Wasserstress (eBook)
192 Seiten
Rotpunktverlag
9783039730629 (ISBN)
Toni Keppeler, 1956 geboren, berichtet seit vier Jahrzehnten über Lateinamerika, wo er jedes Jahr mehrere Monate verbringt. Er war Korrespondent verschiedener deutschsprachiger Medien und lehrte Journalismus an der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador. Er lebt heute in Tübingen und arbeitet als freier Journalist und Buchautor. Für seine Reportagen wurde er unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Laura Nadolski, 1997 geboren, hat in Bamberg und Madrid Geografie und Politikwissenschaften bis zum Bachelor studiert und in Augsburg einen Masterstudiengang in Klima- und Umweltwissenschaften abgeschlossen. Dazwischen hat sie mehrere journalistische Praktika absolviert und war Werkstudentin in Medienredaktionen in Deutschland und Spanien. Mit Toni Keppeler arbeitet sie seit 2017 zusammen. Derzeit promoviert sie am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena.
Toni Keppeler, 1956 geboren, berichtet seit vier Jahrzehnten über Lateinamerika, wo er jedes Jahr mehrere Monate verbringt. Er war Korrespondent verschiedener deutschsprachiger Medien und lehrte Journalismus an der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador. Er lebt heute in Tübingen und arbeitet als freier Journalist und Buchautor. Für seine Reportagen wurde er unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Laura Nadolski, 1997 geboren, hat in Bamberg und Madrid Geografie und Politikwissenschaften bis zum Bachelor studiert und in Augsburg einen Masterstudiengang in Klima- und Umweltwissenschaften abgeschlossen. Dazwischen hat sie mehrere journalistische Praktika absolviert und war Werkstudentin in Medienredaktionen in Deutschland und Spanien. Mit Toni Keppeler arbeitet sie seit 2017 zusammen. Derzeit promoviert sie am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena.
1. Die Stadt auf der Insel
Wie Tenochtitlán entstand, und warum es damals unendlich viele Axolotl gab.
Der Metropolitanraum von Mexiko-Stadt ist die größte Siedlung auf dem amerikanischen Kontinent. Mehr als 23 Millionen Menschen leben dort. Vielleicht sind es auch schon 25 Millionen, so genau weiß das niemand. Diesen Moloch gibt es nur, weil es Xochimilco gibt, ein großes Feuchtgebiet, gut zwanzig Kilometer südlich des Zentrums. Über Jahrhunderte war dies der Ort, an dem der Mais und das Gemüse wuchsen, womit die Menschen in der Stadt, die heute Mexiko-Stadt heißt, versorgt wurden. Dort leben auch die letzten Exemplare des wundersamen Tierchens, das die Azteken in ihrer Sprache – dem Nahuatl – Axolotl nannten, und so nennt man es noch heute. Korrekt ausgesprochen wird es in dieser Sprache wie »Ascholotl«, mit Betonung auf dem zweiten »o« und kaum hörbarem »l« am Ende.
Der Axolotl, eine Amphibie, ist für Mexiko-Stadt genauso fundamental wie Xochimilco (gesprochen wie »Sotschimilco« mit Betonung auf der zweitletzten Silbe). Hätte es den Axolotl nicht gegeben, hätten die Azteken die lange Wanderung nicht überlebt, an deren Ende sie ihre Hauptstadt Tenochtitlán gründeten. Es gab Zeiten, da war dieser Lurch ihre einzige Proteinquelle. Die spanischen Eroberer errichteten dann auf den Trümmern von Tenochtitlán Mexiko-Stadt. Der Name war eine Referenz an die ursprünglichen Bewohner, die sich selbst nicht »Azteken«, sondern »Méxica« nannten. Für sie war der Axolotl nicht nur Nahrung. Er spielte auch in ihrer Mythologie eine zentrale Rolle.
