Aert van Riel, *1982, studierte Politische Wissenschaft, Soziologie und Geschichte in Hannover und Prag. Von 2018 bis 2023 leitete er das Politikressort der Tageszeitung ?nd.DerTag?, danach Politischer Referent für Antirassismuspolitik beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, seit 2024 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus.
1. Genozid und Völkerrecht – Lehren aus dem Holocaust
1.1. Der Völkermord an den europäischen Juden
In seinem 1985 erschienenen Film »Shoah« interviewte der französisch-jüdische Regisseur, Schriftsteller und einstige Résistance-Kämpfer Claude Lanzmann Opfer, Täter und Zuschauer des Völkermords an den Juden im NS-besetzten Europa. In dem mehr als neunstündigen Epos tritt auch der frühere SS-Mann Franz Suchomel vor die Kamera. Lanzmann filmt den Altnazi mit einem versteckten Objektiv. Suchomel geht fälschlicherweise davon aus, dass seine Aussagen von Lanzmann anonym verwendet werden.
An der Wand hängt die Karte des NS-Vernichtungslagers Treblinka. Suchomel war dort SS-Unterscharführer. Lanzmann stellt ihm ausschließlich technische Fragen. Er will wissen, was damals passiert ist und nicht die Interpretation eines Nazis hören, warum in Treblinka zwischen Juli 1942 und August 1943 etwa eine Million Menschen ermordet wurden, die weitaus größte Gruppe unter ihnen waren Juden. Suchomel, der wegen seiner Taten nur etwas mehr als vier Jahre in einem Gefängnis in der Bundesrepublik Deutschland gesessen hat, sagt: »Treblinka war ein zwar primitives, aber gut funktionierendes Fließband des Todes.« Mit anderen Worten: Die Juden wurden von den Nazis industriell und planmäßig vernichtet. So etwas hatte es in der Geschichte der Menschheit nie zuvor gegeben. Dies ist die Kernaussage von Lanzmanns Film, der in einer Zeit entstand, in der im Nachfolgestaat der Nazis, der Bundesrepublik, diese Menschheitsverbrechen weiterhin relativiert und verdrängt wurden.
Im Unterschied zu Auschwitz-Birkenau waren die Gelände der anderen NS-Vernichtungslager auf polnischem Boden, Treblinka, Sobibor und Belzec, eher klein. Es gab Baracken für das Wachpersonal, eine Auskleidestation und, für die nackten Menschen, einen von Stacheldraht umzäunten Durchgang in die Vergasungsanlagen. Sie sollten glauben, in einem Durchgangslager zu sein. Die Gaskammern waren als Duschen getarnt.3 Im Vernichtungslager in Chełmno, das den deutschen Namen Kulmhof hatte, wurden die Menschen in Gaswagen ermordet. Dem monströsen Verbrechen, dem Völkermord an den europäischen Juden, fielen bis zu sechs Millionen Menschen zum Opfer. Es wären noch mehr Menschen ermordet worden, wenn Nazi-Deutschland nicht 1945 den Zweiten Weltkrieg, der mit dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 begann, gegen die Alliierten verloren hätte. Bereits vor Kriegsbeginn hatten führende Nazis die Vernichtung der Juden angekündigt. Am 30. Januar 1939 erklärte Adolf Hitler im Verlauf einer mehrstündigen Reichstagsrede: »Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.«4
In den Jahren zuvor waren Juden im Deutschen Reich durch sogenannte Rassengesetze aus der Gesellschaft ausgegrenzt, zum großen Teil ihrer Berufe und ihrer Habe beraubt, ausgewiesen oder zur Auswanderung gedrängt, in die ersten Konzentrationslager verschleppt oder ermordet worden. Seit dem Überfall auf Polen 1939 und auf die Sowjetunion knapp zwei Jahre später wurden mehr als zwei Millionen Juden in diesen besetzten Gebieten durch Massenerschießungen oder in sogenannten Gaswagen von Angehörigen der SS, der Wehrmacht, deutschen Polizeieinheiten und einheimischen Helfern ermordet. Viele noch lebende Juden wurden in Ghettos zusammengetrieben.
