Importkind (eBook)
186 Seiten
VOIMA Verlag
978-3-907442-04-3 (ISBN)
Hanbekks, die eigentlich Bekks und noch eigentlicher Rebekka heisst - aber das noch gar nicht lange -, wurde in Seoul, Südkorea geboren und mit dreieinhalb Jahren in die Schweiz adoptiert. Seither navigiert sie durchs Leben, irgendwo zwischen Kulturen, Schubladendenken und Erwartungen. Heute lebt sie in Zürich, ist Mutter von zwei längst nicht mehr kleinen Töchtern, IT-Projektleiterin und Podcasterin. Auf Social Media ist sie pointiert, wach und unbequem.
Rechtsswipe
Meine Freundin Michelle versucht seit Monaten, mich dazu zu bewegen, Dating-Apps zu nutzen, um die letzte Beziehungs-Katastrophe endlich hinter mir zu lassen und Erinnerungen zu schaffen, die die alten überlagern. Bisher habe ich Dating-Apps für das Äquivalent von Mikrowellenessen gehalten: schnell verfügbar, aber meist enttäuschend. Oder wie ein Besuch bei McDonalds, wo der Gedanke daran viel besser ist als das Gefühl danach. Ich glaube, es ist klar, wie wenig ich von Dating-Apps halte. Es muss also ein Moment absoluter Langeweile, totaler Hoffnungslosigkeit oder die Auswirkung des fiesen Jetlags sein, dass ich mich, gerade mal eine Woche nach der Rückkehr von meiner über fünfmonatigen Asienreise, bei «OkCupid» anmelde.
Ich matche vier Männer, deren Profile einen ansatzweise okayen Eindruck machen, bevor ich mein Konto wieder lösche: Jonas, Christian, Florian und Pascal.
Ich interagiere mehr oder weniger unterhaltsam und immer auf Unverbindlichkeit achtend mit drei der vier. Florian, der Finanzheini und ich verabreden uns für ein Treffen in einer Woche, Pascal, Oberst in der Armee, ghostet mich nach dem ersten Tag, und bei Brockenhaus-Jonas winke ich nach einem kurzen WhatsApp-Dialog gelangweilt ab. Christian, dessen Profil ich vor allem wegen der Angabe, er könne im Handstand gehen, interessant fand, meldet sich am Sonntagnachmittag. Ich habe gerade Zeit und tausche mich ein bisschen mit ihm aus, das Beste hoffend, das Schlimmste erwartend. Er erzählt mir, dass er Handstand kann, weil er lange Kunstturner war, und natürlich ist damit mein Interesse erst mal geweckt. Heute arbeitet er als Projektleiter, hat zwei Söhne und lebt von seiner Frau getrennt in Zürich.
Christian ist erfreulich schlagfertig, hat Schalk, findet auf alles eine passende Antwort und wirkt erstaunlich geerdet. Wir unterhalten uns den ganzen Nachmittag und Abend über WhatsApp. Als er fragt, ob ich Lust habe, ihn am Dienstagabend zu treffen, sage ich ohne zu zögern zu. Als wir uns später in der Nacht verabschieden, bleibt ein ekelhaft kribbeliges Gefühl und ein beschissenes Lächeln auf meinen Lippen.
Am nächsten Morgen schreibt Christian bereits in der Früh wieder. Eigentlich könnte unser Gespräch längst zu Ende sein, aber wir halten es den ganzen Tag mit fadenscheinigen Fragen und unwichtigen Themen am Laufen – ganz offensichtlich, weil keiner von uns den Kontakt abbrechen möchte. Wie peinlich! Als ich am Abend mit meinem ehemaligen Chef Markus essen gehe, habe ich kaum Nerven für Smalltalk mit ihm. Ich möchte das Treffen so schnell wie möglich hinter mich bringen, um nach Hause zu kommen und weiter mit Christian zu schreiben. Kurz nach 21 Uhr bin ich wieder daheim, werfe mich ins Bett und vertiefe mich in unser Gespräch. Mein Herz macht jedes Mal einen nervösen, kleinen Sprung, wenn ich die Benachrichtigung mit seinem Namen auf dem Display sehe.
Es ist halb zehn, als Christian schreibt:
«Du, wollen wir uns nicht heute schon treffen?»
