit hellgrauen Tischen und Plastikstühlen ausgestatteter Arbeitsraum (Abb. 11). Überrascht werden wir vielmehr von der Fassade des monolithischen Würfels, die von Glasbausteinpaneelen dominiert wird: Sie lässt zwar Licht, aber keine Blicke ins Innere des Hauses durch. Am Ende unserer Reise kommen wir zurück zum Anfang. Die Glasbausteine an den Fassaden des Hochsicherheitstraktes von Stammheim kehrten in der neuen Bibliothek, dem Stadtsymbol im neu angelegten Europaviertel, wieder. Wir stellen fest, dass die Analogie nicht nur uns ins Auge fiel. Anlässlich der Meldung zur Fertigstellung der Stadtbibliothek kommentierte der Nutzer „Archi“ am 25. Oktober 2011 um 22:07 Uhr auf Baunetz: „In der Bahn hat mal eine alte Dame gemeint, dass ein ‚Neuer Knast‘ in der Innenstadt gebaut wurde.“ Ein weiterer Nutzer beklagt sich später über die „Gefängnisfenster“ der neuen Bibliothek. Der Glasbaustein, von Stammheim in die Stadtmitte von Stuttgart übertragen, kündigte zugleich den ultimativen Siegeszug der Schmutzigen Theorie an, zu deren Geschichte auch die Kritische Theorie gehört. So stellt Horkheimer in seinem Aufsatz zur Kritischen Theorie 1937 den hermetischen Theoriebegriff „in der gebräuchlichen Forschung“ infrage. Ein universales System der sozialen Wissenschaft war für ihn angesichts der wechselseitigen Abhängigkeit von Theorie und Empirie nicht realisierbar. „Was das Mitglied der industriellen Gesellschaft täglich um sich sieht, Mietskasernen, Fabriksäle, Baumwolle, Schlachtvieh, Menschen“, schreibt er zur traditionellen und zur Kritischen Theorie, „diese sinnliche Welt trägt die Züge der bewußten Arbeit an sich, und die Scheidung, was davon der unbewußten Natur, was der gesellschaftlichen Praxis angehört, ist real nicht durchzuführen.“ Zur zeitgenössischen Theoriebildung schreibt Hélène Frichot, die neuere Protagonistin der Schmutzigen Theorie in und außerhalb der Architekturpraxis: „Diejenigen, die schmutzige Theorie betreiben, sind in der Regel eifrige Sammler*innen, die nicht nur die gewohnten Theoriebücher der üblichen Verdächtigen zusammentragen, sondern auch Pamphlete, Broschüren, Pläne, Postkarten, Gesprächsfetzen und Fundstücke aus den sozialen Medien, wobei sie sich bewusst sind, dass die Unterscheidung zwischen Trivial- und Hochkultur willkürlich ist.“ Zudem verweigere der Schmutz eine eindeutige oder, anders ausgedrückt, eine vereinfachende Einordnung. Der Zugewinn an Theorie berge allerdings auch Gefahren. Wer das Boot der Theorie ins Wanken bringe, so Frichot, riskiere, über Bord geworfen zu werden – um dann festzustellen, dass „die mythische Insel der Vernunft im Nebel verschwunden ist“. Wenngleich die vordergründige Aufgabe der Architektur darin zu bestehen scheint, der Entropie zu entkommen, ist nach Frichot der Schmutz ein wesentlicher Ertrag von Entropie. Allerdings verweigern sich der Schmutz und die Unordnung den „clean-up-jobs“, mit denen die Städte und Kommunen revitalisiert und somit ökonomisch attraktiv gemacht werden. „Was geht verloren, wenn wir den Schmutz wegwischen, wenn wir all den unerwünschten Abfall unter den Teppich kehren?“, fragt Frichot. Oder im Hinblick auf die Region Stuttgart: Leistet die Dirty Theory 40 Jahre nach dem Dirty Realism noch immer einen kreativen Widerstand? Wo lassen sich heute die Schmutzstücke von Stuttgart entdecken? Während unserer Odyssee passieren wir in der Stuttgarter Innenstadt zahlreiche Luftmessstationen. Außenluftreiniger sind am Rand einer sechsspurigen Schnellstraße aufgereiht, und wir fragen uns im Vorbeifahren, wie viel Feinstaub unser Versuch einer Theoriebildung produzierte und wie viel davon von den Filteranlagen in den Straßen von Stuttgart eingesogen werden konnte (Abb. 12). Die mit Sensoren ausgestattete Filter- und Verschmutzungsdatensammelanlagen regulieren aber nicht ausschließlich die Schmutzatmosphäre der Stadt. Es handelt sich vielmehr um Techniken, die bestimmen, in welcher Form, unter welchen Bedingungen und für wen die unsichtbaren Partikel und Gase sichtbar gemacht werden. Sie sind an der Konstruktion einer verschmutzten urbanen Welt mit beteiligt, welche sie als ein „object of inquiry“ zusammenhalten. Die Schmutzpartikel legen sich am Ende wie ein unsauberes Theorieraster über die Stationen unserer Stuttgart-Odyssee. 