Im Januar 1942 koordinierten wichtige Funktionäre des NS-Staates auf der Wannsee-Konferenz die sogenannte »Endlösung der Judenfrage«. Die Opfer sollten aus allen besetzten Gebieten in Europa deportiert und planmäßig vernichtet werden. Die entsprechenden Befehle wurden von Wehrmacht, SS und Polizeiverbänden pflichtgetreu ausgeführt. In diesem Zusammenhang hat die Publizistin Hannah Arendt, die vor der Verfolgung der Nazis in die USA geflohen war, den Begriff »Banalität des Bösen« geprägt. Sie ging davon aus, dass die Vollstrecker in erster Linie aus bürokratischer Mentalität heraus und erst in zweiter Linie aus rassenideologischen Gründen handelten.5
Auch nach dem Krieg setzte bei vielen Tätern kein Unrechtsbewusstsein ein. In Lanzmanns Film »Shoah« fühlt sich der frühere SS-Mann Suchomel in den 1970er Jahren durch seine Erzählungen in die Zeit in Treblinka zurückversetzt. Er stimmt sogar ein Treblinka-Lied an, das oft in dem Vernichtungslager gesungen wurde und das die sogenannten »Arbeitsjuden«, die gezwungen wurden, Kleidung, Lebensmittel, Schmuck und andere Habseligkeiten der Deportierten und Ermordeten zu sortieren, lernen mussten: »Wir kennen nur das Wort des Kommandanten und nur Gehorsamkeit und Pflicht. Wir wollen weiter, weiter leisten, bis dass das kleine Glück uns einmal winkt. Hurra.« Nachdem er seinen Gesang geendet hat, fügt Suchomel zynisch hinzu: »Dieses Lied kennt heute kein Jude mehr.«
Judenhass und Antisemitismus waren in Europa jahrhundertealte Phänomene, als die Nazis 1933 in Deutschland an die Macht kamen. Die antijüdischen Maßnahmen gingen von den christlichen Kirchen, weltlichen Herrschern und von Angehörigen unterschiedlicher Schichten der Mehrheitsbevölkerung aus. Sie mündeten in christlichen Zwangstaufen, Vertreibungen, gewaltsamen Übergriffen, Massentötungen und Ausgrenzungen aus der Gesellschaft, zum Beispiel durch das Verbot, bestimmte Berufe auszuüben. Trotz der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden jüdischen Emanzipation, womit das Streben nach bürgerlicher Gleichstellung in vielen europäischen Staaten, das mit zahlreichen Rückschlägen verbunden war, gemeint ist, konnten die Nazis auf vielen judenfeindlichen Stereotypen aufbauen, die in der deutschen Gesellschaft seit Generationen verwurzelt waren. Dazu zählte die in der Neuzeit verbreitete antisemitische Erzählung einer »jüdischen Weltverschwörung«, nach der die Juden bezichtigt wurden, die Herrschaft über die Welt an sich reißen zu wollen. In dem oben aufgeführten Zitat aus Hitlers Reichstagsrede vom Januar 1939 wird deutlich, dass die Nazis »das Judentum« einerseits mit dem Finanzkapital, von ihnen auch als »raffendes Kapital« bezeichnet, gleichsetzten, und es außerdem als Urheber der Russischen Revolution von 1917 und des dortigen Bolschewismus darstellten.
