Praxishandbuch: Supervision (eBook)
242 Seiten
Books on Demand (Verlag)
9783819217746 (ISBN)
Thomas Kalkus-Promitzer wurde 1971 in Wien geboren. Inzwischen lebt und arbeitet er hauptsächlich in Graz. Er berät, begleitet, unterrichtet, schreibt und wirkt als psychosozialer Berater, Systemischer Coach, Erwachsenenbildner, Traumapädagoge, Traumazentrierter Fachberater und Supervisor. Für seine Arbeit wurde er mehrmals ausgezeichnet. In seiner Freizeit arbeitet er ehrenamtlich als psychosozialer Akutbetreuer des Kriseninterventionsteams des Landes Steiermark.
Historische Entwicklung und Professionalisierung der Supervision
Supervision ist heute ein unverzichtbarer Bestandteil psychosozialer Berufe. Ob in der Sozialen Arbeit, im Gesundheitswesen, in der Bildung oder in therapeutischen Berufen - überall, wo professionelle Beziehungsgestaltung gefragt ist, hat sich Supervision als Methode zur Reflexion, Qualitätssicherung und Burnout-Prävention etabliert. Doch dieser Status ist das Ergebnis eines langen historischen Entwicklungsprozesses, der im späten 19. Jahrhundert in den USA seinen Ausgang nahm und über viele Jahrzehnte hinweg durch unterschiedliche gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Strömungen geprägt wurde.
Die Anfänge: Supervision als soziale Kontrolle
Die ersten strukturellen Vorläufer der heutigen Supervision entstanden im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden sozialen Verwerfungen in den wachsenden Städten der Ostküste der Vereinigten Staaten. Mit der Gründung der Charity Organization Society (COS) im Jahr 1878 in New York wurde ein neues Kapitel in der Organisation wohltätiger Hilfe aufgeschlagen. Ziel der COS war es, bedürftige Familien nicht nur finanziell, sondern auch moralisch und beratend zu unterstützen - mit dem klaren Anspruch, Armut durch individuelle Lebensführung und nicht durch strukturelle Bedingungen zu erklären.
Im Zentrum dieser frühen Praxis standen die sogenannten Friendly Visitors: meist bürgerliche Frauen, die ehrenamtlich Familien in schwierigen Lebenslagen aufsuchten. Sie sollten durch „gute Gespräche“ und sittliches Vorbild die Lebensweise dieser Familien beeinflussen. Nur wenn eine nachweislich „bessere Führung“ der Familien erkennbar war, wurde finanzielle Hilfe gewährt. Diese Besuche waren keineswegs romantisierend oder emanzipatorisch gedacht - vielmehr verkörperten sie eine Form moralischer Kontrolle im Dienste einer bürgerlichen Sozialethik (vgl. Müller-Hermann, 2016, S. 22).
Die Friendly Visitors arbeiteten unter der Anleitung von hauptamtlichen Angestellten der COS, meist Männer, die die Einsätze koordinierten, kontrollierten und auswerteten. Diese Männer gelten heute als die ersten Supervisoren - nicht im Sinne einer gleichberechtigten Reflexionspartnerschaft, sondern als verlängerter Arm der Organisation zur Sicherung der Qualität und Effizienz der Helfer:innenarbeit. Damit war Supervision zunächst Teil eines paternalistisch geprägten Hilfeverständnisses - ein Aspekt, der im heutigen Verständnis weitgehend überwunden ist, aber als Ursprung nicht ausgeblendet werden darf.
Mary Richmond und die Geburt des „Social Casework“
Eine zentrale Figur dieser Frühphase war Mary Ellen Richmond (1861-1928), Generalsekretärin der COS in Baltimore und später New York. Sie gilt als Begründerin des Social Casework - einer systematischen Methode individueller Hilfeplanung auf der Basis sorgfältiger Fallanalyse, Datenerhebung und Dokumentation. In ihrem Hauptwerk Social Diagnosis (1917) legte sie erstmals ein methodisch reflektiertes Vorgehen für die soziale Einzelhilfe vor - eine Revolution im bis dahin stark von subjektiven Moralurteilen geprägten Bereich der Armenhilfe (vgl. Richmond, 1917).
Richmond erkannte die Notwendigkeit einer fachlichen Begleitung der Helfer:innen, um sowohl die Qualität der Unterstützung als auch das professionelle Selbstverständnis zu fördern. Ihre Forderung nach systematischer Ausbildung, Supervision und Reflexion war wegweisend - und beeinflusst die Soziale Arbeit bis heute. Ihre Institution, die COS, wurde später zur heutigen Columbia University of Social Work - einem Zentrum der Ausbildung in Sozialarbeit und Supervision.
Erste Kurse und staatliche Anerkennung
1911 wurde durch die Russell Sage Foundation erstmals ein Kurs für Supervision angeboten - ein Zeichen für die wachsende Anerkennung dieses Formats (vgl. Kadushin, 1992). Allerdings war Supervision noch lange Zeit auf den Bereich der Caseworker beschränkt - also auf jene Fachkräfte, die direkt mit Klient:innen arbeiteten. Die Rolle der Supervisor:innen blieb eher administrativ und kontrollierend, doch entwickelte sich langsam ein Verständnis für die Notwendigkeit emotionaler und fachlicher Unterstützung.
