Geschmackssache oder Warum wir kochen (eBook)
400 Seiten
tredition (Verlag)
9783347088689 (ISBN)
Günther Henzel (OStR) war 33 Jahre an der Gewerbeschule 11 (heute BS 03) in Hamburg als Klassenlehrer in Köcheklassen und als Lehrer der Hotelfachschule im Fach »Ernährung und Gesundheit« tätig. Er leitete 30 Jahre einen Prüfungsausschuss für Köche, war Dozent im Küchenmeisterkurs für »Ernährungslehre/Naturwissenschaft« (bis 2019) und viele Jahre Beisitzer im Lehrerprüfungsamt. Seit dem Lehramtsstudium mit Nebenfach Humanbiologie beschäftigte er sich mit Fragen zu den entwicklungsgeschichtlichen Anfängen des Kochens und entwickelte für Unterrichtszwecke ein theoretisches Modell der Speisenherstellung, das Rohstoffe nach Primär- und Sekundäranteilen ordnet und in funktionelle Beziehungen stellt. Im »Köchenetz« (Internetportal) hat er mehrere Aufsätze zum Thema Ernährung- und Gesundheit, Aspekte der Zubereitung sowie zum Gemüse- und Fleischverzehr veröffentlicht. 2011 erschien von ihm ein Buchbeitrag in: 'Die Vitamine liegen unter der Schale' (Hg. STOMPOROWSKI) zusammen mit Prof. Dr. Wolfgang BÜRGER zum Thema »'Tiefes' Verstehen von Unterrichtsinhalten als Voraussetzung für die Entwicklung von Sachkompetenz«.
Günther Henzel (OStR) war 33 Jahre an der Gewerbeschule 11 (heute BS 03) in Hamburg als Klassenlehrer in Köcheklassen und als Lehrer der Hotelfachschule im Fach »Ernährung und Gesundheit« tätig. Er leitete 30 Jahre einen Prüfungsausschuss für Köche, war Dozent im Küchenmeisterkurs für »Ernährungslehre/Naturwissenschaft« (bis 2019) und viele Jahre Beisitzer im Lehrerprüfungsamt. Seit dem Lehramtsstudium mit Nebenfach Humanbiologie beschäftigte er sich mit Fragen zu den entwicklungsgeschichtlichen Anfängen des Kochens und entwickelte für Unterrichtszwecke ein theoretisches Modell der Speisenherstellung, das Rohstoffe nach Primär- und Sekundäranteilen ordnet und in funktionelle Beziehungen stellt. Im »Köchenetz« (Internetportal) hat er mehrere Aufsätze zum Thema Ernährung- und Gesundheit, Aspekte der Zubereitung sowie zum Gemüse- und Fleischverzehr veröffentlicht. 2011 erschien von ihm ein Buchbeitrag in: 'Die Vitamine liegen unter der Schale' (Hg. STOMPOROWSKI) zusammen mit Prof. Dr. Wolfgang BÜRGER zum Thema »'Tiefes' Verstehen von Unterrichtsinhalten als Voraussetzung für die Entwicklung von Sachkompetenz«.
Vorwort und Einleitung
Nicht der Verstand entscheidet darüber, was uns schmeckt und unserem Organismus guttut, sondern unser Sensorium. Das, was wir als appetitlich und schmackhaft bezeichnen, sind die bewusst erlebten Wirkungen molekularer Bestandteile der Nahrung. Diese Geschmackseindrücke sind die gefühlten, sensorischen »Informationen« über die Qualität des Essens. Sie werden in der Regel erinnert. Diese Fähigkeit, den »Nahrungswert« bereits im Mundraum zu erkennen, ist das Ergebnis einer evolutionären Entwicklung, die vor Milliarden Jahren mit der Reizerkennung an den Membranen einzelliger Organismen begann. An der Wahrnehmung vorteilhafter Nahrung – wenn wir schmecken und fühlen – ist der Verstand nicht beteiligt.
In der Regel verzehren wir Nahrungsrohstoffe nicht naturbelassen, sondern zubereitet. Diese von uns selbst hergestellten Produkte sind physiologische Rohstofftransformationen, die unserem Organismus Ernährungsvorteile bringen. Dabei steuern und verstärken die im 'Nahrungsgedächtnis' abgelegten sensorischen Werte für »gute molekulare Zusammensetzungen« unsere Handlungsziele. Bei der Herstellung dieser Geschmacksqualitäten hat der Verstand lediglich die Funktion eines 'Erfüllungsgehilfen', der die Anteile und Prozessschritte kennt und in Handlungen umsetzt. Was wir als »Kochen« bezeichnen, ist damit eine »Teamleistung« von Sinn und Verstand – von sensorischer Kontrolle und Anwendung erlernter Fertigkeiten (die Kenntnisse voraussetzen). Die Genusswerte einer Zubereitung sind daher die Leistung dieses Tandems. Ihr breites sensorisches Spektrum belegt sowohl unseren Bedarf an Nahrungsvielfalt als auch die Varianz genetisch begründeter Geschmacksvorlieben.
