Beirut (eBook)
S. Hirzel Verlag
978-3-7776-3595-8 (ISBN)
Die tragische Geschichte einer Weltstadt: Beirut und das Schicksal des Libanon vor und nach dem Kollaps
"In Beirut ist die Luft erfüllt von Poesie und Schießpulver, von Liebe und Verzweiflung." – Etel Adnan
Am 4. August 2020 fegte eine gewaltige Explosion vom Hafen Beirut aus über die Hauptstadt des Libanon. Über 200 Menschen starben, Tausende wurden verletzt, hunderttausende Wohnungen zerstört. Es war eine der gewaltigsten Explosionen in der modernen Geschichte – und eine Katastrophe für Beirut, das sich zu jener Zeit bereits in einer historischen Wirtschaftskrise befand.
Die Hafen-Explosion im August 2020 ist der Ausgangspunkt der Erzählung in "Beirut. Splitter einer Weltstadt". In dem Buch führt Meret Michel, die seit vielen Jahren immer wieder in Beirut lebt, durch die Stadtgeschichte. Sie beginnt im 19. Jahrhundert, als Beirut dank der ersten Welle der Globalisierung von einem Provinznest zur wichtigsten Handelsstadt der Region aufsteigt, führt weiter über die goldene Zeit der 1960er, als die Stadt zum intellektuellen Zentrum für linke Bewegungen wurde, über den zerstörerischen Bürgerkrieg, den Aufstieg der Hisbollah bis hin zum letzten Krieg zwischen Israel und der schiitischen Miliz.
Kern der Erzählung sind die Geschichten aus dem Alltag verschiedener Bewohnerinnen und Bewohner Beiruts: Der alteingesessenen Familie Sursock, die mit Beiruts Aufstieg zum Handelszentrum zu Reichtum und Einfluss gelangte. Von Bassam al-Sheikh Hussein, der seine Bank überfiel, um an sein eigenes Erspartes zu gelangen. Oder Monika Borgmann, die dafür kämpft, dass die Mörder ihres Mannes und Hisbollah-Kritikers Lokman Slims zur Rechenschaft gezogen werden. Dabei kehrt die Autorin stets zu derselben Frage zurück, die auch über Beirut hinaus von Bedeutung ist: Was macht einen Ort zu einem Zuhause?
Denn das Kuriose an Beirut ist, dass vermutlich eine Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner, selbst wenn sie hier geboren wurden und aufgewachsen sind, sich in Beirut letztlich nicht zu Hause fühlen. Die Suche nach Antworten führt zu den inneren Widersprüchen dieser Stadt, die einst als Schmelztiegel, als "Tor zwischen Ost und West" galt, und die heute gerade wegen der unterschiedlichen politischen Narrative so zerrissen ist. Dass die Erzählung dabei bis in die aktuelle Zeit führt, als der Konflikt zwischen Israel und Iran auf einem Höhepunkt steht, macht "Beirut. Splitter einer Weltstadt" zum hochaktuellen Buch – um nicht nur Beirut, sondern die gesamte Region des Nahen Ostens jenseits der Schlagzeilen zu verstehen.
Meret Michel ist in Bern aufgewachsen und hat Politikwissenschaft in Zürich und Hamburg studiert sowie Journalismus an der Reportageschule in Reutlingen. Seit 2017 arbeitet sie als freie Reporterin im Nahen Osten, mit Fokus auf Syrien, Libanon und Irak. Ihre Beiträge erschienen unter anderem bei der Wochenzeitung, Republik Magazin, NZZ am Sonntag, SRF, der Zeit und dem Greenpeace Magazin. Ihre Arbeit wurde zweimal mit dem real21-Medienpreis ausgezeichnet (2018 und 2021), zweimal nominiert für den Zürcher Journalistenpreis (2019 und 2021) und einmal für den Deutschen Reporter*innen-Preis (2021). Website der Autorin: www.meretmichel.ch
Einleitung
Ein früher Sonntagmorgen. Ich schließe die Tür zu unserem Haus auf, hieve unseren Koffer über die Schwelle, wir treten ein. Die Wohnung wirkt merkwürdig leer. Den großen Teppich in der Mitte des Raumes hat meine Freundin, die sich in den letzten Monaten um das Haus gekümmert hatte, offenbar weggeräumt. Wie immer, wenn ich von einer Reise zurückkehre, gehe ich zuerst zu der Metalltür hinter dem dunklen Holzschrank im Wohnzimmer, die zur Terrasse hinausführt.