Das Tierchen gleicht einem Salamander, nur dass es nie an Land geht, sondern sein ganzes Leben im Wasser verbringt. Wissenschaftlich heißt es Ambystoma mexicanum und ist tatsächlich ein entfernter Verwandter des Tigersalamanders (Ambystoma tigrinum). Es ist ein Schwanzlurch aus der Familie der Querzahnmolche und wird im Erwachsenenalter in der Regel 23 bis 28 Zentimeter lang. Einzelne Exemplare können sogar bis zu 40 Zentimeter erreichen. Es hat einen runden Kopf mit breitem Maul und weit auseinanderstehenden Äuglein und wirkt auf Menschen wie ein freundliches Kuscheltier. Sein lang gestreckter Rumpf hat vier Beinchen und an den Enden Finger ähnlich denen eines Froschs; an den Vorderbeinen sind es je vier, an den Hinterläufen fünf. Sein Leib endet in einem langen seitlich platt gedrückten Schwanz mit einem Flossensaum, weshalb der Axolotl ein guter und ausdauernder Schwimmer ist. Besonders verwunderlich sind sechs fächerartige Gebilde in seinem Nacken, drei links und drei rechts, die ein bisschen wie kleine ausgefranste Geweihe aussehen. Es handelt sich dabei um Kiemenäste.
Der Axolotl hat drei Möglichkeiten, Sauerstoff aufzunehmen: aus dem Wasser durch diese Kiemenäste oder über seine durchlässige Haut, und wenn er an die Wasseroberfläche schwimmt, kann er Luft durch das Maul in seine Lunge einsaugen. Der Lurch liebt sauerstoffreiches Wasser und fühlt sich bei Temperaturen zwischen 11 und 17 Grad am wohlsten. Er ist nachtaktiv. Den Tag über versteckt er sich meist im Schlamm oder unter Wasserpflanzen auf dem Grund der Kanäle am Xochimilco-See. Er ist dafür perfekt getarnt. Axolotl sind schwarz oder graubraun wie Schlamm, mit schwarzen Flecken. Am Bauch sind sie etwas heller als am Rücken und an den Seiten. Hin und wieder gibt es auch weiße, fast durchsichtige Albinos. Die Tiere sind Lauerjäger. Auf dem Grund versteckt warten sie darauf, dass Larven von Insekten oder winzige Krebse und Schnecken vorbeikommen, und saugen sie dann blitzschnell ein. Vegetarische Nahrung interessiert sie nicht.
Anders als der Tigersalamander, der zunächst als Larve im Wasser lebt, um dann – gewissermaßen in der Pubertät – eine Metamorphose zu durchleben und zum schwarz-gelb gefleckten Landtier zu werden, bleibt der Axolotl sein ganzes Leben lang eine Larve. Er ist so etwas wie eine Kaulquappe, die nie zum Frosch werden will. Doch obwohl er in seiner biologischen Entwicklung ein ewiges Kind bleibt, wird er doch geschlechtsreif und kann sich fortpflanzen. Man nennt diese Besonderheit Neotenie, und sie kommt nur sehr selten vor, etwa beim Grottenolm (Proteus anguinus), einem in den Höhlengewässern von Slowenien und Kroatien lebenden Schwanzlurch. Zwischen ihm und dem Axolotl gibt es keine verwandtschaftlichen Beziehungen.
Wenn ein Männchen und ein Weibchen dieses Lurchs aneinander Gefallen finden, schubsen sie sich zunächst stimulierend gegenseitig an der Kloake, jener Körperöffnung im Unterleib, durch die alle Ausscheidungen und Sekrete der Verdauungs- und Geschlechtsorgane ihren Weg ins Freie nehmen. Von solchem Vorspiel genügend erregt, tanzen sie im Wasser um sich herum, bis das Männchen wegschwimmt, dem Weibchen aber dabei einladend mit dem Schwanz zuwinkt. Das Männchen lässt dann aus seiner Kloake eine Kapsel voller Sperma fallen, die sogenannte Spermatophore. Das Weibchen saugt diese mit ihrer Kloake auf und legt später zwischen hundert und dreihundert befruchtete und mit einem glibberigen Gelee überzogene Eier auf Wasserpflanzen und Steinen ab. Nach zehn bis vierzehn Tagen springen diese Eier auf, die Jungtiere kommen heraus. Axolotl-Eltern betreiben keine Brutpflege. Ihre Kinder sind von Anfang an auf sich allein gestellt. Überleben sie, sind sie nach einem Jahr selbst geschlechtsreif.
