Malingering (eBook)
115 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-8197-1493-1 (ISBN)
Reto Wernli Kaufmann ist MAS mental Health an der Berner Fachhochschule, Dept. Gesundheit Trainer Aggressionsmanagement CFB / NAGS dipl. Erwachsenenbildner HF und dipl. Dozent Höhere Fachschulen dipl. Pflegefachmann DN II/HF mit Schwerpunkt Psychiatrie
‘malingering’ – Deutung und Handeln 7
1 Einleitung
Will man von öffentlichen Leistungen Gebrauch machen, spielt die Diagnostik eine zentrale Bedeutung. Dies trifft nicht nur, aber in besonderem Masse auch auf das Gesund-heitswesen zu, inklusive auf die Psychiatrie als Teildisziplin und ebenfalls anverwandt hierzu, auf die Psychologie. Es scheint, dass es gegenwärtig, d.h. auf besonders akzentu-ierte Weise, Usus ist, juristische, pädagogische, sozialversicherungsrechtliche (u.a.) Be-lange von der medizinischen oder psychologischen Einzelfallbeurteilung abhängig zu ma-chen. Die Diagnostik regelt zwischen Integration und Ausschliessung (Anhorn, Bettinger, & Stehr, 2007), wobei die Berechtigung zu Unterstützungs- und Behandlungs-, als auch Entschädigungsleistung anhand von standardisierten Tests entschieden wird. Falls eine Be-handlung (oder Leistung in anderem Sinne) diagnostisch legitim erscheint, regeln weitere Erwartungen den Vollzug der Unterstützungszusammenarbeit. Parson (1951) beschreibt die Rolle des Kranken/Patienten mit der Bezugnahme auf die Besonderheiten im Rollenset, die charakterisiert ist durch eine «Befreiung von normalen Verpflichtungen» und «dem Recht auf Versorgung» auf der einen, aber auch durch «die Verpflichtung, gesund werden zu wollen» und der «Verpflichtung, fachkompetente Hilfe aufzusuchen und sich koopera-tiv zu verhalten» auf der anderen Seite (Segall, 1976). Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit hat sich in den vergangenen 60 Jahren weiterentwickelt und zuweilen auch von der Bezugnahme auf Rechte und Pflichten gelöst; eine Anerkennungsbereitschaft unter vielen Berufs- und Fachpersonen des Gesundheits- und Sozialwesens ist festzustellen, in-dividuelle Konzeptionen der Betroffenen ernst zu nehmen, wie dies im Rahmen von Re-covery bei psychisch Kranken zunehmend Anerkennung findet (Molan, 2007). Trotz dieser angezeigten Individualisierung scheint sich auch die (psychiatrische) Pflege mit intensiver mit der ihren Leistungen vorgeschalteten Diagnostik, die sich im Rahmen der Behandlung um Identifikationen von Phänomenen im Erleben und in der Handhabung von Krankheit und der Behandlung derjenigen bemüht, zu bedienen (Müller-Staub_Georg_(Hrsg.), 2014), (Sauter, Needham, & Wolff, 2013).
Ein Phänomen, welches in der systematischen Suche nach einer passenden Dia-gnose im medizinisch psychiatrischen und meist auch forensischen Sinne als Ausschluss-‘malingering’ – Deutung und Handeln 8
kriterium gehandelt wird, ist das Vorgeben von Beschwerden, ohne dass diese vom Exper-ten bestätigt werden können; das Phänomen, Krankheitszeichen zu «simulieren» (engl. ‘malingering’). Gemäss dem amerikanischen Diagnosemanual Psychiatrischer Störungen, dem DSM-IV-TR (APA, 2000) wird in der Psychiatrie, Simulieren als die "absichtliche Herstellung gefälschter oder grob übertriebener körperlicher oder psychischer Symptome" verstanden, „die durch die Aussicht auf externe Anreize, beispielsweise um eine finanzielle Entschädigung zu erhalten, motiviert sind“ (ebd.). Im ICD-10, dem Diagnosemanual der WHO wird man fündig in der sog. Z- Gruppe, welche Möglichkeiten zusammenfasst, weshalb ‘Personen das Gesundheitswesen aus anderen Gründen in Anspruch nehmen’ (World health organization , Version 2016).
