Autistische Menschen in Studium und Hochschule (eBook)
231 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043650-3 (ISBN)
Prof. Dr. Christian Lindmeier leitet die Arbeitsbereiche 'Pädagogik bei kognitiver Beeinträchtigung' und 'Pädagogik im Autismus-Spektrum' an der Universität Halle-Wittenberg. Carina Schipp ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin. Dr. Mechthild Richter war dort ebenfalls tätig und ist nun wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Erfurt. Mit Beiträgen von:
Prof. Dr. Christian Lindmeier leitet die Arbeitsbereiche "Pädagogik bei kognitiver Beeinträchtigung" und "Pädagogik im Autismus-Spektrum" an der Universität Halle-Wittenberg. Carina Schipp ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin. Dr. Mechthild Richter war dort ebenfalls tätig und ist nun wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Erfurt. Mit Beiträgen von:
1 Zwischen Abitur, sozialen Kontakten und Wäsche waschen
Clara Tabea Ketterer
Ich möchte mich mit den Worten einer damaligen Mitschülerin vorstellen: »Das ist die Tabea, die ist manchmal ganz schön komisch.« Das war in der neunten Klasse, kurz nachdem wir einen neuen Klassenkameraden bekommen hatten. Damals hatte ich für dieses »komisch« keinen Namen. Heute schon: Autismus. Im folgenden Abschnitt werde ich berichten, wie sich für mich als Person auf dem Spektrum die Zeit kurz vor, während, hauptsächlich aber nach dem Abitur gestaltet hat. Ein paar grundlegende Dinge muss ich allerdings davor noch erklären, damit die bei mir auftretenden Herausforderungen nachvollziehbar sind.
Ein Merkmal von Autismus, das sich in meinem persönlichen Fall besonders zeigt, ist eine mangelnde Adaptationsfähigkeit, also die erschwerte kognitive Anpassung an eine neue Situation. Vielen von uns Autist:innen fällt es unwahrscheinlich schwer, Planänderungen hinzunehmen und uns auf unbekannte Umgebungen einzustellen. Woran das liegt, möchte ich gerne anhand eines Bildes erklären, das ich auch in Vorträgen immer wieder einsetze:
Stellen Sie sich vor, Sie sind auf der Straße unterwegs. Um Sie herum stürmt und gewittert es, als sei der Weltuntergang nahe, außerdem schüttet es wie aus Eimern. Der Regen peitscht auf Sie ein und Sie sind schon völlig durchgefroren. Sie sind schon seit Stunden draußen, aber noch ist weit und breit kein Ende in Sicht. Um sich herum sehen Sie Personen, die in ihre Häuser hasten, wo sie sich nun aufwärmen und erholen können. Sie beneiden diese Leute ... Sie selbst gehen weiter. Irgendwann beginnen Sie zu rennen, immer und immer hektischer, um so schnell wie möglich ins Trockene zu kommen. Ein wenig Regen und Sturm ist ja in Ordnung, aber doch nicht so viel! Aber dort vorne, bei dem Café, dessen Markise noch ausgefahren ist: Da können Sie sich kurz unterstellen, bis es vielleicht ein wenig besser wird. Erleichtert hasten Sie also zu besagtem Café und lassen sich ein wenig antrocknen. Kurz durchatmen! Aber dann kommt auf einmal der Inhaber und dreht die Markise zurück. Sie müssen also weiter. Inzwischen ist der Wind schon so stark, dass Sie richtig kämpfen müssen, um nicht weggeweht zu werden. Eine Sturmwarnung wird herausgegeben. So langsam rückt Ihr Haus näher. Sie freuen sich, als Sie über die Brücke über den mittlerweile reißenden Bach gehen, denn das bedeutet, dass Sie sich am Geländer entlanghangeln können. Es gibt Ihnen Sicherheit auf dem Weg nach Hause, damit Sie nicht doch noch womöglich im Wasser landen. Doch dann stellen Sie nervös fest, dass das Geländer mitten auf der Strecke einfach endet: Es besteht also die Möglichkeit, dass Sie irgendwann im Wasser landen und ertrinken ...