Mit dem Einsatz von Feuer als Garwerkzeug vor etwa 2 Millionen Jahren setzten die Vorfahren des modernen Menschen eine Ernährungs(r)evolution in Gang, die Rohstoffe durch Gar- und Kombinationstechniken entgiftete, leichter verdaulich, bekömmlicher und schmackhafter machte. Diese physiologischen Hintergründe, die das Zubereitungssystem Kochen begründen, sollten Fachleuten, den Köchen, bekannt sein. Deshalb gehörten diese evolutionären und sinnesphysiologischen Inhalte auch in den Unterricht von Kochauszubildenden. Sie sind Teil der theoretischen Grundlagen für einen fachlich mündigen Experten der Nahrungszubereitung. Letzteres wird in Kapitel III an verschiedenen Zubereitungsbeispielen betrachtet, die exemplarisch für das »innere System« der Rohstoffkombination stehen.
Will man die Bedingungen für den vor etwa zwei Millionen Jahren begonnenen Ernährungswandel unserer homininen Vorfahren rekonstruieren, kommen derzeit nur zwei Wissensbereiche in Frage, denen wir hierzu brauchbare Angaben entnehmen könnten: Zum einen sind das neuere Erkenntnisse zur prähistorischen Entwicklung des Menschen (seiner Urgeschichte) und zum anderen die Ernährungsweisen heute lebender indigener Populationen. Letztere garen Rohstoffe z. B. mit erhitzten Steinen in Erdmulden – eine Technik, die uns einen Blick weit zurück in die Anfänge des Garens und Zubereitens erlaubt. Da man Zubereitetes (gezielt kombinierte Nahrungskomponenten) aus Zeiten, in denen Homo erectus lebte, nicht mehr ausgraben und analysieren kann (GOREN-INBAR 2014),1 bleiben für die Rekonstruktion dieser Aktivitäten im Wesentlichen nur Hypothesen und plausible Deutungen.
Auch lässt sich nicht mehr im Nachhinein erforschen, wann und warum die Vorläufer von Homo sapiens angefangen haben, Rohstoffe am Lagerfeuer zu rösten, und neue sensorische Präferenzen entwickelten. Ebenso wenig wissen wir etwas über ihre mentalen Fähigkeiten und Motive, dies zu tun. Hinzu kommt, dass solche gravierenden Nahrungsmanipulationen nicht auf isolierte, monokausale »Ursache-Wirkung-Sachverhalte« zurückgeführt werden können: Sie sind das Resultat sich wechselseitig bedingender molekularbiologischer, sensorischer, epigenetischer, klimatischer und kognitiver Faktoren. Offen bleibt in diesem komplexen synergistischen Geschehen, was Ursache und was Folge war. Auch besteht bei der Rekonstruktion von zeitlich weit zurückliegenden Ereignissen die Gefahr des Präsentismus – des Hineinlesens der Gegenwart in die Vergangenheit, um dann wiederum aus der Vergangenheit die Gegenwart zu erklären.
Schließlich wird es in Kapitel IV um die unterrichtliche Umsetzung dieser Inhalte nach lehr-/lerntheoretischen Gesichtspunkten gehen. Die Schüler sollen nicht nur wissen, sondern auch verstehen, warum sie Rohstoffe so bearbeiten, wie sie es tun. Erst diese grundlegenden Einsichten lassen Schüler jene Faktoren erkennen, die zur größten kulturellen Errungenschaft der Menschheit geführt haben: zur Kochkunst.