«Meinst du das ernst?», tippe ich zurück.
«Ja.»
«Verdammt», schreibe ich. Nach einer winzigen Pause füge ich hinzu:
«22:24 Uhr, Gleis 17, vorne am Kopf. Wirst du da sein?»
«Ja», antwortet er.
Ich springe aus dem Bett, ziehe mich an, schnappe meine Sachen und mache mich auf den Weg zum Bahnhof, um den Zug nach Zürich zu erwischen. Für eine Planerin, die Spontaneität für absolut überbewertet hält, bin ich ganz schön kopflos geworden in den letzten Monaten.
Der Hauptbahnhof Zürich, einer der meistfrequentierten Bahnhöfe Europas, ist an einem Montagabend um halb elf fast beängstigend leer. Ein paar vereinzelte Gestalten warten in der Halle oder schlendern ziellos umher. Als ich aus dem Zug steige, fühle ich einen kleinen Druck im Bauch. Ich trage blaue Jeans, ein bordeauxrotes Longshirt, helle Sneakers und meinen schwarzen Mantel. Das Outfit ist sehr bewusst so gewählt, dass es aussieht, als hätte ich es völlig unbewusst gewählt. Meine Schritte hallen leise über den Bahnsteig, während ich in Richtung Bahnhofshalle gehe.
Ich hasse solche Momente, in denen ich nicht weiß, ob ich beobachtet werde. Meine Augen huschen durch die Gegend und scannen alle herumstehenden Personen ab und dann auf einmal sehe ich ihn. Er steht etwas hinter dem Kopf des Gleises, ein bisschen seitlich, schaut mich an und lächelt ein Lächeln, das mich direkt ins Herz trifft. Rechts von ihm bewegt sich jemand vorbei, aber ich sehe nur ihn. Wir gehen aufeinander zu, und in dem Moment, als er mich umarmt, ist es passiert. Wie in einem unerträglich kitschigen Hollywood-Streifen.
Das erste Mal im Leben erfahre ich, was Liebe auf den ersten Blick bedeutet. Es gibt keine Unsicherheit, keine Distanz, nur dieses Gefühl, dass wir zusammengehören. Von diesem Moment an sind wir unzertrennlich.
Wir stellen diese Szene bis heute manchmal nach und nennen die Umarmung «unseren Signature-Hug». Es ist eine kleine Tradition, die nur uns gehört. Immer, wenn wir uns länger nicht gesehen haben, wenn einer von uns einen schlechten Tag hatte oder auch einfach so, ohne jeden Anlass, umarmen wir uns auf diese Art. Es ist mehr als nur eine Umarmung, es ist unser stilles Versprechen, füreinander da zu sein.
Christian hat eine besondere Fähigkeit, mich genau dann zu erreichen, aufzubauen und zu erden, wenn ich es am dringendsten brauche. Er ist klug, charmant und schlagfertig, und seine Art, mich immer wieder zum Lachen zu bringen, ist unvergleichlich. Seine Fürsorge und Aufmerksamkeit geben mir das Gefühl, genau dort zu sein, wo ich hingehöre.
In unserer Wohnung, mit ihrem aalglatten, hübschen Parkettboden, gleitet er oft in Schlittschuhschritten auf mich zu, als wäre er auf einer Eisbahn. Manchmal dreht er sogar ein paar Runden um den Esstisch. Es ist eine eigenartige Mischung aus Clownerie und Anmut, die in mir Fremdscham und unendlich viel Liebe auslöst – und immer einen unkontrollierbaren Lachanfall.
2025 ist inzwischen angebrochen, ich bin in Zürich, zu Hause. Es ist ein Wintertag, der wie einem kitschigen Postkartenmotiv entstiegen scheint. Eisig ist es, klirrend, geradezu feindselig. Währenddessen tobt in der Ukraine noch immer der Krieg, Trump hat es irgendwie wieder ins Oval Office geschafft, und die deutsche Politik ist – wie soll man es höflich sagen – am Arsch. Die Welt scheint auseinanderzufallen, Diktatoren schmieden Pläne für eine neue Weltordnung, und in den sozialen Medien beschimpfen sich Menschen, die sich noch nie im Leben begegnet sind, mit einer Inbrunst, die jeglicher Vernunft spottet. Ich kann es nicht wegdiskutieren, ich bin ob dieser Situation total angepisst.
