Lesen, was kommt (eBook)
168 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-26069-6 (ISBN)
Einleitung
Der gute Dinosaurier
Der Trailer des Pixar-Films Arlo & Spot (Originaltitel: The Good Dinosaur) beginnt mit einem Asteroidenfeld, in dem es von übergroßen Felsbrocken wimmelt. Ein Asteroid schießt durch den Felshaufen und stößt mit einem anderen Asteroiden zusammen, der dadurch gegen einen dritten geschleudert wird, der wiederum durch den Schwung ins Weltall schießt, direkt auf ein weit entferntes Objekt zu. Er kommt dem Objekt immer näher, und schließlich erkennt man, worauf er da zusteuert: einen blauen Planeten mit grünen Flecken und weißen Wolkenfäden. Zwischen den Szenen wird im Trailer ein Text eingeblendet: »Vor Millionen Jahren starben durch einen Asteroiden alle Dinosaurier dieser Welt aus.« Man sieht, wie der Asteroid in die Erdatmosphäre eindringt und sich glühend-orange verfärbt.
Was danach folgt, ist klar: Der Einschlag im Golf von Mexiko, Erdbeben auf der ganzen Welt, Wälder auf der nördlichen Halbkugel gehen in Flammen auf, Rauch verdunkelt den Himmel monatelang. Die Dinosaurier und viele weitere Lebewesen werden ausgelöscht. Ein wahrhaft trauriger Tag. Dieser Pixar-Film ist offensichtlich düsterer als die meisten anderen Produkte der Filmschmiede, eine Tragödie, die mit dem Untergang der großen Reptilien endet.
Oder doch nicht?
»Aber was wäre, wenn …«, wird im Trailer gefragt, und dann ist zu sehen, wie der Asteroid eine Feuerspur durch den kreidezeitlichen Himmel zieht. Grasende Giganten — Sauropoden, Dinosaurier mit Entenschnäbeln — schauen kurz auf und widmen sich dann wieder der Aufgabe, ihre hohlen Mägen mit Grünfutter zu füllen. Der Asteroid fliegt vorbei, es ist nur ein »near miss«, ein Beinahezusammenstoß, kein tödlicher Einschlag. Das Leben geht weiter. Die paradiesischen Zeiten für Dinosaurier dauern an.
Die Antwort auf die Frage »Was wäre, wenn?« ist nun die folgende: Die Dinosaurier waren vor 66 Millionen Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Herrschaft. Sie hatten die Erde mehr als 100 Millionen Jahre lang dominiert. Ohne den Asteroiden hätten die Dinos ihre Weltherrschaft fortgesetzt: T. rex, Triceratops, Velociraptor, Ankylosaurus — sie alle hätten überlebt. Neue Dinosaurier hätten sich entwickelt und die alten ersetzt. Die sich ewig wandelnde Dinosaurierparade wäre weitermarschiert. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie heute noch die Erde bevölkern.
Wir wären dann aber wohl nicht hier. Zwar entwickelten sich die ersten Säugetiere vor etwa 225 Millionen Jahren, fast zur selben Zeit wie die Dinosaurier, aber in den ersten 160 Millionen Jahren ihrer Existenz hatten die Säugetiere nicht viel zu melden. Dafür sorgten die Dinosaurier. Unsere pelzigen Vorfahren waren nur eine unbedeutende Randerscheinung in der globalen Biosphäre, meist deutlich kleiner als der kleinste Dinosaurier. Die Ursäuger waren nachtaktiv, um den herrschenden Reptilien aus dem Weg zu gehen, und huschten auf der Suche nach Nahrung, die die Dinos übrig gelassen hatten, durchs Unterholz. Unsere Verwandten in der Kreidezeit waren einem Opossum in Aussehen und Lebensstil recht ähnlich, auch wenn sie wohl eher noch kleiner waren.
Erst nachdem der Asteroid die Dinosaurier ausgelöscht hatte, hatte das Säugetier-Team eine evolutionäre Chance — und die Säuger nutzten sie, vermehrten sich rasch, bis sie die leere Ökosphäre bevölkert hatten. So wurde aus den vergangenen 66 Millionen Jahren das Zeitalter der Säugetiere. Aber all das verdanken wir jenem Asteroiden.
Wir alle — Wissenschaftler und Laien — glaubten einst, der Aufstieg der Säugetiere sei unausweichlich gewesen, wir Säugetiere seien, dank unserer großen Gehirne und unserem internen Verbrennungsmotor, der Körperwärme erzeugt, von Natur aus jenen brutalen Reptilien überlegen gewesen. Es habe eine Weile gedauert, so dachte man, aber letztendlich hätten wir die Dinosaurier verdrängt, vielleicht ihre Eier gegessen, bis sie ausgestorben waren, oder sie sonst irgendwie auf ihre Plätze verwiesen.
