Zwei am Puls der Erde (eBook)
Die Angst vor der Klimakrise überschattet immer mehr ihren Alltag. Deshalb brechen Theresa Leisgang und Raphael Thelen zur größten Reise ihres Lebens auf: von Südafrika bis zum nördlichen Polarkreis, 20.000 Kilometer über Land, einmal quer durch alle Klimazonen. Sie wollen herausfinden: Wie gehen Menschen schon heute mit der Klimakrise um? Und was können wir tun? Doch bald zwingt die Pandemie sie zur Einsicht, dass nicht nur das Klima kollabiert, und die beiden begreifen, dass sie selbst Teil des patriarchalen Systems sind, das so viele globale Krisen verursacht. Ein Weiter-so ist keine Option mehr, stattdessen entdecken sie auf ihrer Reise neue Handlungsmöglichkeiten und kehren schließlich mit einer Antwort zurück, die ihr Leben für immer verändert.
Theresa Leisgang ist ausgebildete Journalistin und Campaignerin. Sie erkundet die Verbindungen zwischen Menschenrechten und Klimakrise, zwischen Landwirtschaft und Artensterben, zwischen indigenem Wissen und imperialer Lebensweise. Wenn sie recherchiert, wie Ölkonzerne den Amazonas ausplündern, auf der Sea-Watch im Mittelmeer kreuzt oder mit Kapitänin Carola Rackete Positionen zu Klimagerechtigkeit erarbeitet, dann sieht sie darin die vielen Seiten der gleichen Aufgabe: ein gutes Leben für alle auf unserer geteilten Erde.
Day Zero
In der Ferne sehen wir die Buschbrände lodern. Wir sind in Kapstadt angekommen und stehen auf dem Balkon unserer Unterkunft. Die Stadt ist von einer hohen Bergkette umgeben, Du Toitskloof, Franschhoek, all die sonst grünen Hänge, sie stehen jetzt in Flammen. Orangerot brennen die Feuer im schwindenden Licht der hereinbrechenden Nacht, ich kann nicht ausmachen, wo die Rauchschwaden aufhören und wo die Wolken anfangen. Ein mulmiges Gefühl packt mich, ich gucke zu Theresa rüber, es scheint ihr ähnlich zu gehen. Wir wollten dahin, wo es brennt, wo die Klimakrise heute schon spürbar ist und kein Phänomen der Zukunft. Dass es so schnell gehen würde, dass die Welt rund um Kapstadt gerade buchstäblich in Flammen steht, hatte ich nicht erwartet. Es geht los.
Wir sind hergekommen, weil die Bewohnerinnen der Stadt in den vergangenen Jahren etwas erlebt haben, das vielen Orten weltweit noch bevorsteht: Day Zero, der Tag, ab dem die Wasserleitungen trocken bleiben. Barcelona war zuvor fast an diesen Punkt gekommen, ebenso wie São Paulo und Beijing, die sich mit demselben Problem konfrontiert sahen. Doch nirgends war die Situation derart eskaliert wie in Kapstadt. Die Pegelstände der umliegenden Stauseen fielen wegen einer anhaltenden Dürre erst auf die Hälfte der normalen Füllhöhe, dann auf ein Drittel. Als es immer noch nicht regnete, verkündete die Stadtregierung 2018: Bald drehen wir den Haushalten die Wasserhähne ab. Der Notfallplan: zweihundert Wasserstellen einrichten, an denen jede Bürgerin pro Tag einen Kanister holen könne, bewacht von Soldaten, die aufpassen, dass niemand zu viel von dem nimmt, was eigentlich frei verfügbar und selbstverständlich sein sollte: Wasser.
Die damalige Premierministerin des Westkaps Hellen Zille sagte, keine Großstadt habe seit dem Zweiten Weltkrieg oder den Terroranschlägen von New York mit einer vergleichbaren Bedrohung auskommen müssen: Krankheiten, Konflikte und Gewalt. »Die Frage, die meine wachen Stunden dominiert, ist: Wenn Day Zero kommt, wie machen wir Wasser zugänglich und wie verhindern wir Anarchie?« Doch es zeigte sich in den folgenden Monaten: Ihre Angst war unbegründet.