Draußen scheint die Morgensonne auf die gemusterten Keramikplatten. Die Terrasse sieht noch genau so aus, wie wir sie zurückgelassen hatten an jenem Vormittag im vergangenen Oktober, als wir mit unserem Koffer zum Flughafen fuhren und nicht wussten, wann wir wiederkommen würden. Der Holzstuhl, den wir in jenen Tagen des Kriegs vom Wohnzimmer auf den Balkon neben den runden Holztisch gestellt hatten, steht noch an der selben Stelle. Die Aussicht ist wie immer, als wäre nichts geschehen: das rosa gestrichene, alte Haus ein paar Dutzend Meter vor uns, die dicht bebaute Hügelflanke dahinter, links der wild gewachsene Wald an dem abfallenden Hang. Das war es, was ich an diesem alten, renovationsbedürftigen Haus immer so mochte: Es steht zwar mitten in Beirut, im Norden der libanesischen Hauptstadt, wenige Hundert Meter vom Hafen entfernt. Doch das Grün direkt vor uns, die Bäume rund um unseren Balkon und die Hügel dahinter lassen mich manchmal denken, dass wir tatsächlich in einem Haus irgendwo draußen in der Natur leben. Der Verkehr der Stadt ist hier nur ein entferntes Rauschen, unser Haus steht in einer Sackgasse, an deren unterem Ende eine Fußgängertreppe den Hang hinunterführt. Nur die verflossene Zeit hat in unserer Abwesenheit ihre Spuren hinterlassen: Der Plastikstuhl in der hinteren Ecke ist von einer Schicht Staub überdeckt, der Boden übersät von den Blüten und Blättern der Sträucher und Bäume, die vom Nachbarhaus zu uns hochwachsen und den Balkon wie ein Vorhang einrahmen.
Es ist Ende Januar 2025. Meine Tochter und ich sind nach fünf Monaten wieder nach Beirut zurückgekehrt, um unseren Alltag wieder aufzunehmen, den wir vor dem Krieg hatten. Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Als wir Anfang Oktober 2024 überstürzt ausreisten, hatte ich keine Ahnung, wann wir wiederkommen würden. Der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel, der damals bereits seit einem Jahr andauerte, war zehn Tage zuvor eskaliert, die israelische Luftwaffe bombardierte nicht nur die südlichen Vororte Beiruts und andere Landesteile Libanons täglich, sondern zunehmend auch Ziele im Herzen der Hauptstadt. Die Intensität der Angriffe schraubte sich über wenige Tage so in die Höhe, dass mir bald klar war: Wir müssen raus. Wir buchten den nächstmöglichen Flug eine Woche später. Und wussten nicht: Würde dieser Krieg nach wenigen Wochen wieder enden oder Jahre dauern? Würde Beirut danach noch ein Ort sein, wo ich zusammen mit meiner Tochter leben könnte?
Die Ungewissheit ist etwas, was das Leben der Menschen in Beirut schon lange prägt. Und mit ihr der Widerspruch, den ich im Moment unserer Rückkehr zu spüren schien: der Widerspruch zwischen den großen politischen Entwicklungen, im Libanon wie in der ganzen Region, die auf so umfassende Weise das Leben der Menschen bis in ihren Alltag bestimmt, und jenem Alltag selbst, der mittendrin weiterläuft, an dessen Details man sich festklammern kann, und der immer wieder mal ein falsches Gefühl von Stabilität vorgaukelt, bevor dieses durch die Wucht plötzlicher Veränderungen weggefegt wird.
Und davon gab es in Beirut viele in den letzten Jahren. Die Wirtschaftskrise, die 2019 im Libanon ausbrach, die Explosion am Hafen, die am 4. August 2020 über die Stadt hinwegfegte, oder der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel, der vergangenen Herbst eskalierte: Die politischen Entwicklungen verlaufen nicht einfach stetig, sondern werden manchmal plötzlich aus der Bahn geworfen und schlagen eine andere Richtung ein. Die Erwartung, dass jeden Moment etwas geschehen könnte, womit man nicht gerechnet hat, beeinflusst auch die Art, wie man über die eigene Zukunft nachdenkt, die Pläne, die man zwar macht, die aber jeden Moment wieder über Haufen geworfen werden können. Die Frage, ob äußere Entwicklungen plötzlich den Lauf des eigenen Lebens ändern, ist keine vage Möglichkeit, sondern der Normalfall. Das Leben in Beirut, im Libanon, ja, in den meisten Ländern in dieser Region der Welt, steht auf dem wackligen Boden der politischen Erdbeben, die in regelmäßigen Abständen den eigenen Alltag erschüttern.