Ein ziemliches dystopisches Szenario, oder? Nun, für mich als Autistin ist das im übertragenen Sinne Alltag. Es geht um das Thema Reizüberflutung. Um uns alle herum herrscht eine ständige Sturmflut an Gedanken, Geräuschen und allgemeinen Eindrücken, instinktiv aufgeschnappten Emotionen und Stimmungen. Neurotypische Personen, also solche Personen, die nicht von Autismus, AD(H)S oder anderen unter dem Begriff Neurodivergenz zusammengefassten Abweichungen der Reizwahrnehmung und -verarbeitung betroffen sind, haben bildlich gesprochen Wohnungen und Häuser, in denen sie sich vor diesen Eindrücken schützen können. Sie haben keine oder zumindest geringere Probleme, nur selbst gewählte Reize zuzulassen. Autistische Personen haben mit genau diesem Filtern oft massive Schwierigkeiten. Um bei meinem Bild zu bleiben: Sie haben kein solches Haus oder wissen, dass dieses noch weit entfernt ist. Sie müssen also diese Reize einfach auf sich einprasseln lassen, ohne eine Rückzugsmöglichkeit zu haben. Gelingt es ihnen nicht, zwischendurch Ankerpunkte zu finden, laufen sie Gefahr, metaphorisch gesehen ins Wasser zu fallen und unterzugehen – was sich als Reizüberflutung bis hin zum Shutdown (völliger Rückzug), zu Panikattacken oder sogar Meltdowns, d. h. (auto-)aggressivem Verhalten aufgrund von Überforderung, äußert.
Für welchen Aspekt stehen nun das Café und das Geländer? Für Vertrautheit, Rituale und bekannte Situationen. Darunter fallen auch die sog. Stimmings, wiederholte Bewegungen, Phrasen oder Melodien, die es einem ermöglichen, sich Sicherheit und Stabilität zu verschaffen. Die Logik dahinter ist, dass solche Bewegungsabläufe und vertrauten Situationen eben keine neuen Reize und Informationen beinhalten, die neu verarbeitet werden müssen. Sie stellen vielmehr eine Möglichkeit dar, sich – wenn auch für begrenzte Zeit – auf bereits bekannte, beruhigende Reize zu fokussieren. Außerdem kann die ständige Wiederholung einer Bewegung zu einer Art Trance führen, die das Ausblenden von Reizen erleichtert. Ebenso wie bspw. ein Säugling seinen Schnuller braucht, brauchen viele Personen mit einer Filterschwäche diese vertrauten Elemente im Alltag, an denen sie sich entlanghangeln können.
Ich bin mir also sicher, Sie können nachvollziehen, dass für mich als Autistin in solchen Zeiten des völligen Umbruchs, die ja sogar neurotypische Personen herausfordern und von einem Wegfallen so gut wie aller Gewohnheiten und vertrauten Situationen charakterisiert werden, vor allem die anstehende Ungewissheit in Kombination mit einem erhöhten Maß an Reizüberflutung und zu verarbeitenden Impulsen ausschlaggebend dafür war, dass ich sehr schnell in ein Burnout bzw. eine depressive Phasen abrutschte. Denn ohne diese Stützen im Alltag zu haben – die Rituale, die vertrauten Orte, die Stimmings – gerät der Geist schnell in Ungleichgewicht.