*
Ayakha Melithafa ist siebzehn und das Gesicht der südafrikanischen Klimabewegung. Raphael und ich treffen sie und ihre Freundin Lisa Mathiso in der Nähe ihrer Schule im Stadtteil Khayelitsha. Am Rande einer Straßenkreuzung stehen ein paar Wochenmarktstände, Braai-Grills, Gemüseverkäuferinnen, etwas abseits eine Pizza-Bude, wir stellen uns in die Schlange. Aus einem umfunktionierten Wohnwagen heraus nimmt eine Frau die Bestellungen an: Tropical Pizza, Khalitsha Pizza, Chicken Mayo Pizza, Rasta Pizza. Ich frage Ayakha und Lisa, was sie essen wollen. Eine mittlere Pizza kostet 95 Rand, etwas mehr als fünf Euro, nichts, was sich die Mädels sonst leisten würden. Wir bestellen zwei Mal Minced Meat und eine Greek Pizza. Ayakha sagt, sie hat kein Problem damit, Fleisch zu essen. »Die Klimakrise ist eine Systemkrise. Es nervt, wenn alle immer auf individuellem Konsum rumhacken«, sagt sie. »Der Wandel muss viel größer sein als das.«
Während wir warten, gucke ich sie an und denke, mit ihrer gebügelten Bluse und der perfekt sitzenden Jeans könnte sie eine angehende Unternehmerin sein. Gleichzeitig wirken sie und Lisa auch noch so jung: Die beiden stecken die Köpfe zusammen und kichern, klatschen sich dann gegenseitig in die Hände und sagen einen Spruch auf, den ich nicht verstehe, weil er in ihrer Muttersprache Xhosa ist. Am Ende drehen sie sich um und geben sich einen Klaps auf den Po, bevor sie in schallendes Gelächter ausbrechen. Als unsere Pizzabestellungen fertig sind, finden wir einen schattigen Platz auf einer Bank auf der anderen Straßenseite. Wir setzen uns hin und essen, die beiden erzählen von den letzten Jahren. Als Teil einer Delegation besuchte Ayakha vergangenes Jahr das Weltwirtschaftsforum in Davos, wo sie Greta Thunberg kennenlernte. Gemeinsam mit ihr und vierzehn anderen Jugendlichen reichte sie beim UN-Kinderrechtskomitee eine Beschwerde gegen Industrienationen wie Deutschland ein, weil sie mit ihren Emissionen die Klimakrise befeuern und die Zukunft junger Menschen bedrohen. Aufgewachsen ist sie am Rande von Khayelitsha, einem Township und damit einem jener Viertel der Stadt, in denen das ehemalige Apartheid-Regime nicht-weiße2 Menschen gezwungen hatte, fernab der Innenstadt unter widrigen Umständen zu leben. Ayakha ist lange nach dem Ende der Apartheid geboren. Aber bis heute fehlt es in den »Cape Flats«, in der Ebene vor dem wohlhabenden Tafelberg mit seinen schicken Villen und grünen Vorgärten, an grundlegender Infrastruktur wie Wasserleitungen, Stromversorgung, öffentlichem Nahverkehr und Krankenhäusern. Nach Davos schaffen es sowieso schon nur wenige. Mit Startvoraussetzungen wie denen von Ayakha, denke ich – das machen nicht viele.
*
Theresa schmeißt die leeren Pizza-Kartons in den Müll. Gemeinsam mit Ayakha und Lisa entscheiden wir, zu den Bränden rauszufahren, um uns selbst ein Bild davon zu machen. Wir steigen ins Auto, der Weg führt durch Wellblechhütten-Viertel. In der ganzen Gegend gebe es nur zentrale Wasserstellen, erzählt Lisa, wenn die ausfielen, müssten die Menschen mit Kanistern in benachbarte Viertel laufen und da für Wasser anstehen. Das Gefühl von Wasserknappheit kennen die Bewohnerinnen nicht erst seit den vergangenen Jahren. »Wie war es für dich in der Wasserkrise?«, frage ich Lisa, und sie fängt an zu erzählen.
