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Wer bin ich? (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
128 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-07603-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wer bin ich? -  Paul Lendvai
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Der große Journalist Paul Lendvai als Zeuge des Jahrhunderts
Der 95-jährige Paul Lendvai ist Österreicher, Ungar, Jude und Europäer: Was bestimmt seine Identität? Geboren in Budapest, überlebte er nur knapp den Holocaust. 1953 wurde er als »Trotzkist« inhaftiert und danach mit Berufsverbot belegt, 1957 gelang ihm die Flucht nach Österreich. Hier fand er eine neue Heimat, hier wurde er zum international tätigen Journalisten. In seinem neuen Buch verknüpft er Biografisches mit Analytischem, heimische mit europäischer Politik. Trotz aller Kritik an Viktor Orbán ist er mit Ungarn eng verbunden. Und seit der Antisemitismus weltweit zunimmt, fühlt er sich stärker denn je als Teil der jüdischen Schicksalsgemeinschaft. In seinen Schilderungen wird deutlich: Identität besteht aus vielen Facetten, zusammen bilden sie das Wesen des Menschen.

Paul Lendvai, geboren 1929 in Budapest, lebt seit 1957 in Wien. Er war Leiter des ORF-Europastudios und ist Kolumnist der Wiener Tageszeitung »Der Standard«. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Zuletzt erschienen »Die verspielte Welt. Begegnungen und Erinnerungen« und 2024 bei Zsolnay »Über die Heuchelei«.

Ein österreichischer Patriot mit ungarischem Akzent


Die ungarischen Flüchtlinge 1956


Der Sitzungssaal des Presseclubs Concordia war an diesem Vormittag des 11. November 1986 voll. Kein Wunder angesichts der leidenschaftlichen Polemiken um die Vergangenheit des kurz zuvor zum Bundespräsidenten gewählten Kurt Waldheim nicht nur in Österreich, sondern auch in der internationalen Öffentlichkeit. Doch diesmal ging es um etwas anderes: um die Folgen eines dramatischen Ereignisses, des Volksaufstandes in Ungarn im Oktober 1956. Unter dem Titel »Zeitzeugen — 30 Jahre danach« stellten sich acht ehemalige Flüchtlinge, inzwischen bekannte Persönlichkeiten, der österreichischen und ausländischen Presse, um dem Asylland Österreich, stellvertretend für fast zweihunderttausend, ihren Dank auszusprechen. Die Österreicher seien hilfsbereit und fröhlich, freundlich und frei von Fremdenhass gewesen, sagten sie alle übereinstimmend bei der Schilderung ihrer Erlebnisse im Spätherbst und Winter 1956 nach der blutigen Unterdrückung des Volksaufstandes durch die sowjetische Armee.

Der Journalist Stephan Vajda, der in die USA oder nach Schweden hätte gehen können, blieb aus einem bemerkenswerten Grund in Österreich: Nach den Erfahrungen in einer Diktatur sei er allergisch gegenüber all den Fragen gewesen, die auf den Konsulaten gestellt worden seien. Hingegen habe ihn die Fremdenpolizei in Wien nur gefragt, ob er an diesem Tag schon gegessen habe, ob er wisse, wo er am Abend schlafen werde, und ob er schon jenen Ausweis besitze, mit dem er die Straßenbahn gratis benützen könne. Es sei eben wirklich so, wie es Franz Grillparzer seinerzeit geschrieben habe. »Es ist ein gutes Land, glauben Sie mir!«

Der Schriftsteller György Sebestyén erzählte, wie er von Heimito von Doderer und Alexander Lernet-Holenia liebevoll unter die Fittiche genommen worden sei. »Du bist ein Ungar und deshalb ein Österreicher«, schärfte ihm Doderer ein. Auch der inzwischen zum Präsidenten der Versicherungsgruppe Erste Allgemeine Generali gewordene Karl Kornis und der Presse-Redakteur Peter Martos erinnerten sich an die Hilfsbereitschaft der Österreicher. Die Berichte über die Pressekonferenz betonten allerdings schon damals die bange und dort nicht ausgesprochene Frage: Wie wäre es heute? Würde die Aufnahme jetzt auch so herzlich sein? Und ist von jener moralischen Kraft, die es damals in der Politik der Zweiten Republik gab, überhaupt noch etwas vorhanden?1

Mein lebenslanger Freund Kurt Vorhofer (1929 bis 1995) schrieb damals in der Kleinen Zeitung auch im Sinne des obigen Doderer-Zitats, dass wir privilegiert seien, weil eben aus Ungarn stammend: »Die Magyaren sind das einzige Nachbarvolk, über das hierzulande nicht gewitzelt oder gar gehöhnt wird. Selbst im Zerrbild der Wiener Operette kommen die Ungarn als respektable Feschaks meist recht gut weg.« In einer Sondernummer der Zeitschrift Europäische Rundschau über Österreich-Ungarn im neuen Europa vertiefte der Politikwissenschaftler Norbert Leser zehn Jahre später die Analyse.2 Er hob die Gemeinsamkeiten der beiden Völker hervor, die trotz der Konflikte während der Doppelmonarchie und um den Zankapfel Burgenland in der Zwischenkriegszeit bestünden, sie seien nicht nur in nachbarlicher Nähe und verwandten geschichtlichen Erfahrungen begründet, sondern auch im Lebensstil und im Nationalcharakter — hier sei vor allem die besondere Affinität der Wiener und der Budapester zu nennen. Der Aufstand vom Oktober 1956 war »für Österreich und die Österreicher eine Bewährungsprobe der Menschlichkeit und eine Möglichkeit, die Dankbarkeit dafür, dass Österreich um so viel besser gefahren ist als Ungarn, den lebenden Ungarn zugutekommen zu lassen«, so Norbert Leser.