Das war Quatsch, wie man heute weiß. Im evolutionären Stück des Reptilienzeitalters spielten Säugetiere nur winzige Nebenrollen. Den Dinos ging es an jenem lieblichen Tag im Jahr 66 Millionen v. Chr. wunderbar, das kleine Ungeziefer zu ihren Füßen bedrohte ihre Herrschaft nicht einmal ansatzweise. Ohne den Asteroiden wäre das fröhliche Leben für sie weitergegangen, mit den Intrigen und Machenschaften der Reptilien, neue Arten hätten sich entwickelt, andere wären ausgestorben, so wie es seit Millionen von Jahren gewesen war. Es gibt kaum Anlass zur Annahme, dass wir Säugetiere aus den Schatten hervorgetreten und zu Hauptakteuren im Ökosystem aufgestiegen wären. Die Dinosaurier waren bereits da, hatten die ökologischen Nischen besetzt und nutzten die Ressourcen — erst nach ihrem Verschwinden gab die Evolution uns die Karten in die Hand.
Ohne den Asteroiden und ohne das Massenaussterben hätte es kein evolutionäres Aufblühen der Säugetiere und somit weder Sie noch mich gegeben. Daher begeisterten mich diese ersten Szenen im Filmtrailer. Pixar hatte einen Film nur über Dinosaurier gemacht und über die Welt, wie sie gewesen wäre, wenn der Asteroid vorbeigerast wäre. Nach 45 Sekunden Vorschau wusste ich, dass der Film ein Erfolg werden würde.
Der Trailer zeigte danach einen T. rex, der eine Herde Pflanzenfresser jagt und sie in die Flucht treibt, ein wildes Durcheinander riesiger Herbivoren, langhalsiger Brontosaurier und dreihörniger Triceratopse, ein typischer Tag im Mesozoikum. Doch dann traute ich meinen Augen kaum: Zum einen sahen einige dieser Tiere eher aus wie haarige Großhornbisons und weniger wie Ceratopse. Vor allem aber galoppierte in der nächsten Szene ein Brontosaurier daher, dem etwas auf dem Kopf saß — ein menschliches Kind!
Wenn der Asteroid die Erde verpasst hatte, was hatten dann Säugetiere dort zu suchen? Ok, dies war ein Pixar-Film; da erwartet man ein paar künstlerische Freiheiten (Englisch sprechende Dinosaurier zum Beispiel), aber: Gibt es irgendwelche wissenschaftlichen Hinweise, die eine zeitgleiche Existenz von Brontosauriern, Bisons und einem menschlichen Baby stützten? Wenn die Dinosaurier nicht ausgelöscht worden wären, hätten sich dann trotzdem neue Säugetierarten — Bisons und vor allem wir — überhaupt entwickeln können? Dinosaurier hielten die Säugetiere damals über mehrere Millionen Jahre klein — vor allem körperlich und in ihrem Lebensraum, dem Unterholz. Wäre es irgendwie möglich gewesen, dass Säugetiere, nach all der Zeit, auch unter der Herrschaft der großen Reptilien den evolutionären Freiraum bekommen hätten und gediehen wären?
Der britische Paläontologe Simon Conway Morris sieht zumindest eine Möglichkeit. Dinosaurier sind Reptilien und mögen es daher heiß. Aufgrund ihrer verminderten Stoffwechselrate produzieren sie kaum Eigenwärme. Solange es draußen warm ist, stellt das kein Problem dar — die Tiere können sich an ihrer Umgebung erwärmen, falls notwendig auch noch in der Sonne zusätzliche Wärme tanken. Eine lange weltweite Wärmephase ermöglichte die Dinosaurierdynastie. Damals herrschte in weiten Teilen der Welt tropisches Klima, es war eine günstige Zeit für Reptilien.
Doch vor etwa 34 Millionen Jahren änderte sich das Klima. Die Erde kühlte ab. Irgendwann begannen dann die Eiszeiten, Gletscher dehnten sich aus, und in weiten Teilen der Erde wurde es empfindlich frisch. Es gibt einen Grund, warum man hoch im Norden und tief im Süden heute keine Reptilien mehr findet — es ist dort schlicht zu kalt für sie. Conway Morris glaubt, dass diese globale Abkühlung den Säugetieren zum Aufschwung verholfen und ihre evolutionäre Verbreitung beschleunigt hätte, selbst wenn Dinosaurier noch existiert hätten. Die Dinos hätten sich in die tropischen Äquatorregionen zurückziehen und die höheren und mittleren Breitengrade verlassen müssen. So hätten die Säugetiere endlich eine evolutionäre Chance bekommen.
Mal angenommen, Conway Morris läge mit seinem Szenario richtig. Die Säugetiere hätten neue Arten gebildet und ökologische Nischen besetzt, die lange Zeit Dinosaurier eingenommen hatten, sie wären größer und vielfältiger geworden. Vielleicht hätte diese evolutionäre Diversifizierung dank der Eiszeit zu einem ebenso großen und facettenreichen Zeitalter der Säugetiere geführt wie das vom Asteroiden ausgelöste.
Aber wäre es dasselbe Zeitalter der...
| Erscheint lt. Verlag | 18.1.2018 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Schulbuch / Wörterbuch ► Lexikon / Chroniken |
| Technik | |
| Schlagworte | Geschichte • Gesellschaft • Naturwissenschaft • Wirtschaft |
| ISBN-10 | 3-446-26069-2 / 3446260692 |
| ISBN-13 | 978-3-446-26069-6 / 9783446260696 |
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