2 Stand der Forschung
Gemäss Nedopil (2012) lässt sich ‘malingering’ charakterisieren durch ein Versa-gen des Patienten in einfachsten Testanforderungen, die in der Regel selbst von (mittel-schwer) geschädigten Patienten noch befriedigend gelöst werden können; grobe Abwei-chungen der Testleistungen von klinischen und statistischen Norm- und Erwartungswer-ten; Unstimmigkeiten zwischen neurologischen und neuropsychologischen Befunden; Un-stimmigkeiten zwischen Testbefunden und lebensalltäglichen Kompetenzen und Fähigkei-ten des Untersuchten; auffällig inkonsistente Testbefunden (z.B. bei Wiederholungsunter-suchungen mit demselben Verfahren und/oder zwischen Verfahren mit vergleichbarer dia-gnostischer Zielsetzung, z.B. bezüglich des visuellen Gedächtnisses) (S. 173ff.).
Es gibt grosse Divergenzen hinsichtlich Basisraten und Prävalenzschätzungen zum Phänomen ‚malingering‘ (Young 2014, S.27), die je nach Untersuchung, vom Sample und dem Untersuchungskontext abhängig, bei gegebener Repräsentativität zwischen 15% und 60% liegen.
Im DSM V (APA 2015) wird ‘malingering’ in einer Kategorie des Kapitels «andere klinisch relevante Probleme», in «andere Faktoren in der persönlichen Vorgeschichte», im Unterkapitel «Nichtbefolgen von Behandlungsanweisungen» als «Z76.5 Simulation» ka-tegorisiert. Dabei sind 4 Kriterien angeben, welche ‚malingering‘ zu Grunde liegen, mit einer Betonung auf das verhaltensmotivierende Streben nach externen Anreizen, wie bspw. ‘malingering’ – Deutung und Handeln 9
Vermeidung von Militärdienst, Vermeidung von Arbeit, Erhalt finanzieller Entschädigung und dem Entgehen gerichtlicher Verfolgung (S.1002).
Die vier Kritisiert sind, « die Symptomdarbietung steht in forensischem Kontext […], deutliche Diskrepanz zwischen der von der Person berichteten Belastung oder Behinde-rung und den objektiven Befunden oder Beobachtungen, Mangel an Kooperation bei den diagnostischen Untersuchungen und den verordneten Behandlungsmassnahmen, sowie das Vorhandensein einer antisozialen Persönlichkeitsstörung.» (ebd.). Gemäss Young (2014) werden diese von Fachvertretern zum einen deshalb kritisiert, weil die APA ausschliesslich auf den medikolegalen Kontext verweist (einzig im forensisch psychologischen Kontext anzubringen). Ebenso wurde kritisiert, dass die Definition von ‚malingering‘ im DSM IV/IV-TR (APA, 2000) ausschliesslich von einem Streben nach externen Anreizen aus-geht. In der Version DSM V wird anschliessend an die vier Kriterien für ein Simulieren auf die differenzialdiagnostische Abgrenzung zur Vortäuschung einer Störung verwiesen, worin der Hinweis, welcher von Warren (2011) formuliert wurde, Berücksichtigung ge-funden zu haben scheint, dass der primäre Gewinn bereits darin bestehen kann, sich durch die Präsentation von Symptomen Erleichterung zu verschaffen, möglicherweise, um damit unbewusste Konflikte zu vermeiden, wie bspw. um dadurch eine akzeptable Entschuldi-gung zu bieten, eine Situation vermeiden zu können oder um Hilfe zu bekommen. (Warren 2011, zitiert in Young 2014).