Wer erinnert sich heute, außer den überlebenden Großeltern, noch daran, was damals an den Grenzen nach der brutalen Niederschlagung des Aufstandes passierte? In den Wochen nach dem sowjetischen Großangriff gegen die revolutionäre Regierung Anfang November 1956 erlebte Österreich den gewaltigsten Flüchtlingsstrom seiner Geschichte. Immerhin waren im November 113.810, im Dezember 49.685 und im Januar 1957, nach der hermetischen Abriegelung der Grenze, noch 12.882 Männer und Frauen aus dem wieder geknebelten Nachbarland nach Österreich geflüchtet; dann nahm die Zahl der »Neuzugänge« rapide ab. Der Eiserne Vorhang war kaum mehr zu überwinden. Insgesamt betrug die Zahl der Flüchtlinge, einschließlich jener, die aus Jugoslawien nach Österreich kamen, fast zweihunderttausend.

Zweifellos war der Ungarn-Aufstand und dessen Niederschlagung durch die Sowjets auch ein politischer und psychologischer Wendepunkt in der österreichischen Nachkriegsgeschichte. Dass ein Land nach sieben Jahren »Anschluss« und Krieg, nach zehn Jahren Besetzung und so kurz nach dem Abzug der fremden Soldaten die ungarischen Flüchtlinge derart selbstverständlich, unerschrocken und großzügig aufnahm, blieb für eine ganze Generation prägend und hat nicht wenig zum Selbstverständnis der Zweiten Republik beigetragen. Hier bestand ein Volk seine historische Bewährungsprobe. Wie zahlreiche Freunde und Bekannte kann auch ich die Feststellung Norbert Lesers bestätigen: »Die Ungarn wurden in Österreich nicht als Fremdlinge und Einwanderer, sondern als getrennte Brüder und Schwestern, denen man wie Familienmitgliedern half und beistand, empfunden.« Niemand musste unter freiem Himmel schlafen oder Hunger leiden. Es war einmalig, was die Österreicher damals leisteten — von den improvisierten Lagern und spontanen Spendenaktionen bis zur Mobilisierung der Weltöffentlichkeit und der Staatengemeinschaft. Doch je länger die Flüchtlinge in Österreich blieben, umso mehr Spannungen gab es natürlich mit den Einheimischen, sowohl in den Lagern wegen des Wartens auf Auswanderung als auch infolge der Belastung der Infrastruktur.

Ich kann mich hier nicht mit dem Schein und Sein der gesamten Flüchtlingspolitik der Regierungen des letzten halben Jahrhunderts beschäftigen, sondern möchte nur meine persönlichen Eindrücke und meine damaligen Informationen von anderen Ungarnflüchtlingen wiedergeben. In »Mein Österreich« schrieb ich vor mehr als eineinhalb Jahrzehnten: »Für die Ungarnflüchtlinge, die aus der totalen Abkapselung aufgetaucht und in Österreich ohne Rücksicht auf Herkunft und Vergangenheit mit offenen Armen aufgenommen wurden, war Wien nicht bloß ein Schaufenster des Westens, sondern auch, ja vor allem, ein Leuchtturm der Freiheit, der Toleranz und der Menschlichkeit. Als mir Jahrzehnte später österreichische und erst recht ausländische Freunde zuweilen vorwarfen, ›du idealisierst noch immer das Land‹, musste ich häufig an diese unvergesslichen ersten Eindrücke denken. Die Flüchtlinge hatten damals das gute Österreich kennengelernt, wo die Menschen nicht nachforschten, wer was ist oder als was er gilt, sondern einfach halfen. Genau so übrigens wie 1968 den Tschechen und Slowaken, 1980/1981 den Polen, 1991 bis 1995 den Flüchtlingen aus dem zerfallenen Jugoslawien und 1999 den Kosovo-Albanern.«3

Mit diesen Sätzen von mir beginnt die Historikerin Sarah Knoll ihre massive Abrechnung mit der Heuchelei der offiziellen Asyl- und Flüchtlingspolitik Österreichs im Kalten Krieg.4 »Von Regierung, Medien, aber auch Hilfsorganisationen hervorgehoben, wurde [die Hilfsbereitschaft der Öffentlichkeit] eine zentrale Grundlage für das Bild vom humanitären Österreich«, was aber, so schreibt sie, auch zu »einer teilweisen Mystifizierung und Fehlinterpretation der Leistungen« beigetragen habe. In ihrer Studie betont sie, auch mit der detaillierten Darstellung der Geschichten der Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei, aus Polen, der DDR und Rumänien, dass »die internationale Unterstützung bei der Versorgung, Integration und Weiterreise oft durch Öffentlichkeit oder Regierung ausgeblendet« werde.

Ich will nicht bestreiten, dass das offizielle Österreich von Anfang an und sogar zur Rechtfertigung der späteren Verhärtung samt Grenzkontrollen den zum Mythos...

Erscheint lt. Verlag 22.7.2025
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antisemitismus • Bestseller • Biografie • Budapest • Europa • Europastudio • Flucht • Heuchelei • Holocaust • Identität • Israel • Journalismus • Juden • Judentum • Österreich • Politik • Standard • Ungarn • Viktor Orbán • Wien
ISBN-10 3-552-07603-4 / 3552076034
ISBN-13 978-3-552-07603-7 / 9783552076037
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