1 Vgl. Christian Schocher: „Reisender Krieger – Exposé für einen Dokumentarfilm oder einen dokumentarischen Spielfilm“, in: Reisender Krieger – ein Film von Christian Schocher, Director’s Cut, DVD, 2015. Der „inszenierte Dokumentarfilm“ von Christian Schocher handelt von einem handelsreisenden Kosmetikvertreter, dessen Reiseroute ihn durch die ganze Schweiz führt. Die dokumentarischen Aufnahmen von Landschaften und Städten zeigen staubige Straßen und anonyme Wohnquartiere: die überwältigende Tristesse der Schweizer Peripherie um 1980, die ein Vorbild für die darauffolgende architektonische Auseinandersetzung mit den urbanen Stadtlandschaften in der Deutschschweiz lieferte. 2 Vgl. den Wikipedia-Artikel zu den Ereignissen in der Nacht zum 18. Oktober 1977, de.wikipedia.org/wiki/Todesnacht_von_Stammheim (Stand: 1.3.2022) 3 Butz Peters: Hundert Tage – Die RAF-Chronik, München 2017 4 Vgl. Bill Buford: „Editorial“, in: Ders. (Hg.): Granta 8: Dirty Realism – New Writings from America, London 1983, S. 4 f., Übersetzung durch ARCH+; zum Begriff „Dirty Realism“ siehe Elena Markus: Zum (Dirty) Realism – Analoge Architektur 1983–1987, München 2022 5 Vgl. Thomas Biebricher: Geistig-moralische Wende – Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus, Berlin 2018, S. 17 6 Vgl. Manfred Prisching: „Trash economy – Abfallmaximierung als Wirtschaftsprinzip“, in: Anselm Wagner (Hg.): Abfallmoderne – Zu den Schmutzrändern der Kultur, Berlin 2012, S. 29–41 7 Verena Neuhausen: „Abriss der Stuttgarter Schleyer-Halle für große Shows nötig?“, in: SWR Aktuell, 6.9.2021, www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/stuttgart/was-passiert-mit-der-schleyer-halle-in-stuttgart-100.html (Stand: 14.4.2022) 8 Vgl. Elena Markus: „München oder Die Heimatliebe ins Karnevaleske treiben“, in: Stephan Trüby u. a. (Hg.): Bayern, München – 100 Jahre Freistaat. Eine Raumverfälschung, München 2019, S. 358–368 , hier S. 361 9 Vgl. fahr(T)raum: „Der ‚Ur-Käfer‘ im fahr(T)raum Mattsee – ein KdF-Wagen aus dem Jahr 1942“, www.fahrtraum.at/der-ur-kaefer-im-fahrtraum-mattsee-ein-kdf-wagen-aus-dem-jahr-1942 (Stand: 15.2.2022) 10 Zum Idealbild der (post-)industriellen produktiven Stadt vgl. Dieter Läpple: „Perspektiven einer produktiven Stadt“, in: Klaus Schäfer (Hg.): Aufbruch aus der Zwischenstadt – Urbanisierung durch Migration und Nutzungsmischung, Bielefeld 2018, S. 151–175, hier S. 172 11 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität – Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012; Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten – Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017 12 Vgl. Christine Baumgärtner: Der Regionale Landschaftspark – Informelles Planungsinstrument und Entwicklungsstrategie am Beispiel der Region Stuttgart. Prozess und Wirkungen, Stuttgart 2015, S. 158 13 Martin Roth: „Planen und Bauen als Kulturereignis“, in: Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH (Hg.): Auf dem Weg zur IBA 2027 – StadtRegion Stuttgart, Stuttgart 2019, S. 56–61, hier S. 61 14 Zur Deindustrialisierung in der Region Stuttgart vgl. Tilman Harlander, Johann Jessen: „Stuttgart – polyzentrale Stadtregion im Strukturwandel“, in: Klaus Brake, Jens S. Dangschat, Günter Herfert (Hg.): Suburbanisierung in Deutschland – aktuelle Tendenzen, Opladen 2001, S. 187–199, hier S. 191 15 N. A. Miljutin: Sozgorod – Die Planung der neuen Stadt (1930), übers. v. Kyra Stromberg, Basel 1992, S. 66–71 16 Vgl. Refrain des Songs „300 PS (Auto…)“ der Band Erste Allgemeine Verunsicherung auf dem Album „Nie wieder Kunst“ von 1994 17 Vgl. Christian Jess: „Regierung erhöht Pendlerpausche – Das müssen Sie wissen!