Vor allem seit 2011 sind die politischen Umwälzungen zum prägenden Merkmal der gesamten arabischen Region geworden, seit in fast allen Ländern im Zuge des sogenannten »Arabischen Frühlings« Massendemonstrationen ausbrachen, die den Sturz jener diktatorischen Regime forderten, die in vielen Ländern seit Jahrzehnten an der Macht waren. In Tunesien, Ägypten, Libyen und dem Jemen wurden die Autokraten Zine el-Abidine Ben Ali, Hosni Mubarak, Muammar Gaddafi und Ali Abdullah Saleh gestürzt. Es folgten Jahre politischer Unsicherheit, an vielen Orten wurde die Hoffnung auf einen demokratischen Wandel von Kriegen und Militärputschs zunichtegemacht. Millionen von Menschen wurden vertrieben, sei es innerhalb ihrer eigenen Länder oder über die Grenzen hinweg in die Nachbarstaaten und in die ganze Welt. Kaum eine Region wurde in den letzten 15 Jahren – bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern – als Ganzes so nachhaltig erschüttert wie jene Länder zwischen Marokko und dem Oman.
Der Libanon liegt mittendrin. Zwar folgte die politische Entwicklung in den letzten 15 Jahren hier einem etwas anderen Verlauf. Doch das Land wurde stets mit erschüttert von den Umwälzungen rundherum. Der Krieg im Nachbarland Syrien ab 2011 zum Beispiel, der Millionen Menschen in die Flucht trieb, brachte auch Hunderttausende Syrerinnen und Syrer hierher. Die libanesische Hisbollah-Miliz trat an der Seite des Assad-Regimes in den Krieg ein und wurde dort zu einem entscheidenden Player. Wegen der prekären Sicherheitslage, in die der Syrien-Krieg auch den Libanon stürzte, blieben die Touristinnen und Touristen weg, die Investitionen in den lange boomenden Immobilienmarkt aus den Golfstaaten trockneten aus. Das Land rutschte in eine Rezession.
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Im Oktober 2019 brachen Massenproteste aus, die sich gegen die Korruption der herrschenden Oligarchie richteten und einen politischen Wandel bis hin zur Abschaffung des konfessionellen politischen Systems forderten, das seit der Staatsgründung die Geschehnisse im Land prägt. Politisch konnten die Demonstrationen zwar wenig bewirken, auch wenn sie kurzfristig die damalige Regierung unter Ministerpräsident Saad Hariri zum Rücktritt zwangen. Fast zeitgleich aber geschah etwas anderes, das das Leben fast aller Menschen im Land auf den Kopf stellen würde: Der Bankensektor, der doch seit der Staatsgründung und länger als das Rückgrat der libanesischen Wirtschaft galt, kollabierte. Die Geldinstitute waren faktisch bankrott, sie führten Kapitalkontrollen ein, sodass die Kontoinhaber von einem Tag auf den anderen nur noch wenige Hundert Dollar pro Monat von ihrem Ersparten beziehen konnten. Zum Finanzkollaps kamen die Staatspleite und eine Währungskrise, die den Wert des libanesischen Pfunds, das fast zwei Jahrzehnte lang mit einem festen Wechselkurs an den US-Dollar gebunden war, in den Keller schickte. Hunderttausende Libanesen verloren ihre Ersparnisse und ihre Jobs; wer weiterarbeiten konnte, dessen Lohn war häufig nur noch einen Bruchteil dessen wert, was er vorher verdient hatte. Die Wirtschaftskrise war so umfassend, dass kaum jemand davon unberührt blieb; die Weltbank bezeichnete sie in einem Bericht als die drittschwerste Wirtschaftskrise weltweit in den letzten 150 Jahren.[1] Natürlich war das alles nicht die direkte Folge des Syrien-Kriegs; eher war dieser ein beschleunigender Faktor für einen Kollaps, auf den die jahrelang fehlgeleitete Wirtschafts- und Finanzpolitik irgendwann unausweichlich zusteuerte. Als ob das nicht genug gewesen wäre, erschütterte am 4. August 2020, gut ein Dreivierteljahr nach Ausbruch der Wirtschaftskrise, eine gewaltige Explosion im Hafen von Beirut die Hauptstadt. Über 7000 Menschen wurden dabei verletzt, 218 starben. 77 000 Wohnungen wurden zerstört oder beschädigt, 300 000 Menschen wurden vorübergehend vertrieben.[2] Es folgten Jahre der Krise, in denen es über Monate hinweg kaum Strom gab und sich aufgrund von...
| Erscheint lt. Verlag | 2.10.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Beirut • beirut geschichte • beirut hafen • Bürgerkrieg • bürgerkrieg libanon • Explosion • Geschichte • Geschichte Buch • Hamra • Hisbollah • Israel • journalismus buch • Journalist • Journalistin • Libanon • meret michel • Naher Osten • Nahost • Nahost Konflikt • Politik • Politik Buch • politikwissenschaft buch • politisches Buch • Reportage • reportage buch • Südlibanon |
| ISBN-10 | 3-7776-3595-2 / 3777635952 |
| ISBN-13 | 978-3-7776-3595-8 / 9783777635958 |
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