Über 160 Jahre lang war Deutschland wolfsfreie Zone, nun ist er wieder zurück und vermehrt sich jährlich um 30 Prozent. Seine Rückkehr stößt auf ein geteiltes Echo: Während er Wolfskuschlern als Projektionsfläche für romantisch-diffuse Sehnsüchte dient, ist er für Wolfshasser ein personifiziertes Unbehagen.
Der Wolfsexperte Andreas Beerlage wirft einen frischen Blick auf die Themenwelt rund um den Wolf. Warum polarisiert die Rückkehr der Wölfe so sehr? Sind Wölfe wirklich gefährlich? Es gibt einen Weg, Natur und Wildnis in unser modernes Leben zu integrieren.
Mit umfangreicher Wolf-Populationskarte Deutschlands.
- Zwischen Faszination und Angst
- Alles, was man über Wölfe wissen muss
- Ist in Deutschland Platz für Wölfe?
- DAS Buch zur Versachlichung der aktuellen Debatte
Andreas Beerlage, geboren 1965, ist freier Journalist mit Schwerpunkten in Natur- und Wissenschaftsthemen (u. a. für Stern, GEO Spezial, Spiegel-Verlag, ManagerMagazin, Mare, ZEIT). Er lebt in Hamburg und schreibt mit Vorliebe Artikel mit Tieren in der Hauptrolle: über Homöopathie für Kühe; über Waschbären, die seltene Sumpfschildkröten gefährden; über die Rückkehr der Wilderei; über die Invasion der Tigermücke und über Nandus vor Lübeck. Darüber hinaus folgt er seit mehr als 15 Jahren beruflich wie privat den Fährten der zurückgekehrten deutschen Wölfe. Er war Mitbegründer und Chef vom Dienst der (inzwischen eingestellten) Zeitschrift „WALD“, die 2014 für LEAD- und ADC-Award nominiert wurde.
1. GEKOMMEN, UM ZU BLEIBEN?
Die Rückkehr der Wölfe
Ein Eichelhäher zetert. Eine Granate explodiert. Es ist sehr heiß, über 30 Grad. Hochgewachsene Fichten und Kiefern spenden etwas Kühle in ihrem Schatten. Im Sommer 2015 spaziere ich auf einem kleinen Waldweg ganz im Osten der Republik, bei Rietschen. Die bekannteren Orte hier in der Gegend sind Bad Muskau und Görlitz. Mein Weg führt südlich entlang des Truppenübungsplatzes Oberlausitz, der zur Muskauer Heide gehört, einer großflächigen, zum Teil dicht bewaldeten Sanddünenlandschaft an der sächsischen Grenze zu Polen. In regelmäßigen Abständen aufgestellte Warnschilder legen mir nahe, nicht in nördlicher Richtung in den Kriegsschauplatz einzudringen.
Das Wasser des Flüsschens Raklitza glitzert hinter dichtem Blattwerk. Ein fremd klingender Name? Rietschen liegt im Sorbenland, dem Land der deutschen Slawen. Ich höre mehr Gedonner hinter den Nadelbäumen. Doch es ist nicht die Tatsache, dass gar nicht so fern von mir Krieg gespielt wird, die mir an diesem Sommertag ein unpassend mulmiges Gefühl gibt. Es ist die Anwesenheit des Wolfes. Ich weiß genau, dass einer der Räuber hier lauern könnte oder gleich mehrere. Die Lausitz ist das Kernland der deutschen Wölfe, seit Ende der 1990er-Jahre.
Vielleicht duckt er sich hinter diesen hoch aufgeschossenen Fichten, hinter den Schildern, irgendwo dort im Heidesand, seine ausdrucksvollen Augen auf mich gerichtet, mit der leuchtend gelben Iris, dunklen Pupillen und einem markanten schwarzen Ring herum, wie mit einem Kajalstift gemalt.
Natürlich begegnet mir keines der Tiere, sie sind ja sehr vorsichtig. Und sie werden sich schon aus dem Staub machen, wenn sie mich hören, sehen, riechen, denke ich. Aber was, wenn ein Rudel jetzt auftauchte? Wie würde ich mich dann verhalten? Ich habe mein altes verrostetes Opinel-Taschenmesser dabei. Und weiß selbst, wie albern das ist.
Nach 20 Minuten Spaziergang stehe ich vor einem kleinen Denkmal aus Naturstein, einer Pyramide von Findlingssteinen: »Jahr 2000 – Wölfe in Deutschland«. Der Wald öffnet sich hinter dem Gedenkstein zum Halbrund eines Erdsturzes an einem sandigen Hang, etwa so groß wie ein Tennisplatz. Im Frühling 2000 kamen hier in der Muskauer Heide, ausgerechnet auf einem Truppenübungsplatz, die ersten deutschen Wölfe seit mindestens 100 Jahren zur Welt. Manche reden sogar von 150 wolfsfreien Jahren. So genau ist das nämlich nicht zu fassen.
