Zwischen den Zeilen (eBook)
274 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-8192-0523-1 (ISBN)
Verena Arps-Roelle ist Gründerin der Initiative "act & protect® - gegen sexualisierte Gewalt". Und eine unerschrockene Stimme im Kampf für feministische Strukturen und Kulturen. Als Überlebende und Expertin bringt sie ihre persönliche Erfahrung authentisch ein, um Tabus zu brechen und die breite Öffentlichkeit für die oft unsichtbaren Facetten sexualisierter Gewalt zu sensibilisieren. Der Fokus liegt auf Unterhaltungs- und Alltagssexismus, Stereotypen, Rollenbildern und der zerstörerischen Schuld. Umkehr, die Betroffene immer noch viel zu häufig trifft. Mit ihren praxisorientierten Ansätzen vermittelt sie präventiv und intervenierende Maßnahmen, die wirken und bewirken. Damit Menschen selbstbewusst Grenzen ziehen und sich für sich und andere einsetzen können.
Lea
#1 - BAUCHSCHMERZEN
SCHÖNHEITSNORMEN, OBJEKTIFIZIERUNG UND DER TÄGLICHE ÜBERLEBENSKAMPF
Leas erster Griff geht wie jeden Morgen zu ihrem Handy, nachdem sie die Snooze-Funktion ausgeschaltet und sich im Bett aufgerichtet hat.
Ihre Augen sind noch halb geschlossen und ihr Geist noch nicht ganz wach, während sie sich schon durch Instagram scrollt.
Sie sieht makellose Gesichter, perfekt ausgeleuchtete Körper, „What I eat in a day“-Reels und sportliche Morgenroutinen.
Die lnfluencer*innen, denen sie folgt, wirken mühelos schön, organisiert, erfolgreich. So, als hätten sie ihr Leben in jeder Hinsicht im Griff.
Noch im Halbschlaf fragt Lea sich:
Warum sehe ich nicht so aus?
Wieso fühle ich mich immer ein bisschen zu unsportlich, zu uninteressant, zu unorganisiert?
Und warum ist mir das eigentlich mal mehr und mal weniger wichtig?
Verdammt.
Ich hab keine Lust mehr darauf, mir ständig diesen Druck zu machen.
Ich habe schon genug Druck mit meiner Arbeit, mit meinen Beziehungen, mit meinem Leben.
Sie spürt ein Ziehen in ihrem Magen, das ihr längst vertraut ist.
Es ist kein Schmerz.
Es ist dumpfer, irgendwie schwer und stechend.
Lea hört, wie ihre Freundin neben ihr sich bewegt.
Die Decke raschelt leise, als sie sich umdreht und noch im Schlaf behaglich seufzt. Ansonsten ist es still im Zimmer.
Kein Lärm von der Straße dringt in ihre kleine Wohnung im 3. Stock.
Aus dem Nachbarbad ist noch kein Wasserrauschen zu hören.
Die Nachbarn nebenan scheinen noch zu schlafen.
Es ist auch kein Poltern aus der Wohnung über ihr zu hören.
Alles ist ruhig.
Lea dreht sich noch einmal zur Seite, zu ihrer Freundin, und betrachtet sie im Morgenlicht, das durch die Fenster scheint.
Eine Strähne fällt ihr ins Gesicht.
Sie sieht so friedlich aus.
Lea hätte gerne auch die Ruhe, die sie im Schlaf ausstrahlt.
Doch in ihrem Kopf kreist es schon:
Das Meeting mit den Kollegen am Nachmittag.
Der Pitch mit ihrem Kunden.
Der Kollege, der letztens sagte: „Ich find’s supermutig, dass du dich traust, lesbisch zu sein.“
Lea starrt an die Decke.
Mutig?
Das war keine Bestärkung.
Das fühlte sich mehr nach Abwertung an.
Nach Anders-Sein.
Mit einem Ruck legt sie das Handy zur Seite und springt aus dem kuschelig-warmen Bett.
