Billige Plätze (eBook)
320 Seiten
Ventil Verlag
978-3-95575-646-8 (ISBN)
Rike van Kleef ist Kulturarbeiterin, Aktivistin und Autorin mit klarem Kompass. Ihr berufliches Zuhause hat sie zunächst auf Konzerten und Festivals gefunden, inzwischen spricht und schreibt sie auch über die verschiedenen Intersektionen von Gesellschaftspolitik und Kultur. Geprägt durch ihre eigenen Diskriminierungserfahrungen als queere Frau in einer stark männerdominierten Branche hat sie den Verein fæmm mitgegründet und Texte zu Kultur, Feminismus und Diskriminierung verfasst. 2023 wurde sie mit dem International Music Journalism Award ausgezeichnet.
KAPITEL 1
NICHT AUS DEM NICHTS
Der Vater war wütend, er wollt' einen Sohn, ich sah mich so um und wusste auch schon: Von nun an geht's bergab
Hildegard Knef – »Von nun an ging's bergab«
Die Musikindustrie ist sexistisch. Das ist keine haltlose Behauptung oder isolierte Wahrnehmung meinerseits. Wenngleich das Forschungsfeld definitiv noch ausbaufähig ist, gibt es seit den 1980ern eine zunehmende Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten zu den Zusammenhängen zwischen Geschlecht einerseits und der Musikindustrie andererseits, häufig in Form von Studien, basierend auf qualitativen Interviews. Auch in der Presse und in den sozialen Medien nehmen die Berichte von Diskriminierung und Übergriffen betroffener Personen zu. Dennoch ist nach wie vor die Ansicht weit verbreitet, dass es sich bei dem Problemfeld Sexismus in der Musikindustrie um Einzelfälle beziehungsweise Lappalien handelt oder es lediglich um die Besetzung von Festivalslots geht. Wenn große Festivals ihre Headliner-Slots nahezu ausschließlich mit Männern besetzen, sollte uns das natürlich stören, es handelt sich jedoch gewissermaßen um die Spitze des Eisbergs, an der die Genderungerechtigkeit in der Musikbranche besonders offenkundig sichtbar wird. Ein ernsthafter und nachhaltiger Wandel ist nur möglich, wenn wir die zugrundeliegenden Strukturen in den Blick nehmen, so dass wir nicht dazu verdammt sind, stets von Neuem in jedem Einzelfall gegen Benachteiligung anzukämpfen und unsere Rechte einzufordern. Nur wenn wir die Strukturen einer kritischen Analyse unterziehen und sie transformieren, können wir ein langfristiges Fundament schaffen, das eine gleichberechtigte Teilhabe aller ermöglicht und Diskriminierung präventiv verhindert. Um eine solche Analyse wie um konstruktive Ideen, wie sich die Musikindustrie gendergerecht aufstellen könnte, bemüht sich dieses Buch.
Die Strukturen und Probleme, die in den kommenden Kapiteln behandelt werden, betreffen zahlreiche Menschen – direkt als Mitarbeitende, oder indirekt als Fans. Der Arbeitsmarkt Musikindustrie ist kein kleiner: 2021 waren laut dem Bundeswirtschaftsministerium etwa 1,81 Millionen Menschen in der Kultur- und Kreativwirtschaft tätig – Tendenz steigend. Und das, obwohl die Kulturbranche, vor allem der Teilmarkt Musik, von der COVID-19-Pandemie besonders stark getroffen wurde.1 In der Veranstaltungswirtschaft arbeiteten 2023 1,33 Millionen Erwerbstätige; mit 81 Milliarden Euro Umsatz gilt sie als sechstgrößter Wirtschaftszweig Deutschlands.2 Apropos Veranstaltungen: Festivals erreichen ebenfalls eine außerordentliche Zahl von Menschen. Laut der Festival-Plattform Höme versammelten allein die auf dem Festival Playground3 2023 vertretenen Festivals 1.300.000 Besucher*innen im Jahr, nur in Deutschland.4 Dazu kommt eine Vielzahl weiterer Festivals, allen voran die Major-Festivals, die bis zu hunderttausende Besucher*innen empfangen. Mehrere Millionen Menschen fahren also in Deutschland jedes Jahr auf Festivals und geben teilweise ihr ganzes Urlaubsbudget für Tickets aus. Auch darüber hinaus erreicht die Musikbranche eine Vielzahl an Menschen. Insbesondere Fangruppen entwickeln in Teilen eine Strahlkraft, die Menschen erreicht, die mit dem Ursprungsprodukt, der Musik, gar keine Berührungspunkte aufweisen. Künstler*innen und ihre Fans sind inzwischen zu einer veritablen politischen Größe geworden. Sichtbar wurde dies beispielsweise durch die Einflussnahme von K-Pop-Fans auf Donald Trumps Wahlkampfveranstaltungen5 im Jahr 2020 oder auch durch Taylor Swifts Endorsement im US-Wahlkampf 20246.
Klar ist: Die Musikbranche übt über ihre Reichweite immensen Einfluss aus, und allein deswegen müssen wir uns fragen, wie es um Macht- und Entscheidungsstrukturen sowie Geschlechterfragen in der Branche prinzipiell aussieht.
WAS WISSEN WIR?