Ich lebe mitten in der Stadt, in sogenannter bevorzugter Wohnlage. Ich bin vor ein paar Monaten erst eingezogen. Die Wohnung ist frisch saniert, absolut unpraktisch, total schickimicki mit fancy Dachterrasse und natürlich schweineteuer. Aber der Wohnungsmarkt ist ausgetrocknet, und der Radius, in dem wir situationsbedingt leben können, ist eng bemessen.
Christian lebt zu 60 % auch hier. Zu 40 % lebt er ein paar Straßen weiter stadtauswärts, wo er nach der Trennung von seiner Frau eine Wohnung für sich und die zwei Söhne gemietet hat. Der Kleine ist zwei Tage die Woche und jedes zweite Wochenende dort, der Große nur jedes zweite Wochenende. Christian teilt mit dem Elfjährigen ein Zimmer, während der Fünfzehnjährige ein eigenes braucht. Die beiden könnten unmöglich ein Zimmer teilen, sagt er. Privatsphäre bleibt für Christian deshalb keine. Dass die Kinder für durchschnittlich eine einzige Nacht die Woche kein Zimmer teilen können, ist natürlich Quatsch – aber Kindererziehung ist so individuell wie Eltern es sind.
Christian und die Kinder werden demnächst ganz bei mir einziehen. Für ihn bedeutet das mehr, für mich weniger Privatsphäre. Ich nehme es in Kauf. Wir sind schon froh, dass wir überhaupt zusammenziehen dürfen.
Lange bevor ich Christian kannte, wollte ich aus meiner übertrieben großen Wohnung inmitten der Fußgänger- und Ausgehzone einer nahegelegenen Kleinstadt ausziehen. Ich lebte dort mit meiner fast volljährigen Tochter, die ohnehin kaum mehr zu Hause war. Christian suchte seinerseits Nähe und Verbindlichkeit. Wahrscheinlich hatte er die Befürchtung, ich könnte entweder weit wegziehen oder mir eine kleine Wohnung nehmen, aus der ich so schnell nicht mehr herauswill.
Obwohl ich mir einst geschworen hatte, nie wieder mit einem Mann zusammenzuleben, sprach mich die Idee tatsächlich an. Mit Cristiano, wie ich ihn liebevoll nenne, fühlte sich alles von Anfang an anders und besser an, fast so, als wäre dieser Plan nicht völlig absurd. Ich entschloss mich, das Schicksal über unsere Zukunft entscheiden zu lassen. Natürlich nicht, ohne zuvor endlose Diskussionen zu führen. Wir verbrachten viel Zeit damit, abwechselnd dafür und dagegen zu argumentieren, warum eine gemeinsame Wohnung eine brillante Idee oder eben der sichere Weg in die Katastrophe sein könnte. Die Debatte war herausfordernd und emotional aufreibend, aber sie endete mit einem Kompromiss. Wir bewarben uns auf eine Wohnung und überließen den Rest den kosmischen Kräften.
Die Wohnung lag nur einen Steinwurf von der Schule seiner Kinder entfernt und erfüllte somit das Hauptkriterium, das Christian an einen neuen Wohnsitz stellte. Zu unserer Überraschung erhielten wir tatsächlich die Zusage und planten, im Spätsommer zusammenzuziehen. Es war absolut verrückt, genau wie wir.
Als Christian seiner Frau erzählte, dass wir ein baldiges Zusammenziehen planten, rastete sie völlig aus und drohte mit einer Kampfscheidung, falls wir es durchziehen würden. Natürlich meine sie es nur gut, ergänzte sie dann noch, und wolle nur das Beste für die Kinder. Natürlich, wer...
| Erscheint lt. Verlag | 26.6.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Adoption • Auslandsadoption • Beziehungen • Elternschaft • Entwurzelung • Familiendynamik • Herkunft • Identitätssuche • Interkulturalität • Korea • Migrationserfahrung • Rassismus • Schweiz • Selbstfindung • Wurzelsuche |
| ISBN-10 | 3-907442-04-0 / 3907442040 |
| ISBN-13 | 978-3-907442-04-3 / 9783907442043 |
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