»Irgendwann kam einfach kein Wasser mehr aus dem Hahn. Wir haben am nächsten Tag einen großen Eimer drunter gestellt und laufen lassen, und als der voll war, stoppte es. Da wussten wir: zwanzig Liter, so viel kriegen wir pro Tag.« Ihre Großmutter begann, das kostbare Gut streng zu rationieren. Jede erhielt zwei abgefüllte Flaschen, das musste reichen, um sich zu waschen und zu trinken, fünf Liter behielt sie für den Haushalt zurück – vorausgesetzt, es kam überhaupt Wasser aus der Leitung. An manchen Tagen blieben die Hähne trocken. »Früher war ich fast immer zu Hause, aber das war jetzt kein gesunder Ort mehr. Ich hab dann angefangen, mehr auf der Straße rumzuhängen«, sagt Lisa. Schließlich bekam sie einen juckenden Ausschlag am ganzen Körper, bis hoch ins Gesicht, kleine Bläschen, aus denen eine Flüssigkeit trat, wenn sie sie aufkratzte. »Daher habe ich noch diese Narben«, sagt sie und zeigt auf die kleinen runden Punkte auf ihren Wangen. In den Tagen vorher sei sie am Strand gewesen und vermutete, das Wasser dort sei der Grund dafür. Der Arzt, der sie untersuchte, erklärte ihr, es komme von Bakterien im Meerwasser. »Und dann hat er noch dumme Witze gemacht: ›Vielleicht mag der Strand dich auch einfach nicht, vielleicht solltest du einfach nicht mehr schwimmen gehen.‹ Ich habe also erst mal gedacht, es läge an mir«, sagt Lisa. Doch bald darauf bekam ihre Cousine die gleichen Pusteln, und dann wurden immer mehr Menschen um sie herum krank, ohne am Strand gewesen zu sein. Sie begriffen, dass es am Leitungswasser lag. Es war verunreinigt. Sie kochten es ab, manche mischten sogar chlorhaltige Bleiche unter, um die Keime abzutöten, aber es half nicht immer. Ayakha hat jüngere Geschwister, denen sie einschärften, das Wasser nicht einfach zu trinken. Ihr kleiner Bruder verstand nicht, was das sollte, wenn er doch Durst hatte. Einmal nahm er unbemerkt ein Glas und bekam daraufhin schlimmen Durchfall. Ayakha erinnert sich, wie er von Tag zu Tag schwächer wurde und seine Augen begannen einzusinken. Ein Arzt konnte ihn gerade noch retten. Lisa sagt: »Ich habe mir angewöhnt, so wenig zu trinken wie möglich, habe immer eine leere Flasche mit in die Schule genommen, weil es dort auf der Toilette meist noch fließendes Wasser gab.« Ihre Großmutter, die aus gesundheitlichen Gründen eigentlich sehr viel trinken muss, nahm nur noch hier und da einen Schluck, um ihre Tabletten runter zu bekommen. Lisa und ihre Schwester fetzten sich immer wieder wegen der angespannten Lage.
»Wie lang ging das so?«, frage ich.
»Über zwei Jahre«, sagt Lisa.
*
Es fällt mir schwer, mir so eine Situation vorzustellen. Was habe ich an meinen freien Nachmittagen gemacht, als ich fünfzehn war? Wie muss sich wohl Lisas Großmutter gefühlt haben unter dem Stress, für die ganze Familie das Wasser noch viel drastischer zu rationieren als ohnehin schon? Wie viele Liter könnte ich jeden Tag sparen? Während Raphael heute Morgen Frühstück gemacht hat, habe ich mir noch die Website der Stadtverwaltung von Kapstadt angeschaut; auf www.coct.co/thinkwater kann man ausrechnen, wie viel Wasser man durchschnittlich verbraucht. Unter der Dusche heute Morgen habe ich mindestens fünf Minuten das Wasser laufen lassen, das macht fünfzig Liter, dann Zähneputzen, Händewaschen, neun Liter pro Klospülung, da komme ich schon auf knapp achtzig Liter, von denen ich keinen einzigen getrunken habe.
Ich frage Ayakha, wie sie die Zeit erlebt hat. »Es war ziemlich hart«, sagt sie. Sie wuchs in Kapstadt auf, die Schulferien verbrachte sie aber auf der Farm, die ihre Mutter etwa 200 Kilometer von Kapstadt entfernt betreibt, seit sie in Rente gegangen ist. Neben Hühnern, mit denen Ayakha, wenn sie dort ist, am liebsten ihre Zeit verbringt, besitzt die Familie vierzig Tiere: Schweine, Kühe, Ziegen. Anders als auf den großen umliegenden Betrieben, die konventionell Mais oder Zuckerrohr anbauen, gibt es auf der kleinen Farm keine Bewässerung. »Wir sind immer komplett auf den Regen angewiesen«, sagt Ayakha, und der blieb von 2015 bis 2018 aus: Die Niederschläge waren in den Jahren der Dürre so niedrig wie seit dreihundert Jahren nicht. Wenn es nicht...
| Erscheint lt. Verlag | 10.5.2021 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Technik | |
| Schlagworte | Bernd Ullrich • David Foster Wallace • Dürren • eBooks • Feminismus • Fridays For Future • Greta Thunberg • Hoffnung • Jonathan Safran Foer • Klima • Klimaangst • Klimakatastrophe • Klimazonen • kollabierende Ökosysteme • Konsumgesellschaft • Krieg • Krise als Chance • Luisa Neubauer • Minimalismus • Natur • neue Utopien • Neue Wege • Ökosysteme • Politisierung der Jugend • Reportage • Ressourcen • steigende Meeresspiegel • Überschwemmungen • Unwetter • Verzicht • Waldbrände • Widerstand • Zukunft |
| ISBN-10 | 3-641-27154-1 / 3641271541 |
| ISBN-13 | 978-3-641-27154-1 / 9783641271541 |
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