Früher war der Wolf überall in deutschen Landen heimisch, davon sprechen unzählige Orts- und Flurnamen: Wolfstal, Wolfsbruch, Wolfsberg, wer mag, kann die Liste gerne vervollständigen. Um 1850 herum gab es dann, nach intensiver Jagd auf den Räuber, nur noch ein paar Einzeltiere, wohl meist auf der Wanderschaft von Polen in Richtung Westen. Der stille Zuzug ist nie versiegt, doch solche Einzeltiere hatten keine große Lebenserwartung.
In der DDR stand der Wolf zum Abschuss frei, vielleicht auch deshalb, weil man Angst hatte, die Grauhunde könnten den hohen Parteifunktionären auf staatlicher Jagd das Wild vor der Büchse wegfressen. Und wenn ein Tier dann einmal die Westwanderung durch den Arbeiter- und Bauernstaat schaffte, war doch am Eisernen Vorhang endgültig Schluss.
Es gibt allerdings Gerüchte, dass sich hin und wieder ein Exemplar an den Selbstschussanlagen vorbeimogeln konnte. So ganz »wolfsfrei« waren die hiesigen Breiten also nie. Neben dem legendären niedersächsischen »Würger vom Lichtenmoor« (er wird uns in Kapitel 3 das Grausen lehren) wurden von 1948 bis 1991 immerhin 24 Wölfe auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland geschossen, 13 davon auf dem der ehemaligen DDR.
Nach dem Mauerfall waren die Wölfe dann in ganz Deutschland strengstens geschützt, seit 1992 im Rahmen einer rigiden EU-Richtlinie, die das Bundesnaturschutzgesetz umsetzt. Die BRD hatte den Wolf schon früher, nämlich 1980, unter Schutz gestellt.
Doch es brauchte noch ein Weilchen, bis sich der neue deutsche Schutzstatus nach dem Mauerfall in polnischen Wolfskreisen herumsprach. Mitte der 90er mehrten sich dann Nachrichten von gastronomischen Stippvisiten über die Neiße. Die Wölfe genehmigten sich ein Hirschkalb oder ein junges Wildschwein und machten sich schnell wieder aus dem Staub.
Ende der 90er siedelte sich dann ein polnisches Wolfspaar in der Muskauer Heide an, im Frühjahr 2000 warf die Fähe – das Weibchen – die ersten Welpen »Made in Germany« seit einer kleinen Ewigkeit.
Sie waren vier an der Zahl, 2001 kamen zwei Geschwister hinzu. Die Elterntiere dieses »Muskauer Heide-Rudels«, das sich 2005 auflöste, waren beide aus dem nordöstlichen Polen ausgewandert und trafen sich vermutlich schon 1998 auf dem Truppenübungsplatz. Sie konnten ihre junge Liebe eine Zeit lang geheimhalten.
Zwei dieser sechs Welpen bekamen später, nachdem sie eingefangen und für Forschungszwecke mit Sendern ausgestattet wurden, die Kurznamen FT1 und FT3. F steht für »Female«, T für »Telemetrie«. Die Kosenamen der Wolfsforscher klangen hingegen ein bisschen weniger kurz angebunden und auch viel freundlicher: »Sunny« und »Einauge«.
Diese beiden gelten als Urmütter der deutschen Wolfspopulation, sie schnappten sich Wolfsjungs – Sunny einen Burschen, der aus Westpolen angelaufen kam, Einauge vermutlich einen Halbbruder – und gründeten eigene Familien: das Neustädter und das Nochtener Rudel. Sunny und Einauge brachten zusammen über 80 junge Wölfe zur Welt. Cousin-Cousinen-Liebe, Nichte mit Onkel, Mutter mit Sohn – so etwas war zu Beginn der Wiederbesiedelung an der Tagesordnung. Ganz einfach, weil nicht immer genügend blutsferne Partner aus Westpolen nachwanderten. Doch eine gewisse Zeit lang ist derlei inzüchtiges Treiben kein Problem für den wölfischen Genpool.
Sunny machte vorher noch in einem genetisch ähnlich bedenklichen Zusammenhang Schlagzeilen: Im Jahr 2003 hatte sie sich, damals bekannt unter dem Zweitnamen »die Neustädter Wölfin«, bei Neustadt/Spree mit einem verwilderten Hund gepaart und vier Mischlingswelpen zur Welt gebracht.