Inhaltsschwerpunkte
Zu Teil I
Obwohl sich die anthropologische Forschung auch mit Ernährungsaspekten im Laufe der menschlichen Stammesgeschichte (Hominisation) befasst,2 wird die Frage, warum die Vorläufer des modernen Menschen zum Coctivor,3 »den kochenden Menschen«, wurden, nicht untersucht (POLLMER 2007). Die Anfänge und Entwicklungen von Zubereitungsverfahren, die unsere modernen Kochtechniken begründen, liegen nach wie vor im Dunkeln. Für das, was unsere Urahnen gegessen haben, gibt es zwar Hinweise (HART 2015), (HIRSCHBERG 2013), (STRÖHLE 2008), nicht aber für die Auslöser ('den inneren Impuls') ihrer Ernährungsumstellung. Selbst indigene Kulturen, die ihr Essen in Glut, auf heißen Steinen (in Erd-/Garmulden), in heißem Sand und heißer Asche garen, verfügen bereits über diese Gartechniken. Was sie antrieb, ihre Nahrung auf diese Weise zu bearbeiten, wissen wir nicht. Zwischen der Entwicklung erster Steinwerkzeuge (Altsteinzeit)4 und der 'Garmuldentechnik' besteht eine unbekannte Entwicklungsphase von mehr als einer Million Jahren. Vieles spricht dafür, dass die Vor- und Frühmenschen (Australopithecinen / Homo erectus) parallel zur Steinwerkzeug-Entwicklung Rohstoffe gezielt bearbeitet haben. Homo heidelbergensis, der vor etwa 600 000 Jahren gelebt hat, kannte vermutlich bereits Feuergartechniken, die der archaische Homo sapiens (vor etwa 200 000 Jahren) mit seiner größeren Verstandesleistung weiter verfeinerte. Komplexe Kochtechniken, in denen verschiedene Rohstoffe gleichzeitig (und dosiert) gegart wurden, hat vermutlich erst der moderne Mensch erfunden – Homo sapiens, der vor etwa 70 000–40 000 Jahren Europa besiedelte. Im Zuge der Sesshaftwerdung (im fruchtbaren Halbmond vor etwa 10 000 Jahren)5 erlangten Gartechniken jene Kulturstufe, die wir heute als »Kochen« bezeichnen. Ackerbau und Viehzucht, neue Nutzpflanzen und Lagertechniken und die Verfügbarkeit von Rohstoffen im Wechsel der Jahreszeiten führten schrittweise zu einer Kultur der Nahrungszubereitung, deren Existenz uns heute als etwas Selbstverständliches, als »schon-immer-zum-Menschen-Gehörendes« erscheint.
Die Anfänge der Gartechniken gehen weit in die Entwicklungsgeschichte der Frühmenschen zurück (beginnend vermutlich bei Homo erectus / Homo ergaster) (HOFFMANN 2014)6 und stehen auch mit Verstandesleistungen in Zusammenhang, die diese zur Herstellung von Werkzeugen und Erhaltung von Feuerstellen befähigten. Obwohl unsere nächsten Verwandten, Schimpansen und Gorillas, vielfältige Rohstoffbearbeitungen kennen, haben sie keine Gartechniken entwickelt. Das tat nur jene Tribus,7 (Lewin 1995) die hin zu Homo sapiens führt (die Hominini). Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer davon liegt vermutlich auch in der Handanatomie des Menschen: Dieser kann seinen Daumen zu den anderen Fingern in Opposition bringen (Opponierbarkeit), Menschenaffen können das nicht. Dieser anatomische Vorteil ermöglichte einen präziseren Einsatz der Finger (Pinzettengriff), förderte die Entwicklung von Fertigungsgeschick und trug u. a. auch zur Entwicklung des Gehirns bei, da jede Handleistung eine neuronale Verschaltungsstruktur voraussetzt. Auch fördern feinmotorische Herausforderungen und Übungen das Nervenwachstum im Hippocampus (ROTH 2010),8 da hierbei stets mehrere Sinne (neben dem Tastsinn u. a. auch der Seh- und Gehörsinn) involviert sind.
Zielgerichtetes Vor- und Zubereiten setzt geistige Leistungen voraus, da komplexere Arbeitsschritte eine zeitliche Abfolge haben, die entsprechend (vor)bedacht sein muss – ebenso muss das Garziel bekannt sein. Da kognitive Leistungen auch im Verhältnis vom Gehirnvolumen zur Körpergröße stehen, hatte Homo erectus mit seinen anfänglichen 650 cm3 (später bis 1250 cm3) im Verhältnis zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, deutlich mehr Hirnmasse (ROTH 2010). Deren Gehirn wiegt nur etwa 400 Gramm.9 Die Zunahme der Gehirngröße bei Homo erectus wird vor allem mit dem vermehrten Verzehr von Fleisch und gekochter Nahrung begründet...
| Erscheint lt. Verlag | 17.11.2020 |
|---|---|
| Illustrationen | Laura Münch |
| Verlagsort | Ahrensburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
| Technik | |
| Schlagworte | Entstehung des Kochens • Ernährung • Evolution des Geschmacks • Feuergaren • Gehirnfunktionen • geschmacksrezeptoren • Homo erectus • Kochkunst • Lehr-/Lerntheorie des Kochens • Nahrungsgedächtnis • Opioide • Rezeptorsignal und Wahrnehmung • Sensorik • Speise • Sprachentwicklung durch Kochtechniken |
| ISBN-13 | 9783347088689 / 9783347088689 |
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