Die Nazis betrieben eine Politik im Interesse verschiedener deutscher Kapitalfraktionen und sahen nicht den Kapitalismus, sondern lediglich jüdische Unternehmer als Problem an. Deren Betriebe wurden liquidiert oder »arisiert«, also enteignet, und einem neuen Besitzer aus der Mehrheitsgesellschaft übergeben. Zugleich schürten die Nazis Hass auf Kommunisten und Juden gleichermaßen, indem sie den Bolschewismus als »jüdisch« etikettierten. Rotarmisten und andere Bolschewiken wurden auf NS-Propagandaplakaten als blutrünstige Monster mit langen Nasen, leicht abstehenden Ohren und bösartig blitzenden Augen dargestellt, also mit Merkmalen antisemitischer Karikaturen. Juden wurden einerseits als minderwertige Spezies bezeichnet, die innerhalb des Deutschen Reichs ein »Parasit« im deutschen »Volkskörper« seien und zugleich »Drahtzieher« des Bolschewismus und »Kriegstreiber«, die das Deutsche Reich auch von außen bedrohten. Diese antisemitische und antikommunistische Erzählung vom »jüdischen Bolschewismus« war die ideologische Grundlage für den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion ab Juni 1941.
Die NS-Propaganda fiel im Deutschen Reich auf fruchtbaren Boden. Der US-amerikanische Historiker Raul Hilberg, der in Wien geboren wurde und viele Angehörige durch den Holocaust verloren hat, wies in seinem Standardwerk zur Geschichte des Holocaust (»Die Vernichtung der europäischen Juden«) nach, dass alle deutschen Institutionen von der Kirche bis zum Finanzministerium in arbeitsteiliger Weise ihren Anteil an der Judenvernichtung hatten.6 Als zentrale Akteure machte Hilberg die Ministerialbürokratie, die Wehrmacht, die Partei – also die NSDAP und die SS als militärischen Arm der Partei – sowie die deutsche Industrie aus. Sie hätten sich trotz unterschiedlicher Interessen auf die Ermordung der europäischen Juden verständigt und seien in der Folge zu einer »Vernichtungsmaschinerie« verschmolzen.7
Als Grund für die umfassende Beteiligung am Völkermord kann nicht allein antisemitischer Wahn angeführt werden. Wichtig war zumindest zeitweise auch das Streben nach Profit. So hatte der deutsche Wirtschaftssektor eine beachtliche Anzahl der zuvor von Juden geführten Unternehmen geschluckt. Der Gewinn belief sich auf mehrere Milliarden Reichsmark. Das Finanzministerium trieb die Gelder, welche die Juden als Bezahlung für ihre Firmen erhalten hatten, durch willkürliche Sonderabgaben ein, durch die »Reichsfluchtsteuer« und die »Sühneleistung«. Letztere wurde nach dem tödlichen Attentat von Herschel Grynszpan, der sich für die Demütigung und schlechte Behandlung seiner jüdischen Familie und Freunde durch die Nazis rächen wollte, auf den deutschen Botschaftssekretär in Paris, Ernst Eduard vom Rath, und den antisemitischen Novemberpogromen 1938 eingeführt. Als »Sühne für die feindliche Haltung gegenüber dem deutschen Volk«, wie es im offiziellen Sprachgebrauch hieß.8
Später wurden Juden durch Zwangsarbeit in den Ghettos und Konzentrationslagern ausgebeutet. Ein Nutznießer war die Wehrmacht, weil dort unter anderem Uniformen, Munitionskisten und Schuhe hergestellt wurden. Die I.G. Farben, die Friedrich Krupp AG, die Hermann-Göring-Werke,...
| Erscheint lt. Verlag | 1.6.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Antisemitismus • Antiziganismus • Basiswissen • Den Haag • Ethnische Säuberung • Gaza • Holocaust • Imperialismus • Internationale Gerichtsbarkeit • Internationaler Strafgerichtshof • Jugoslawien • Kolonialismus • Krieg • Mord • Nürnberger Prozesse • Propaganda • Ruanda • Shoah • Ukraine • Unterdrückung • Vereinte Nationen • Verfolgung • Vernichtung • Vertreibung • Völkermord • Völkerrecht |
| ISBN-10 | 3-89438-920-6 / 3894389206 |
| ISBN-13 | 978-3-89438-920-8 / 9783894389208 |
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