Für die meisten Artenschützer sind diese sogenannten Hybriden ein kleiner Albtraum, weil sich innerhalb einer so kleinen Population die »Haustiergene« in einem unerwünscht hohen Maß durchsetzen können. Man sieht die Reinheit der Wolfsart in Gefahr. Anfang 2004 wurden zwei der vier Hybriden-Welpen eingefangen und in ein Gehege im Bayerischen Wald gebracht. Binnen eines Jahres mussten beide eingeschläfert werden, wegen Verletzungen, die sie sich selbst am Gehegezaun zufügten. Von ihren Geschwistern fehlt jede Spur. Nach 2004 hat es dann offiziell keinerlei neue Hinweise auf Wolf-Hund-Mischlinge in Deutschland mehr gegeben.
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Ich setze mich neben den Gedenkstein in die Sonne und denke über die eingemeißelte Aussage nach:
»Jahr 2000 – Wölfe in Deutschland«
Er wurde im Mai 2005 aufgestellt, in dem Jahr, als die Wolfsbesiedelung deutscher Lande unter Mithilfe der Urmütter Sunny und Einauge gerade erst ein wenig Fahrt aufnahm. Also zu einer Zeit, in der man sich die Dynamik des weiteren wölfischen Geschehens noch überhaupt nicht vorstellen konnte.
Der Stein war eine späte und vielleicht auch ein bisschen ironisch gemeinte Antwort auf alle jene »Wolfssteine« im Lande, auf denen die jeweilige Erledigung des »letzten Wolfes« einer Gegend nicht selten in einer sehr schmissigen Rhetorik bejubelt wurde. Aber darüber ausführlicher in Kapitel 3.
Derlei historische Fakten wälzend, krame ich (neben einem ziemlich hinfällig aussehenden Käsebrötchen) auch ein Blatt Papier aus der Schultertasche: eine Karte, auf der alle Wolfsrudel, Einzeltiere und bestätigten Sichtungen von durchziehenden Wölfen verzeichnet sind. Ein beeindruckendes Gesprenkel, schon 2015. Heute, im Frühjahr 2017, an meinem Schreibtisch sitzend, bei einer Tasse Darjeeling, die das kreative Schreiben erleichtern soll, habe ich an meinem Computer die aktualisierte Version dieser Karte als PDF aufgerufen (www.lausitz-wolf.de/fileadmin/PDF/WND_20170503_Map.pdf):
In Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt ballen sich die als schraffierte Kreise dargestellten Markierungen für Rudel dicht an dicht, und zwar fast alle östlich der Elbe, also auf der rechten Uferseite. Ab einer gedachten Linie Berlin-Hannover und deren Schnittpunkt mit dem Strom massieren sich die Eintragungen auf der linken Elbseite und nördlich dieser Linie. So streckt sich eine rot gesprenkelte Zunge mit Basis südlich von Hamburg und nördlich von Bremen bis nach Cuxhaven an die Nordsee.
Bestätigte Einzeltiere hingegen, als rote Sterne dargestellt und Totfunde, mit einer Art Halteverbotsschild abgebildet, sind hingegen fast über ganz Deutschland verteilt: bei Regensburg, südwestlich von Stuttgart, nördlich von Koblenz, bei Wesel und rund um Osnabrück. Abgebildet wurden auf dieser Karte so allerdings nur Beobachtungen von 2016 bis Mai 2017. Mit Ausnahme des Saarlandes haben seit dem Beginn der Wiederbesiedelung inzwischen alle Bundesländer und Stadtstaaten offiziell bestätigten wölfischen Besuch bekommen.
Nach dem Urknall im Jahr 2000 blieben die Wölfe zunächst einmal in Sachsen. Rudel um Rudel wurde gegründet, doch sie blieben dicht beieinander, wie einzelne Eiblasen im Froschlaich aneinander haftend. Als gäbe es eine Anziehungskraft, welche die sächsischen Wölfe beieinander hielte. Um 2009/2010 werden dann die ersten beiden Wolfsrudel außerhalb von Sachsen beobachtet, im Bereich Welzow (Brandenburg) und auf dem Truppenübungsplatz Altengrabow (Sachsen-Anhalt). Und erst um das Jahr 2012...
| Erscheint lt. Verlag | 16.10.2017 |
|---|---|
| Verlagsort | Gütersloh |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
| Kinder- / Jugendbuch | |
| Technik | |
| Schlagworte | eBooks • Hélène Grimaud • NABU • Naturschutz • Raubtiere • Rudel • Umwelt • Wolf • Wölfe • Wölfe in Deutschland • Wolfsangriffe • Wolfsforschung • Wolfspopulation • Wolfsrevier • Wolfsrudel |
| ISBN-10 | 3-641-21652-4 / 3641216524 |
| ISBN-13 | 978-3-641-21652-8 / 9783641216528 |
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