Sechs Millionen, wer bietet mehr? (eBook)
170 Seiten
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
978-3-633-78429-5 (ISBN)
Ben Salomo wurde 1977 in Rechovot, Israel, geboren und wuchs in Berlin auf. Er gründete die Konzertreihe »Rap am Mittwoch« und wurde bekannt durch sein Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus. 2016 erschien sein Album <em>Es gibt nur einen</em>, 2019 im Europa Verlag sein Buch <em>Ben Salomo bedeutet Sohn des Friedens</em>. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
»Ihr Vortrag ist zu einseitig«
Ich erinnere mich leider nicht an eine Zeit ohne Antisemitismus in Deutschland. Doch am meisten begegnete ich ihm in meiner Schulzeit. Die Diskriminierung von Juden und Schwarzen war absolut keine Ausnahme am A. in Mannheim. Mein Physiklehrer fragte in seiner ersten Stunde, ob es jüdische Schüler in der Klasse gibt. Nachdem ich mich schon verunsichert meldete, erklärte er mir, dass Juden fürchterliche Tierquäler sind und kein Recht für koscheres Schlachten haben dürfen.
Aus einer Nachricht an Ben Salomo
Montag, 9. Oktober 1923, nur zwei Tage nach dem Überfall der Hamas auf Israel. Ich bin in einer Schule in Frankfurt/Oder. Anders als sonst ist diesmal nicht nur die Friedrich-Naumann-Stiftung der Veranstalter, sondern in Kooperation auch die Deutsch-Israelische Gesellschaft DIG und die Konrad-Adenauer-Stiftung. Und ebenfalls anders als sonst, bin ich dieses Mal nicht der einzige Referent. Ich trete zusammen mit der Schriftstellerin Maya Zehden auf.
Der Auftritt war natürlich lange vorher geplant. Da war es in Israel, meinem anderen Land, noch vergleichsweise ruhig gewesen. Jetzt war Ausnahmezustand. Menschen, die in ihren Häusern überfallen und lustvoll ermordet wurden. Männer, Frauen und Kinder. Das Supernova-Festival in der Negev-Wüste. Vergewaltigte Frauen. Die vielen Entführten. Das Internet war voll mit den blutigen Bildern des Grauens, die die Hamas voller Stolz selbst hochgeladen hatte. An diesem Tag herrschten in Israel noch Schock und Chaos, die Leichen waren noch nicht gezählt, geschweige denn identifiziert, einige Terroristen liefen noch frei herum oder hatten sich verschanzt. Es gab noch Feuergefechte, und Israel hatte noch nicht wirklich damit begonnen, den Krieg der Hamas zu erwidern. Das war also die Stimmung, mit der wir in Frankfurt/Oder ankamen.
Maya Zehden bat zu Beginn um eine Schweigeminute. Die haben alle eingehalten. Dann habe ich meinen Vortrag gehalten, spontan ein bisschen angepasst an die aktuelle Lage. Ich habe darüber gesprochen, mit welcher Bestialität die Terroristen vorgingen. Vieles war da noch gar nicht bekannt, aber das, was bekannt war, war auch schon außerordentlich brutal. Damit habe ich übergeleitet zu einer Sammlung von Bildern oder Videos, die ich manchmal zeige.
Es geht mir um die Ursache für den Hass vieler palästinensischer Araber, der sich am 7. Oktober so bestialisch offenbarte. Ich zeige Videos von Kindern in Uniformen, beim Exerzieren, mit Waffen und erkläre, dass in den palästinensischen Gebieten die Kinder von klein auf in Kindergärten und Schulen zum Hass gegen Juden und Israel erzogen werden.
Ich habe all diese Bilder schon so oft gesehen, aber dieses Mal hat mich eines regelrecht angesprungen. Darauf sind mehrere palästinensische Kinder zu sehen. Ich habe es schon hundertfach gezeigt. Aber dieses Mal stach mir ein Mädchen inmitten dieser Kinder ins Auge. Es war mir vorher nie so aufgefallen. Diesmal schon. Ich sah dieses Bild, projiziert auf die große Leinwand, und dachte: das Mädchen sieht meiner Tochter sehr ähnlich. Ich dachte, wie unterschiedlich die Kinder doch aufwachsen, meine Tochter und dieses Mädchen. Was für einen Unterschied es macht, wo du geboren wirst. Wie dicht beieinander wir leben. Und doch kann etwas völlig anderes dabei herauskommen.
Israel ist klein. Gaza ist nur ein paar Hundert Meter von Sderot entfernt, einer Stadt im Süden Israels. In Sderot gibt es einen Hügel, von dem aus man nach Gaza rüberschauen kann. Zwischen Israel und dem Gazastreifen steht ein stabiler Grenzzaun. Undurchlässig war der nie. Palästinensische Arbeiter durften über einen Übergang nach Sderot fahren und dort auf den Baustellen arbeiten. Auch am 6. Oktober waren noch Arbeiter aus dem Gazastreifen in Sderot. Am 7. Oktober erkannten Bewohner der Stadt einige der Arbeiter wieder, diesmal bewaffnet, auf der Jagd nach Juden. An einer Bushaltestelle ermordeten sie eine Gruppe von Senioren, die einen Ausflug ans Tote Meer planten. Sie zogen schießend durch die Straßen. Sie überfielen die Polizeistation. Die Beamten waren völlig überrascht und überfordert. Sie leisteten zwar Gegenwehr, wurden aber überwältigt, und das Polizeigebäude wurde bei den Kämpfen vollständig zerstört. In den Tagen darauf ließen die Behörden es abreißen. Raketen flogen aus Gaza hinüber nach Sderot. Auch in den Tagen danach war das noch so, während man ansonsten von Sderot aus sehen konnte, wie in Gaza Häuser in Rauch aufgingen, bombardiert von der israelischen Luftwaffe.