Wie eingangs erwähnt, ist die Musikindustrie nachweislich nicht die progressive und egalitäre Branche, als die sie sich gerne präsentiert. Ganz im Gegenteil: Die Musikindustrie ist durchzogen von sexistischen Strukturen und Merkmalen hegemonialer Männlichkeit7. Dies zeigt sich zunächst ganz fundamental an den nackten Zahlen: Verschiedene Studien aus unterschiedlichen Ländern veranschaulichen, dass Frauen auch heute noch die Minderheit in der Musikbranche darstellen. 2017 lag der Frauenanteil in Australien bei 29%, in den USA und Kanada bei 30% und in der flämischen Musikindustrie bei 33,4%.8 Es gibt einzelne Lichtblicke, erfreulich ist unter anderem der Anstieg des Frauenanteils in Großbritannien, den UK Music in seinem Diversity Report aus dem Jahr 2020 vermerkt.9 Lag der Frauenanteil 2016 immerhin schon bei 45,3%, stieg er bis 2020 auf 49,6%. Dennoch ist auch Großbritannien kein geschlechtergerechtes Paradies, was sich unter anderem in einem erheblichen Lohnunterschied ausdrückt: Unter den unbezahlten Arbeitskräften liegt der Frauenanteil bei 60%, an der Spitze der Gehaltstabelle (Jahresgehälter über £ 100.000) nur bei 28%.10 Das Thema Gender Pay Gap ist auch 2024 noch so ausschlaggebend, dass ich diesem ein eigenes Kapitel gewidmet habe.
Interessant ist der britische Report auch deshalb, weil er, wie der Titel schon vermuten lässt, auf weitere Identitätsmarker und Diskriminierungsmerkmale eingeht, die in der Debatte sonst häufig weniger beleuchtet werden. So lässt sich beispielsweise nachvollziehen, dass es einen deutlichen Altersunterschied gibt: Frauen in der Musikindustrie sind tendenziell jünger, Männer tendenziell älter. Daraus lässt sich schließen, dass die Musikindustrie in Großbritannien einen gegenderten Generationenwandel erlebt und es über die Jahre zunehmend besser geschafft hat, Frauen einzubinden. Die Ergebnisse zeigen jedoch auch, dass Machtpositionen tendenziell eher von älteren Männern besetzt werden.11 Die Studie unterstreicht die Vermutung, dass es besondere Hürden für Frauen ab dem 45. Lebensjahr gibt, beispielsweise die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit und Erziehungsverantwortung, da ab diesem Alter ein signifikanter Abfall im Frauenanteil zu verzeichnen ist.12 Was der Diversitätsreport zusammenfassend beschreibt, ist nicht überraschend – die Musikindustrie in Großbritannien ist insbesondere heterosexuell (81,9%), weiß (75,4%), nicht von einer Behinderung beeinträchtigt (86%) und zu einem Großteil in London und im Südosten Englands angesiedelt.
Schon 2016, inzwischen fast ein Jahrzehnt her, gab die Studie Frauen in Kultur und Medien13 vom Deutschen Kulturrat e. V. erste konkrete empirische Hinweise auf die Genderverhältnisse innerhalb der deutschen Musikbranche. Insbesondere die Berufsgruppen »Moderation und Unterhaltung« sowie »Veranstaltungs-, Kamera- und Tontechnik« stechen in der Betrachtung der Genderverhältnisse als »Männerberufe« hervor: Jeweils fast 70 bzw. 90% der Erwerbstätigen in diesen Berufsgruppen waren im Jahr 2013 Männer.14 Die Studie geht auch intensiver auf die Genderverhältnisse unter Versicherten der Künstlersozialkasse (sic!, KSK) und die Immatrikulationslisten ein, die zeigen, dass sich zwischen 1994 und 2015 eine steigende Anzahl an Frauen in Studiengänge, die der Gattung »Jazz, Popularmusik« zuzuordnen sind, immatrikuliert hat.15 Frauen waren und sind also durchaus interessiert an einer musikalischen Karriere, es scheint jedoch so, als ob sie in der Vergangenheit entmutigt wurden, ihr kreatives Schaffen und ihre Ambitionen zu professionalisieren. Ähnliches beschreibt Sam Cameron in seinem wissenschaftlichen Artikel The political economy of gender disparity in musical markets aus dem Jahr 2003. Es gebe durchaus zahlreiche Frauen, die Instrumente erlernen, jedoch überwiege die Erwartungshaltung, dass Frauen selbst eher eine Tätigkeit als Musiklehrerinnen denn als professionelle Musikerinnen anstreben sollten. Diese Vorstellung beeinflusse wiederum die musikalische Ausbildung der Mädchen und Frauen, die laut Cameron eine Chancenungleichheit erfahren.16 Auch Iva Nenić und Tatjana Nikolić beschreiben in ihrer Studie aus dem Jahr 2021, dass einige ihrer Studienteilnehmerinnen die eigene musikalische Karriere zu Gunsten einer Lehrposition zurückstellen würden17:
Obwohl es oft eine klare Präferenz dahingehend gab, den Lebensunterhalt als Musikerin zu verdienen, wurde [den Studienteilnehmerinnen] eine Lehrtätigkeit an staatlich finanzierten öffentlichen Schulen auf subtile Weise als sicherere und lebensfähigere Alternative zu den unsicheren Umständen von Musikern »angeboten«, sowohl in Bezug auf das Gehalt als auch wegen der unbeständigeren Arbeitszeiten in der Musik.18
Im Fazit ihrer soziologischen Untersuchung Mothering the artist: Women artist managers crafting an occupational identity in...
| Erscheint lt. Verlag | 13.6.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Gender Studies |
| Schlagworte | Diversität • Festival • FLINTA • Gendergerechtigkeit:Music Industry Professional • Gleichberechtigung • Machtstrukturen • Männerdomäne • männerdominiert • Musikbranche • Musikerinnen • Musikfestival • Musikindustrie |
| ISBN-10 | 3-95575-646-7 / 3955756467 |
| ISBN-13 | 978-3-95575-646-8 / 9783955756468 |
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