“, in: Auto Bild, 25.2.2022, www.autobild.de/artikel/pendlerpauschale-aktuell-21251949.html#654160212 (Stand: 14.4.2022) 18 Vgl. Forum Ökologisch-Soziale Marktwirschaft e. V.: FÖS-Themenpapier: Entfernungspauschale reformieren – sozial und ökologisch (2016), foes.de/pdf/2016-10-Themenpapier-Entfernungspauschale.pdf (Stand: 1.4.2022) 19 Vgl. Thomas Sieverts: Zwischenstadt – zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Basel 1997, S. 15, 152 20 Ebd., S. 16, 148 21 Vgl. Vera Vicenzotti: Der „Zwischenstadt“-Diskurs – Eine Analyse zwischen Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt, Bielefeld 2011 22 Verband Region Stuttgart: „Flächenstruktur“, www.region-stuttgart.org/information-und-download/region-in-zahlen/flaechenstruktur (Stand: 21.4.2022) 23 Vgl. Baumgärtner 2015 (wie Anm. 12), S. 157 f. 24 Volker Hassemer und Thomas Sieverts im Gespräch: „Berlin war schon immer ein Gewebe von unterschiedlichen Städten“, in: Arno Brandlhuber, Florian Hertweck, Thomas Mayfried (Hg.): Dialogic City – Berlin wird Berlin, Berlin 2015, S. 64–73, hier S. 69 25 Ebd. 26 Elke Gregori, Holger Haas, Walter Rogg: „Die Geburt einer Idee – Wirtschaftsförderung und Verband Region Stuttgart als Akteure“, in: Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH 2019 (wie Anm. 13), S. 16–23, hier S. 18 27 Vgl. Liane Lefaivre: „L’architecture du réalisme hideux“, in: Le carré bleu 2 (1988), S. 31–36; Liane Lefaivre: „‚Dirty Realism‘ in der Architektur“, in: archithese 1 (1990): Neue Ansichten – Dirty Realism, S. 14–21 28 Roland Ostertag (Hg.): Stuttgart soll schöner werden – Warum muss so vieles so hässlich sein. Wettbewerb der Stiftung Architekturforum Baden-Württemberg, Stuttgart 2007 29 Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung – Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1985, S. 12 30 Hannes Meyer: „Die Neue Welt“, in: Das Werk 13/7 (1926), S. 205–224, hier S. 221 f. 31 Markus 2022 (wie Anm. 4), S. 28 32 Vgl. Georg Lukács: „Kunst und objektive Wahrheit“ (1934), in: Ders.: Kunst und objektive Wahrheit – Essays zur Literaturtheorie und -geschichte, Leipzig 1977, S. 63–112, hier S. 85 f.; Markus 2022 (wie Anm. 4), S. 35 33 Douglas 1985 (wie Anm. 29), S. 54 34 Arno Lederer, Werner Sobek: „Eine IBA für Stuttgart und die Region“, in: Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH 2019 (wie Anm. 13), S. 174–176, hier S. 176 35 Vgl. Kommentarseite zur Meldung „Bücherwürfel Stadtbibliothek Stuttgart eingeweiht“, in: Baunetz, 25.10.2011, www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Stadtbibliothek_Stuttgart_eingeweiht_2354719.html (Stand: 4.4.2022) 36 Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie (1937), Frankfurt a. M. 2021, S. 5 37 Ebd., S. 23 f. 38 Hélène Frichot: „Schmutzige Theorie – Architektur aufmischen“, in ARCH+ 246: Zeitgenössische feministische Raumpraxis (Dezember 2021), S. 34–39, hier S. 35 39 Ebd. 40 Hélène Frichot: Dirty Theory – Troubling Architecture, Bamberg 2019, S. 21, Übersetzung aus dem Englischen durch ARCH+ 41 Ebd., S. 57 42 Vgl. Nerea Calvillo: „Political airs – From monitoring to attuned sensing air pollution“, in: Social Studies of Science 48/3 (2018), S. 372–388, hier S. 375 43 Nerea Calvillo: „Digital Visualizations for Thinking with the Environment“, in: Janet Vertesi, David Ribes (Hg.): digitalSTS – A Field Guide for Science & Technology Studies, Princeton 2019, S. 61–76, hier S. 70
| Erscheinungsdatum | 30.06.2022 |
|---|---|
| Zusatzinfo | zahlreiche farb. Abbildungen |
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Maße | 235 x 297 mm |
| Gewicht | 850 g |
| Einbandart | geklebt |
| Themenwelt | Technik ► Architektur |
| Schlagworte | Andreas Hofer • Arbeit • Architektur • Automobilindustrie • Internationale Bauausstellung • Produktion • Silicon Valley • Stadtplanung • Stadtraum • Stuttgart • Transformation • Universität Stuttgart |
| ISBN-10 | 3-931435-71-7 / 3931435717 |
| ISBN-13 | 978-3-931435-71-4 / 9783931435714 |
| Zustand | Neuware |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
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