Aber mein Punkt ist: Wir sind eigentlich so was wie Cousins, die palästinensischen Araber und wir. Und wo der eine und wo der andere geboren wird, ist einfach nur Zufall, oder es liegt in Gottes Hand. Und genau an diesem Tag fällt mir dieses Mädchen in dem Video auf. Sie sieht meiner Tochter so ähnlich, dass mich der Gedanke nicht loslässt: Das könnte auch sie sein. Das hat mich emotional gepackt.
Ich löse mich aus meinem Sinnieren und wende mich wieder den Schülern zu. Ich sage, das, was diesen Kindern in Gaza und im sogenannten Westjordanland passiert, das ist ein klarer Verstoß gegen die Genfer Kinderrechtskonvention und ganz übler Kindesmissbrauch. Kinder sollten mit Lego und Bauklötzen spielen und nicht schon im Kindergarten diese furchtbare Jihad-Ideologie eingetrichtert bekommen.
Eine Lehrerin meldet sich plötzlich: »Natürlich sind diese Anschläge furchtbar«, sagt sie. »Ich will sie auf keinen Fall gutheißen.« Ich höre sie sprechen und denke, wenn ein Statement so anfängt, folgt sicher gleich ein »Aber«. Ich spreche sie an und sage: »Aber …«. Und sie antwortet: »Genau. Aber: Ihr Vortrag ist zu einseitig.«
Ich frage, ob sie denn wisse, dass viele palästinensische Kinder schon im Kindergarten militärisch und zum Hass auf Juden erzogen werden. Sie antwortet: »Nein, das ist auch gar nicht wichtig.«
Ich bin verblüfft. »Wie bitte?« Sie meint, dafür gebe es doch Gründe.
»Welche?«
Beispielsweise die aggressive Siedlungspolitik Netanyahus, sagt sie.
Das hätte sie besser gelassen. Jetzt komme ich in Fahrt. Wo denn genau, frage ich sie. In Area A, Area B oder Area C? Wobei mir schon bewusst ist, dass in Deutschland kaum jemand weiß, was Area A, Area B oder Area C ist. Aber ich fühle mich provoziert und an diesem Tag klopft mein Herz. Kritik dieser Art höre ich oft. Die Siedlungspolitik Netanyahus (und der Regierungschefs davor natürlich auch) sei verwerflich. Ein Werturteil, ausgesprochen von Leuten, die meistens nicht wissen, worüber sie sprechen. Nur, dass es verwerflich sei.
Die Lehrerin wehrt sich und sagt: »Sie können mich doch nicht an meiner Unwissenheit festnageln.«
Ich erwidere: »Doch, kann ich.«
Wir streiten jetzt offen. Sie wird laut. »Lassen Sie mich doch mal ausreden!« Gerne. Ich schweige. Sie auch. Sie sagt nichts. Ich bin erschüttert. Das Massaker ist gerade zwei Tage her und noch nicht einmal vollständig vorbei. Die Frau ist völlig unempathisch. Gerade fiel mir dieses palästinensische Mädchen auf dem Bild auf, das mich emotional packte. Und dann diese Ignoranz und das parolenhafte Gerede von Siedlungspolitik, in diesem Kontext als Rechtfertigung für die frühkindliche Erziehung zum Hass auf Juden.
Ich hole aus: Würde ich ihre Logik auf die Juden übertragen, dann hätten wir wohl noch sechs Millionen Jahre lang das Recht, unsere Kinder zum Hass zu erziehen und in Deutschland Anschläge zu verüben. Jüdische Falangisten, die Deutsche noch achtzig Jahre später attackieren, so wie palästinensische Terroristen seit Jahrzehnten weltweit Juden angreifen. Die gleiche Logik, die sie vertritt, nur eben als Theorie, aber völlig im Gegensatz zur Realität in Israel oder in Deutschland. Ich bin empört und sage ihr, dass die sechs Millionen ermordeten Juden noch immer Realität seien und dass sie über die israelischen Siedlungen in der Region offensichtlich zu wenig wisse, um diese als Argument für ihre Rechtfertigung heranzuziehen.
Und als ich ihr das sagte, stand sie auf und verließ den Saal.
Einige Schüler solidarisierten sich mit ihr und gingen ebenfalls.
Die Sache hatte ein Nachspiel, das gleich nach dem Ende der Veranstaltung begann. Schüler kamen auf mich zu und warfen mir vor, ich sei die Lehrerin zu sehr angegangen. Der...
| Erscheint lt. Verlag | 12.10.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | 7. Oktober 2023 • aktuelles Buch • Antisemitismus • Benjamin Netanjahu • Ben Salomo bedeutet Sohn des Friedens • Bring them home now • Bücher Neuerscheinung • Friedensarbeit • Gaza-Streifen • Geiselnahme • HAMAS • Holocaust • Israel • Jonathan Kalmanovich • Juden • Judenhass in der Schule • Judentum • Massaker • Naher Osten • Nahost-Konflikt • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • nternationaler Pforzheimer Friedenspreis • Operation Eiserne Schwerter • Qassam-Brigaden • rap am mittwoch • Rapper • Rap-Szene • Robert-Goldmann-Stipendium • Terror-Angriff • Verbrechen gegen die Menschlichkeit • Zivilcourage |
| ISBN-10 | 3-633-78429-2 / 3633784292 |
| ISBN-13 | 978-3-633-78429-5 / 9783633784295 |
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