Miller et al. (2011), welche das Thema breiter zu fassen versucht haben, stellten fest, dass die Übertreibung (exaggeration) wohl die häufigste Form des Simulierens in der forensisch psychologischen Beurteilung sei. «Als Übertreibung stellt der Patient wahre Symptome oder durch eine Verletzung verursachte Beeinträchtigungen als schlimmer dar, relativ zum vermutbaren Ist-Zustand.» (Miller et al. 2011 zitiert in Young 2014, S.29). Des Weiteren stuften die Autoren das Phänomen der Übertreibung graduell ab. Kane und Dvoskin (2011) positionierten sich mit einem dimensional angelegten Modell zwischen milder Übertrei-bung und dem eigentlichen Simulieren (malingering od. feigning) in der Fachdiskussion und weisen eine Normalverteilung des Phänomens in der Population medizinisch diagno-stisch erfasster Personen nach (Kane und Dvoskin zitiert in Young 2014). Die Autoren gehen zudem von einer, unabhängig zur Intensität des Phänomens klassifizierbaren Unter-teilung in ‚bewusst‘ resp. ‚unbewusst‘ aus. Ruff und Jamora führen zudem eine kulturelle Dimension in der Beschreibung des Phänomens ein (Ruff und Jamora 2008 in Young ‘malingering’ – Deutung und Handeln 10
2014). In ihrem Assessment-Instrument zur Erkennung von ‚malingering‘ müssen das Al-ter, das genderspezifische Geschlecht, als auch weitere soziokulturelle Faktoren mitbe-rücksichtigt werden. (Young, 2014, S. 30). Als zusätzliche Diversifizierung benennen Mil-ler et al. (2011) die sog. ‚Extension‘, wobei sich tatsächlich vorbestehende Symptome und Beeinträchtigungen bis zum Untersuchungszeitpunkt gebessert haben sollen, wobei der Patient behauptet, dass das Leiden unverbessert fortbestehen oder sich gar verschlechtert haben soll (Miller et al. 2011 zitiert in Young 2014). Entsprechend der hitzig geführten Debatte der vergangenen Jahre in fachpsychiatrischen Kreisen besteht eine grosse Evidenz über testpsychologische Verfahren und deren Optimierungen (vgl. Kap.4.1)
Die hochspezialisiert testpsychologisch ausgerichtete Beurteilung von «vorge-täuschtem Patientenverhalten» kann dazu führen, dass Personen von Leistungen des Ge-sundheitswesens ausgeschlossen werden, wobei statistisch berechnete Werte einen ge-wichtigen Teil der Legitimation ausmachen. Young (2014) betont, dass dem Patienten, der Symptome vortäuscht (aus welchem Grund auch immer er dies tut), dennoch diesbezügli-che (professionelle) Beachtung zu schenken sei. Es darf ihm kein therapeutischer Nachteil erfahren (Young, 2014). Auch wenn im Umgang mit ‘malingering’, wie es Pflegefachper-sonen Psychiatrie in ihrem Alltag zuweilen begegnen, kein kontradiktisches Urteil (mit juristischen Konsequenzen) ansteht, ist zu vermuten, dass alleine der Verdacht, der Patient könnte seine Äusserungen übertreiben, vortäuschen – gar simulieren- ausreicht, um die Interaktion aus der gewohnten rollenüblichen Reziprozität zu hebeln. Die Beziehung zwi-schen Pflegefachperson und dem Patienten könnte unsicher werden; das Risiko für einen ungünstigen Fortgang der...
| Erscheint lt. Verlag | 23.5.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
| Schlagworte | Berufsbild • Deutungsmuster • dokumentarische Analse • handlungsimplikationen • Interviews • Malingering • Psychiatrische Pflege • Rollenbilder |
| ISBN-10 | 3-8197-1493-6 / 3819714936 |
| ISBN-13 | 978-3-8197-1493-1 / 9783819714931 |
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