Teilhabe-Dialog (eBook)
146 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-045477-4 (ISBN)
Dr. Rüdiger Grimm, war Professor für Heilpädagogik an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter.
2 Teilhabe-Dialog im Prozess
Diagnostische
PerspektiveTeilhabe-Dialog ist, wie beschrieben, nicht eine spezifische Form, sondern ein Prinzip zur Unterstützung der Selbstbestimmung von Menschen mit Assistenzbedarf und ihrer Teilhabe am Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft. Er kann als fortgesetzter Beratungs- und Begleitungsprozess in unterschiedlichen Formaten verstanden werden. Diese können formellen und informellen Charakter haben (vgl. Beratung und Begleitung), regelmäßig oder einmalig stattfinden, mehr oder weniger Personen einbeziehen und unterschiedliche Zeitdauer in Anspruch nehmen – so wie es der gegebenen Aufgabe und den gegebenen Möglichkeiten entspricht.
Die Idee der Sozialen Diagnostik, einer wichtigen Grundlage des Teilhabe-Dialogs, beruht auf der Umkehrung diagnostischer Verfahren, die vorwiegend auf einer Merkmalsfeststellung beruhen. Sie stellt den betreffenden Menschen nicht in das abwägende und objektivierende Blickfeld der Expertise anderer, sondern sieht ihn als Co-Akteur in einem gemeinsamen Prozess des Sich-Selbst-Verstehens und des Verstanden-Werdens. Sie ist der Versuch des (Selbst-)Verstehens des Individuums vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte, seiner somatischen, seelischen und geistigen Lebenslage und seiner materialen und sozialen Welt im Hinblick auf sein persönliches Erleben und Handeln und die damit verbundenen biografischen Erfahrungen.
Offener CharakterWelche konkreten Formen der Teilhabe-Dialog annimmt, ist Sache der beteiligten Personen mit Assistenzbedarf und ihres Umkreises an Bezugspersonen mit sozialem und fachlichem Hintergrund. In Einrichtungen und Diensten können vor dem Hintergrund der hier dargestellten Prozessgestalt Arbeitsformen entwickelt werden, die den Bedürfnissen der dort lebenden, lernenden und arbeitenden Menschen am besten gerecht werden.
An dieser Stelle werden – in Weiterführung des Kapitels über Beratung – Gesichtspunkte entwickelt, die vorwiegend für Situationen mit eingehenderen Beratungsprozessen infrage kommen. Entsprechende Anlässe liegen z. B. vor, wenn umfängliche Beratungen anstehen, z. B. eine jährliche Standortbestimmung, das Bedürfnis nach Veränderungen und Neuorientierung, die Klärung komplexer Lebenssituationen, die Aufarbeitung von Konflikten oder die Wahrnehmung sozialer Rechte, z. B. im Rahmen des Gesamtplanverfahrens, und andere Anliegen.
2.1 Leitgesichtspunkte für den Teilhabe-Dialog
Für den Teilhabe-Dialog gibt es Gesichtspunkte, die zu seinem Gelingen maßgeblich beitragen:
Ziele, Haltungen und MittelDer Teilhabe-Dialog soll Menschen mit Assistenzbedarf helfen, sich selbst in ihrer Lebenssituation besser zu verstehen und auch von anderen Menschen besser verstanden zu werden. Soll dieser Dialog gelingen, muss er ergebnisoffen sein und geprägt von Achtung und Respekt, von Beziehungsfähigkeit und Verantwortung, von Unvoreingenommenheit und Bereitschaft zu neuen Vorstellungen und Erfahrungen. Ein solcher Dialog verläuft nicht willkürlich, sondern in methodischen Schritten, die ihn nachvollziehbar und in seinen sachlichen wie intuitiven Anteilen verständlich machen. Somit ist er ein Erkenntnisinstrument, das nicht nur für den jeweiligen Menschen in seiner besonderen Lebenssituation, sondern auch für seine Umgebung zu neuen Perspektiven, einem vertieften und gelingenden Erkennen, Erleben und Handeln führen kann.
BiografieorientierungAlles Erleben und Handeln werden Teil der eigenen Lebensgeschichte. Zu einem gelingenden Leben gehört eine tiefgreifende Erfahrung des Gebens und Nehmens zwischen Menschen, geprägt durch das fundamentale Gefühl, Akteurin, Akteur des eigenen Lebens zu sein und in der Welt wirksam sein zu können. Dabei entstehen bedeutungsvolle Begegnungen und Beziehungen, die dazu beitragen, die Herausforderungen im Leben erfolgreich zu meistern und zu einem Teil der eigenen Biografie werden zu lassen. Auch Nicht-Gelungenes oder gar Scheitern können im größeren Ganzen eines Lebens in ihrem Entwicklungswert erlebt werden und damit wesentlich zu Reifungsprozessen beitragen.
EntwicklungsbezugVom Standpunkt der menschlichen Biografie bedeutet Leben Entwicklung. Entwicklung ist kein passives Geschehen, sondern ein individueller Verwirklichungsimpuls des Menschen, der auf seine Weise auf die soziale, geistige, natürliche und technische Umwelt und deren Anregungen und Herausforderungen antwortet. Entwicklung ist nicht nur eine Handlungs-, sondern auch eine Daseinsqualität. Sie vollzieht sich in kraftvollen Akten und Handlungen ebenso wie in diskret verlaufenden Beziehungs- und Reifungsvorgängen, die als Lebenserfahrung erscheinen und die Daseinsdimension im Menschen prägen. Entwicklungsbezug bedeutet nicht, Menschen ständig zu neuen Fördermaßnahmen zu nötigen oder gar soziale und rechtliche Unterstützung von aufgesetzten Entwicklungsleistungen abhängig zu machen.