Der große Umbruch kam ab 1933 mit der staatlichen Übernahme der materiellen Armenfürsorge in den USA, ausgelöst durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929. Die bis dahin überwiegend privat organisierten Wohltätigkeitsorganisationen verloren ihre zentrale Rolle in der materiellen Grundversorgung und mussten sich neu positionieren. Supervision entwickelte sich nun stärker zu einem Mittel der professionellen Begleitung und Reflexion.
Ein Beispiel aus dieser Zeit: Eine Supervisorin berichtete von einem jungen Caseworker, der wiederholt Schwierigkeiten hatte, sich von belastenden Fällen abzugrenzen. Im Rahmen der Supervision wurde nicht nur über methodische Vorgehensweisen reflektiert, sondern auch über persönliche Reaktionen und biografische Bezüge gesprochen. Diese Form der Begleitung markiert den Übergang zur integrativen Sichtweise auf Fachlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung.
Der Einfluss der Psychoanalyse
In den 1930er-Jahren emigrierten viele Psychoanalytiker:innen - aufgrund des Nationalsozialismus - aus Europa in die USA. Zu den bekanntesten unter ihnen zählten Karen Horney, Erich Fromm, Wilhelm Reich und Erik Erikson. Ihre Konzepte stießen zunächst auf Vorbehalte, beeinflussten aber bald die Supervisionspraxis tiefgreifend.
Besonders Konzepte wie Übertragung, Gegenübertragung und die Bedeutung unbewusster Prozesse fanden zunehmend Eingang in die Supervision (vgl. Flösser/Wendt, 2004). Ein Beispiel aus einer Einrichtung für psychisch erkrankte Erwachsene zeigt, wie ein Team durch Supervision erkannte, dass es auf einen Klienten unbewusst mit alten Beziehungsmustern reagierte. Die Supervisorin leitete daraus neue Perspektiven für den Umgang mit dem Fall ab.
Die Emigration dieser Fachleute trug maßgeblich zur Entwicklung einer beziehungs- und reflexionsorientierten Supervision bei - und legte damit das Fundament für die klinische Supervision.
Die Etablierung klinischer Supervision
Ab den 1940er-Jahren wurde die sogenannte klinische Supervision eingeführt - zunächst in psychiatrischen Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Hier stand die Reflexion der Beziehung zwischen Patient:innen und Fachpersonal im Vordergrund. Supervisor:innen verstanden sich zunehmend als Prozessbegleiter:innen, nicht mehr nur als Kontrollinstanzen.
Ein Beispiel aus Boston: Pflegekräfte, die in der Arbeit mit selbstverletzendem Verhalten abstumpften, konnten in der Supervision ihre ursprüngliche Motivation und innere Haltung reflektieren und dadurch wieder Zugang zu empathischem Handeln finden.
Dieser Ansatz fand später auch Eingang in die Soziale Arbeit. Die klinische Supervision etablierte sich als Instrument der Burnout-Prävention und der professionellen Selbstreflexion - und bildet bis heute einen zentralen Pfeiler der Supervisionspraxis.
Rückkehr nach Europa und neue Impulse
In den 1950er- und 1960er-Jahren kehrte Supervision, bereichert durch die Entwicklungen in den USA, zurück nach Europa. Eine Schlüsselrolle spielte der ungarische Psychoanalytiker Michael Balint, der in England sogenannte Balint-Gruppen für Ärzt:innen leitete. Diese Form der Fallbesprechung rückte die Arzt-Patient-Beziehung in den Mittelpunkt - und beeinflusste auch Sozialarbeit und Psychotherapie nachhaltig.
In Deutschland und Österreich wurde der Begriff Supervision erst ab den 1970er-Jahren geläufig. Zuvor sprach man von Praxisberatung oder Fallbesprechung. Mit der Gründung von Ausbildungsinstituten und Berufsverbänden wie der DGSV (1975) und dem ÖVS (1994) wurde Supervision zur eigenständigen Profession.
Die Entwicklung in Österreich
In Österreich spielte der Österreichische Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik (ÖAGG) eine zentrale Rolle in der Etablierung professioneller Supervision. Ab den 1970er-Jahren entstanden erste spezialisierte Fortbildungen. Mit der Gründung des ÖVS wurden Ausbildungsstandards, Ethikrichtlinien und Qualitätskriterien eingeführt.
Heute ist Supervision in Österreich in zahlreichen Berufsfeldern gesetzlich oder institutionell verankert - etwa in der Psychotherapie, der psychosozialen Beratung, der Sozialarbeit sowie in Schulen und Pflegeberufen. Die österreichische Supervisionslandschaft ist methodisch vielfältig und interdisziplinär geprägt.
Rechtliche Verankerung der Supervision in Österreich
In Österreich ist die Ausübung von Supervision rechtlich geregelt und fällt unter bestimmte gesetzliche Bestimmungen, insbesondere die Gewerbeordnung sowie sektorspezifische Berufsgesetze. Supervision kann von mehreren Berufsgruppen angeboten werden, wobei die jeweilige Berechtigung und fachliche Ausrichtung variieren.
Folgende Konstellationen sind derzeit rechtlich zulässig:
- Psychotherapeut:innen, Ärzt:innen mit Psychotherapiediplom sowie...
| Erscheint lt. Verlag | 25.4.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
| ISBN-13 | 9783819217746 / 9783819217746 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,0 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich