Zerstörungslust (eBook)
400 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78345-0 (ISBN)
Zwei Jahre später hat die Realität ihre soziologische Diagnose auf bedrückende Weise bestätigt. Nun befassen die Soziolog:innen sich mit den Wähler:innen und Followern von Trump, Musk sowie der AfD.
Woher diese Lust an der Zerstörung? Und warum folgen so viele Bürger:innen den libertären Autoritären in den selbstgewählten Faschismus? Auf der Grundlage umfangreicher empirischer Forschungen, darunter einer Vielzahl ausführlicher Interviews, u. a. mit AfD-Anhängern und Mitgliedern libertärer Vereinigungen, entwickeln Amlinger und Nachtwey eine Erklärung: Im Kern richtet sich diese Revolte gegen die Blockade liberaler Gesellschaften, die ihre Versprechen auf Aufstieg und Emanzipation nicht mehr einlösen. In diesem Sinne geht es Trump, Musk, Weidel und ihren Anhänger:innen, schließen die beiden mit Erich Fromm, um die Zerstörung der Welt als letzten, verzweifelten Versuch, sich davor zu retten, von ihr zermalmt zu werden.
Oliver Nachtwey, geboren 1975, ist Professor für Sozialstrukturanalyse am Fachbereich Soziologie der Universität Basel. Für sein Buch Die Abstiegsgesellschaft wurde er 2017 mit dem Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet.
Einleitung
Wir werden nirgends stehen, wo nicht die Stichflamme
uns Bahn geschlagen, wo nicht der Flammenwerfer die große
Säuberung durch das Nichts vollzogen hat. Wer das Ganze leugnet, der kann nicht aus den Teilen Früchte ziehen. Weil wir die echten, wahren und unerbittlichen Feinde des Bürgers sind,
macht uns seine Verwesung Spaß.
Ernst Jünger, »Nationalismus« und Nationalismus (1929)
Im Herbst 2024 veröffentlichte Kevin Roberts, der Präsident der US-amerikanischen Heritage Foundation und Hauptarchitekt des radikalen Umbauplans »Project 2025«, ein programmatisches Bekenntnis: Dawn's Early Light. Burning Down Washington to Save America (Im Morgengrauen. Washington in Brand setzen, um Amerika zu retten). Das ursprüngliche Cover zeigte ein Streichholz – ein Motiv, das kaum Missverständnisse zuließ. Noch vor Erscheinen wurde der Untertitel in Taking Back Washington (»Washington zurückerobern«) abgeschwächt, auch das Streichholz verschwand. Doch die Agenda bleibt unmissverständlich, und Roberts spricht sie ganz offen aus: Die Institutionen der liberalen Demokratie seien nicht bloß reformbedürftig, sondern durch und durch moralisch marode: »Dekadent und wurzellos dienen diese Institutionen einzig als Zufluchtsort für unsere korrupte Elite. […] Damit Amerika wieder aufblühen kann, dürfen sie nicht reformiert werden; sie müssen verbrannt werden.«1 Der heutige US-Vizepräsident J. D. Vance lobte diesen Gedanken in seinem Vorwort als wertvolle Waffe für die bevorstehenden Kämpfe. Sicher sollen solche Sätze provozieren, aber sie transportieren doch eine authentische Sehnsucht nach Destruktion: Nur wenn die liberale Gegenwart untergeht, hat die traditionelle, in ihrem Kern gute und richtige Ordnung der Vergangenheit eine Zukunft. Diese Zerstörungslust ist keineswegs nur nihilistisch, sie ist schöpferisch und will aus alten Steinen ein neues Gebäude zusammensetzen, das ewig währt. Sie macht den Kern des demokratischen Faschismus aus.
Demokratie und Destruktivität
Die Demokratie befindet sich in einer ihrer tiefsten Krisen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.2 Selbst die wohlwollendsten Fürsprecher der liberalen Marktwirtschaft fürchten um die Einheit von Kapitalismus und Demokratie.3 Dabei war das Bild noch in den 1990er Jahren ein ganz anderes: Auf das Ende der südeuropäischen und lateinamerikanischen Militärdiktaturen in den 1970er und 1980er Jahren folgte 1989 der Umbruch in Osteuropa. Die liberale Demokratie, so schien es für einen kurzen Moment, werde sich global durchsetzen. Sie war die Zukunft.
Heute ist von einem globalen Siegeszug keine Rede mehr. Weltweit breiten sich illiberale Demokratien aus, Staaten, in denen es formal freie Wahlen gibt, die aber liberale Kernbestände wie Gewaltenteilung, unabhängige Justiz und freie Medien zurückbauen. Derzeit sind in sieben EU-Staaten rechtsextreme Parteien an der Regierung beteiligt.4 Viktor Orbán ist seit 2010 in Ungarn an der Macht und bekennt sich ganz offen zu dem Ziel, das Land in eine illiberale Demokratie umzubauen; seit 2022 regiert die Postfaschistin Georgia Meloni in Italien. In den Niederlanden ging der Rechtsextremist Geert Wilders 2023 als Sieger aus der Parlamentswahl hervor. Im Juni 2025 wurde der ehemalige Hooligan Karol Nawrocki mit seinem nationalistischen Kurs zum Präsidenten Polens gewählt. In Argentinien regiert der Rechtslibertäre Javier Milei per Dekret und unter Umgehung des Parlaments. Donald Trump setzt in seiner zweiten Amtszeit ebenfalls auf Executive Orders und schwächt die Befugnisse des Kongresses. Bereits 2002 kam Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl um das französische Präsidentenamt, seither ist der in Rassemblement National umbenannte Front National dauerhaft zur zweitstärksten Kraft aufgestiegen. In Österreich wurde die FPÖ trotz zahlreicher Skandale bei der letzten Nationalratswahl stärkste Partei. Auch in Deutschland sind Regierungsbeteiligungen von Rechtsextremen nicht mehr auszuschließen: Im Bund, in Thüringen, Sachsen und Brandenburg ist die AfD die stärkste beziehungsweise zweitstärkste Partei.
Wir befinden uns in einem rechtsdriftenden politischen Zyklus, in dem Nationalkonservative, Libertär-Autoritäre und Anarchokapitalisten sich zusammenschließen und liberale Institutionen ins Visier nehmen. Seit den 1930er Jahren hat die radikale Rechte keinen solchen Aufschwung erlebt. Der Demokratie scheint die Zukunft abhandengekommen zu sein.5 Die Financial Times fragte Anfang 2024, ob sie überhaupt noch die nächsten zwölf Monate überleben werde.6
Die heutigen Autokrat:innen reißen die Macht nicht mit Gewalt oder Coups an sich, sie werden demokratisch gewählt. In ihrer Hilflosigkeit versuchen die Parteien der demokratischen Mitte, die Rechten zu bekämpfen, indem sie auf die gleichen Themen setzen. Erfolg haben sie damit nicht – im Gegenteil: Sie verschaffen den Autoritären Legitimität. Viele Bürger:innen westlicher Gesellschaften verachten mittlerweile den Liberalismus, genauer gesagt: die liberale Demokratie. Sie haben autoritäre Mentalitäten entwickelt und sind offen für faschistische Fantasien – mal aus Indifferenz, mal aus Widerstand gegen den Abbau traditioneller Hierarchien. Für klassische Autoritäre ist die Nation der Ort ihrer imaginierten Gemeinschaft.7 Ihre Größe wollen sie (wieder) herstellen. In einer nur scheinbar unwahrscheinlichen Koalition treffen sie sich mit libertären Autoritären. Die Libertären lehnen staatliche Regeln und Interventionen ab, können sich aber für die Nation durchaus erwärmen – solange sie nicht liberal-demokratisch verfasst ist. Die verbindende Klammer bildet die Zerstörungslust, eine Art affektive Negation des inklusiven Liberalismus: Aus einem demokratischen Nihilismus heraus will man die liberale Demokratie im Namen des Besitzindividualismus abwickeln. Die entsprechenden Affektstrukturen dichten sich gegen Solidarität ab und projizieren Probleme auf Migrant:innen oder soziale Minderheiten. Destruktivität ist der Beschleunigungsstreifen auf eine mehrspurige Autobahn der Radikalisierung. Menschen mit destruktiven Einstellungen sind offen für faschistische Fantasien, wünschen sich aber nicht unbedingt die Errichtung eines faschistischen Regimes.
Die Destruktivität ist jedoch nicht universell, schließlich findet sie im Rahmen der radikalen Identifikation mit kapitalistischen Hierarchien statt. Die Abwehr des Wandels wird zur Affirmation eines Status quo ante – in Form einer aggressiven Nostalgie für eine Gesellschaft, in der vermeintlich alles »noch in Ordnung« war. Während der Liberalismus eine Theorie des Wandels sein möchte, bei dem die kapitalistische Eigentumsordnung stabil bleiben soll, stellt sich die Destruktivität auf die Seite der kapitalistischen Hierarchien und vor allem gegen jede normative Einbettung des Kapitalismus. Es handelt sich um eine Rebellion gegen Anpassungen und Einschränkungen, die mit Modernisierungen einhergehen und die der Klimawandel notwendig macht. Bevor man sich anpasst, zerstört man lieber die Dämme gegen die Sintflut. »Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild vor. Er hat wenig Bedürfnisse, und das wäre sein geringstes: zu wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt«, schrieb Walter Benjamin 1931, was nur eingeschränkt gilt.8
Die Rechtsextremen verheimlichen ihre faschistischen Fantasien kaum, im Gegenteil: Sie machen sie lustvoll öffentlich. Träume vom Umsturz oder radikale Maßnahmen sind keine reinen Hirngespinste mehr, wie etwa die Pläne für den Ausbau der Migrationspolizei ICE und von Abschiebelagern zeigen. Während die letzten Zeitzeug:innen sterben, droht der Faschismus zurückzukehren.9 Der antifaschistische Konsens, der hierzulande Generationen darin verband, dass der Nationalsozialismus in keiner Form wiederkehren dürfe, steht zur Disposition: So schlimm war es nun auch wieder nicht, sagen die einen; so schlimm wird es schon nicht kommen, die anderen. Aber es wächst das Bewusstsein, dass es wieder geschehen kann. Und darum geht es in diesem Buch: nicht darum, dass der...
| Erscheint lt. Verlag | 14.10.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Abstiegsgesellschaft • AfD • aktuelles Buch • Alice Weidel • Autoritäre • Bücher Neuerscheinung • Coronaleugner • Donald Trump • Elon Musk • Empirische Forschung • Erich Fromm • Europa • Faschismus • Gekränkte Freiheit • Geschwister-Scholl-Preis 2025 • Hans-Matthöfer-Preis 2016 • Interviews • liberale Demokratie • Liberale Gesellschaft • Libertärer Autoritarismus • Libertarismus • Neoliberalismus • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • politisches Establishment • Populismus • Rechtslibertarismus |
| ISBN-10 | 3-518-78345-9 / 3518783459 |
| ISBN-13 | 978-3-518-78345-0 / 9783518783450 |
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