SelbstbestimmungDie Orientierung an den Grundwerten von Selbstbestimmung und Teilhabe muss sich sowohl im Alltag in konkreten Wahl- und Entscheidungssituationen als auch im sozialen Leben in einer mehrdimensionalen Handlungspraxis wiederfinden. Zur Realisierung ihres Selbstbestimmungsrechts müssen den betreffenden Menschen in einer langzeitlichen Perspektive, aber auch ad hoc die entsprechenden Bildungs-, Beratungs- und Begleitungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden.
KommunikationDer Teilhabe-Dialog berücksichtigt die kommunikativen und persönlichen Möglichkeiten und Kompetenzen der Person, z. B. bei Vorliegen von lautsprachlichen und kognitiven Einschränkungen. Durch Assistenz und Anwendung augmentativer und alternativer Kommunikationsformen können Barrieren abgebaut werden. Vor allem muss Sorge dafür getragen werden, dass die Person im Mittelpunkt an allen Stellen des Gesprächs beteiligt bleibt und dessen Ergebnisse für sie transparent und übersichtlich werden.
Person und UmweltDa das Individuum immer in Bezug zu seiner Umgebung steht, sind die Austauschbeziehungen zwischen beiden Seiten als kreativer Spannungsprozess zu beobachten und auszubalancieren. Vor allem darf die Last von Veränderungsprozessen niemals nur dem einzelnen Menschen auferlegt werden. Partizipation und Teilhabe bedeuten immer auch, dass sich die Umwelt verändern muss.
Erfassungsinstrumente der SozialleistungsträgerDie offene Form des Teilhabe-Dialogs muss nicht per se den Bedarfsermittlungsinstrumenten der Leistungsträger und deren Grundlagen in der ICF und im SGB IX entsprechen, kann diese jedoch einbeziehen. In jedem Fall soll es möglich sein, den Bezug zu ihnen herzustellen, um eine reibungslose Kommunikation mit den Leistungsträgern und zum Zugang zu notwendigen Unterstützungsleistungen z. B. im Gesamtplanverfahren nach SGB IX zu ermöglichen.
RessourcenUm den Raum für wirksame Beratungsprozesse zu gewährleisten, müssen die notwendigen fachlichen, sozialen und materiellen Ressourcen zur Verfügung stehen. Gemäß den Bedingungen eines dialogischen Verstehens ist ein solcher Prozess nicht ein für alle Mal beendet, sondern verläuft wiederkehrend, indem die einmal gewonnene Einsicht zum Ausgangspunkt für einen erneuten Reflexionsprozess wird. Verstehen beruht jedoch nicht nur auf einem erneuten Reflektieren von Vorgängen, Prozessen, Bildern, sondern auf einem Erleben von qualitativ unterschiedlichen Erfahrungsstufen, wie sie ein hermeneutisch-phänomenologischer Ansatz, wie er im Folgenden in Ansatz gebracht wird, ermöglichen kann.
2.2 Perspektiven im Teilhabe-Dialog
Der Teilhabe-Dialog als soziales Geschehen führt die Teilnehmenden unter mehreren Perspektiven zusammen, in einer
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Ich-Perspektive
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Du-Perspektive
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Wir-Perspektive und einer
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Es-Perspektive.
Person im MittelpunktDie Person im Mittelpunkt des Teilhabe-Dialogs nimmt die Ich-Perspektive ein. Sie kann sich als initiativ handelnd erleben, weil sie den Teilhabe-Dialog als Geschehen mitinitiiert hat, oder weil ihr die initiative Rolle zukommt. Je nach ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen kann sie dabei mehr oder weniger Unterstützung erfahren. In jedem Fall ist sicherzustellen, dass die Ich-Perspektive erhalten bleibt, auch und gerade dann, wenn advokatorische Anteile – wie bei Menschen mit schweren Behinderungen und Kommunikationseinschränkungen – größeren Raum einnehmen, sofern diese nicht in der Lage sind, selbst aktiv an dem Gespräch teilzunehmen.
Die BegleitendenDie Du-Perspektive besteht in der fragenden, antwortenden und mitsuchenden Rolle, und darin, ein Gegenüber zu bilden. Sie ist zum Teil eine fachliche Aufgabe, die von Personen wahrgenommen wird, die mit dem Menschen im Mittelpunkt in einer beruflich geprägten Beziehung stehen. Diese verfügen über das notwendige Fach- und Prozesswissen, um einen gelingenden Dialog zu führen. Zum anderen Teil ist sie eine Aufgabe, die von Angehörigen, Peers, Menschen aus dem Freundeskreis oder aus dem Kollegium – je nach dem Wunsch der Person im Mittelpunkt –...
| Erscheint lt. Verlag | 14.5.2025 |
|---|---|
| Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Heinrich Greving |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
| Schlagworte | Eingliederungshilfe • Selbstbestimmung • Selbstbestimmungsrecht |
| ISBN-10 | 3-17-045477-3 / 3170454773 |
| ISBN-13 | 978-3-17-045477-4 / 9783170454774 |
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