Auf dem Weg ins Bad summt sie leise vor sich hin.
Im Bad nimmt sie ihre Bambus-Zahnbürste aus dem Zahnputzbecher, öffnet die Whitening-Zahnpasta und drückt einen großen Streifen auf die Borsten.
Ihr Blick fällt in den Spiegel.
Sie mustert sich: Ihr Gesicht ohne Make-up, die noch ungekämmten Haare, ihr nackter Bauch.
Ihre Haut ist nicht so glatt und faltenfrei, ihre Haare nicht so lang und ihre Taille nicht so schmal wie die, die sie eben noch auf Instagram gesehen hat.
Und plötzlich ist sie wieder 14.
Damals, als ihre Klassenkameradin Camilla meinte: „Du könntest richtig hübsch sein, wenn du etwas dünner wärst.“
Lea schaut noch angestrengter in den Spiegel.
Heute ist sie 32.
Doch dieser Satz sitzt immer noch tief in ihr, begleitet sie – wie ein Blutegel, der sich festgesaugt hat und immer größer wird.
Sie weiß, dass das nicht so ist.
Sie weiß, dass sie genau richtig ist, so wie sie ist.
Doch in solchen Momenten spürt sie, wie tief dieser Satz und so viele weitere sitzen.
Nicht schlank genug, nicht feminin genug, nicht vorzeigbar genug.
Zu viel, zu laut, zu klar.
Zu stark?
Lea hasst diese Gedankenspiralen.
Sie hasst diese Vergleiche – mit Freund*innen, mit lnfluencer*innen, mit Fremden.
Mit einer gesellschaftlichen Norm, der sie nicht entspricht.
Und der sie nicht entsprechen möchte.
Lea ärgert sich über sich selbst. Sie weiß, dass diese Bilder nicht echt sind, sondern dass über den Gesichtern und Körpern Filter liegen, dass sie ausgeleuchtet sind und bearbeitet werden.
Und trotzdem wünscht sie sich manchmal, genauso auszusehen.
Lea schüttelt den Gedanken ab und versucht, sich bewusst abzulenken, denkt an das, was sie heute zu tun hat und worauf sie sich freut: Die Yoga-Stunde nach der Arbeit, ihre Freundin Mara, die sie dort trifft, ein gemütlicher Abend zu Hause.
Lea springt unter die Dusche, wäscht ihre Haare, trocknet sich ab, cremt sich ein und legt Make-up auf.
Sie zwingt sich zu einem entschlossenen Blick.
Was soll sie heute anziehen?
Professionell, aber nicht zu streng.
Figurbetont, aber nicht zu eng.
Sportlich, aber nicht zu lässig.
Nach einigem Hin und Her entscheidet sich Lea für eine hellblaue Bluse mit V-Ausschnitt, eine locker sitzende Jeans und weiße Sneaker.
Sie bindet sich ihre noch feuchten Haare zu einem Pferdeschwanz und kämmt ihren Pony zur Seite.
Na also, denkt sie. Geht doch.
In der Küche angekommen steht Lea vor der Müslischale.
Frühstück?
Oder lieber nur Kaffee?
Ihr Blick schweift zur Uhr. Noch zehn Minuten, bevor sie losmuss.
Sie zögert.
Eigentlich hat sie gar keinen Appetit.
Lea entscheidet sich für Kaffee – mit Milch, ohne Zucker.
Während der Kaffee durch die Maschine läuft, blubbernd, duftend und heiß, schaltet sie das Radio ein – es ertönt eine hitzig klingende Stimme.
Es läuft eine Debatte über das Selbstbestimmungsgesetz.
Ein Politiker spricht von biologischen Fakten – und das in einem Ton, der ihr einen Schauer über den Rücken jagt.
Als ob es nur eine Art zu leben gäbe und alles, was davon abweicht, falsch oder schlecht wäre.
Dann folgt ein Kommentar: „Man darf ja bald gar nichts mehr sagen.“
Lea hält inne. Ihre Stirn zieht sich zusammen.