Aber warum fielen auch die Stimmings weg? Genau das ist der zweite Punkt, der wichtig zu verstehen ist: Social Masking. Das steht unter dem Motto: »Ach wie gut, dass niemand weiß, wie sehr ich mich grade zusammenreiß.« So lässt sich die Tendenz einiger autistischer Personen beschreiben, vor allem solcher, die nicht oder nur geringfügig kognitiv beeinträchtigt sind, sich so gut wie möglich an die Umwelt anzupassen. Sie beobachten schon von klein auf ihre Mitschüler:innen und sind in der Lage, ihr Verhalten haargenau zu analysieren und für sich selbst zu kopieren. Weshalb sie das tun? Weil häufig das intuitive Verständnis für soziale Normen und Regeln einfach fehlt. Ich habe oft gesagt, ich habe den Eindruck, ein Memo nicht bekommen zu haben, in dem alle sozialen Situationen und dazugehörigen Regeln und Muster einmal aufgelistet sind. Ich schaffe es nicht, eine neue Situation intuitiv zu erfassen und passend zu reagieren. Das alles habe ich mir kognitiv antrainiert, indem ich eben andere Personen beobachtet und deren Verhaltensweisen kopiert habe. Genauso habe ich mir aber auch gewisse Eigenheiten wie eben Stimmings oder die Tendenz, wie ein Wasserfall zu sprechen, abgewöhnt bzw. sie unterdrückt. Viele autistische Personen beobachten also und basteln sich aus den beobachteten Verhaltensmustern eine eigene soziale Maske zusammen, mit deren Hilfe sie nicht mehr sozial auffällig sind.
Problematisch daran ist allerdings, dass soziales Handeln für mich vor allem in ungewohnten Situationen kognitiv abläuft, statt intuitiv zu erfolgen. Ich muss also jedes Mal beobachten, welche Situation hier vorliegt, die dazu passende Maske auswählen, mir ins Gedächtnis rufen, wie andere Personen sich in dieser Situation verhalten haben, und schließlich dieses Verhalten selbst zeigen – was allerdings noch der einfachste Teil ist. So kann ich bei sehr gutem Social Masking natürlich absolut unauffällig wirken. Das Problem ist aber, dass auf die Situation nun zwar adäquat reagiert wird, allerdings ein grundlegendes Verständnis für den Grund hinter den gezeigten Verhaltensweisen fehlt – gleich wie bei einer Klausur, in der das gute Resultat nicht durch das Verstehen des Unterrichtsstoffs, sondern lediglich durch Abschreiben und Spickzettel möglich ist.
Das kann mit der Zeit unfassbar auslaugend werden. Und genau diese beiden Probleme – das Wegfallen von vertrauten Strukturen und Stimmings sowie das Social Masking – führen bei vielen autistischen Personen sehr schnell zu massiven psychischen Problemen. Ich habe sehr viel Glück gehabt, ein extrem verständnisvolles und unterstützendes Umfeld zu haben. Allerdings hat auch mich diese Zeit zwischen Abitur und Studium stark gefordert. Im Folgenden soll es also darum gehen, wie ich damit umgegangen bin.
Meine primäre Emotion, die während meines gesamten Abiturs bis zur Zeugnisvergabe leise vor sich hinbrodelte und erst dann so greifbar für mich wurde, als ich mein Zeugnis in den Händen hielt, war: Angst. Angst vor dem Unbekannten, Angst vor der neuen Situation, Angst davor, dass ich den an mich gestellten Anforderungen nicht gerecht werden würde. Vor der Tatsache, dass ich keine Ahnung hatte, was ich nun mit meinem Leben machen sollte. Ich denke, zu einem gewissen Grad kennt das auch jede neurotypische Person. Bei autistischen Personen ist die ganze Sache aber nochmal intensiver. Ich weiß noch genau, als wir die Resultate unserer Abiturklausuren und damit unseren Schnitt erhielten, war ich erstmal wie...
| Erscheint lt. Verlag | 27.8.2025 |
|---|---|
| Co-Autor | Nele Groß, Imke Heuer, Eileen Jensch, Matthias Kraupner, Mia Lechner, Bettina Lindmeier, Andrea MacLeod, Katrin Reich, Mechthild Richter, Carina Schipp, Sylva Schlenker, Jana Steuer, Julia Bunge, Clara Tabea Kletterer, Michael Schmitz, Angelika Sarrazin, Eva Stucki, Andreas Eckert, Stephanie Feinen, Johanna Krolak, Christfried Rausch, Christian Lindmeier, Dorothee Meyer, Nathalie Quartenoud |
| Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Christian Lindmeier |
| Verlagsort | Stuttgart |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
| Schlagworte | Autismus • Barrierefreiheit • Studierende |
| ISBN-10 | 3-17-043650-3 / 3170436503 |
| ISBN-13 | 978-3-17-043650-3 / 9783170436503 |
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