Doch, denkt sie. Ihr dürft alles sagen. Ihr tut es ja auch. Laut, ungefragt, ohne Rücksicht. Ihr dürft alles sagen – ihr liegt nur nicht immer richtig. Und ihr müsst aushalten, dass auch andere was sagen.
Lea füllt den fertigen Kaffee in ihren To-Go-Becher und dreht den Deckel fest zu.
Als sie zur Tür geht, spürt sie das Gewicht der Diskussion im Radio noch im Rücken – wie eine unsichtbare Wand, gegen die sie läuft. Gleich im Büro auch wieder.
Denn Lea weiß, was heute wieder auf sie wartet: die Frage, ob sie „Kaffee für alle kocht, weil sie das als Frau doch am besten“ kann. Ob sie „das Protokoll im Meeting“ schreibt und rumschickt und ob sie das Abschiedsgeschenk für Bartosz, der in zwei Wochen in den Ruhestand geht, besorgen kann.
Sie ist nicht die Jüngste im Team.
Nicht die Neueste.
Nicht die Unerfahrenste.
Doch sie ist immer noch „die Frau“.
Eine von wenigen Frauen in einer Branche, die fast nur mit Männern besetzt ist.
Und in der sie sich häufig zurückhält mit ihrer Meinung, mit Kritik oder Wünschen – um nicht als kompliziert, empfindlich oder sogar fehl am Platz angesehen zu werden.
Und sie weiß: Wenn sie es doch tut, wird’s unangenehm für sie.
Dann ist sie „zu sensibel", „nicht locker genug“, „hat wohl was gegen Männer“.
Also sagt sie nichts.
Wie ihre Kollegin Indra, die auch lieber schweigt, seit sie nach einem Meeting von einem Kollegen gefragt wurde, ob sie „ihre Tage" hat, oder warum sie „so zickig“ sei.
Oder Yasmin, die neulich auf ein sexistisches Meme in der Teamgruppe kritisch hingewiesen hat – und danach erstmal eine Woche von allen Kollegen gemieden und aus dem Gruppenchat entfernt wurde.
Aber ob Schweigen die Lösung ist?
Lea zuckt unbewusst mit den Schultern.
Sie seufzt, nimmt ihre Tasche mit ihren Schlüsseln und ihrem Portemonnaie vom Garderobenhaken, schnappt sich ihr Handy und den Kaffee und verlässt die Wohnung.
Sie zieht die Tür leise hinter sich zu und vergewissert sich noch einmal, ob sie alles dabei hat. Handy, Schlüssel, Geldbeutel.
Alles da.
Im Hausflur begegnet ihr der Nachbar aus der Wohnung nebenan – anscheinend ist auch er aufgewacht und bereit, in den Tag zu starten.
Lea lächelt ihn an: „Guten Morgen“, sagt sie.
„Hallo Lea – du siehst heute aber wieder besonders hübsch aus - richtig zum Anbeißen!", erwidert er mit einem breiten Lächeln und einem Blick, der nicht in ihren Augen, sondern bei ihren Brüsten endet.
Lea bringt ein leises „Danke“ hervor, begleitet von einem scheuen Lächeln.
Doch etwas in ihr zuckt zusammen.
Warum fühlt sich dieser Satz seltsam an?
Der Nachbar hat ihr doch ein Kompliment gemacht.
Er wollte bestimmt nur nett sein.
Oder?
ODER?!
Schnell schiebt sie sich an ihm vorbei und läuft die Treppen runter, geradewegs auf die Haustür zu und raus.
Sie hört noch, wie er ihr „Schönen Tag noch!“ hinterherruft.
Doch sie antwortet nicht.
Als sie nach draußen tritt, ist es frisch und...
| Erscheint lt. Verlag | 14.8.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Diversity & Inclusion • Feminismus • Gleichberechtigung • Patriarchat • Sexismus |
| ISBN-10 | 3-8192-0523-3 / 3819205233 |
| ISBN-13 | 978-3-8192-0523-1 / 9783819205231 |
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