Axolotl sind eine sehr junge Tierart; sie ist erst vor 6000 bis 10’000 Jahren entstanden. Zum Vergleich: Die Gattung des Homo ist seit rund 300’000 Jahren belegt. Sieben Varianten des Lurchs sind in Mexiko bekannt, eine ist sogar bis hinauf nach Kanada verbreitet. Sie leben alle in abgeschlossenen Biosphären. Sie wurden wahrscheinlich durch tektonische Verschiebungen auf der Erdkruste getrennt und nahmen dann jeweils eine eigenständige Entwicklung. Die meisten dieser Gattungen durchlaufen eine Metamorphose und werden zu Salamandern.
Am Pátzcuaro-See im mexikanischen Bundesstaat Michoacán züchten Dominikanerinnen die dort vorkommende Gattung Ambystoma dumerilii, die etwas größer und dicker ist als ihre Verwandten in Xochimilco. Die Nonnen pressen die Tierchen aus und verkochen den so gewonnenen Saft zu einem Sirup. Er soll gegen alle Arten von Atemwegerkrankungen helfen. Man kann die Fläschchen, deren Etikett von einem Axolotl geziert wird, auf volkstümlichen Märkten finden. Der Glaube, dass Extrakte des Schwanzlurchs lindernd auf mannigfache Beschwerden wirken können, ist weitverbreitet; wissenschaftliche Belege dafür gibt es nicht. So lieferte der katholische Priester José Antonio de Alzate y Ramírez, der sich auch mit Naturwissenschaften, Geschichte und Kartografie beschäftigte, 1790 in der Gazeta de Literatura de México ein Rezept, das er seiner Mutter abgeschaut hatte: Man häute ein paar Axolotl und koche die Haut mit wenig Wasser, so lange, bis sich diese fast aufgelöst hat. Dann drücke man den Sud durch ein Tuch. Heraus komme eine gelatineartige Flüssigkeit, die man mit Zucker verrühre. Dieser Sirup helfe gegen die Schwindsucht. Man nehme ihn zweimal am Tag. De Alzate versichert, dass diese Medizin auch ihm selbst geholfen habe.
Solche Säfte kann man aus jeder Art des Axolotl gewinnen. Ob sie helfen, sei dahingestellt. Die fast unglaubliche Fähigkeit, sich selbst zu regenerieren, hat aber nur der Ambystoma mexicanum aus Xochimilco. Andere Schwanzlurche dieser Größe werden vier oder fünf Jahre alt. Ein Ambystoma mexicanum kann es wegen dieser Regenerationsfähigkeit auf bis zu fünfundzwanzig Jahre bringen.
Das mythische Tier
Es erscheint fast natürlich, dass einem so wundersamen Tier göttliche Eigenschaften zugeschrieben werden. In der Mythologie der Azteken spielt es bei der Entstehung der Welt, so, wie sie heute ist, eine wichtige Rolle. Bernardino de Sahagún, ein spanischer Missionar und Ethnologe, der 1529 nach Mexiko kam, hat diesen Mythos im siebten Buch seiner Historia general de las cosas de la Nueva España nacherzählt6: Es war zu der Zeit, in der es weder Tag noch Nacht gab. Da trafen sich die Götter in Teotihuacán, einem Ort, rund 45 Kilometer nördlich der heutigen Stadt Mexiko. Die dortigen Pyramiden werden jedes Jahr von Hunderttausenden Touristen besucht. An diesem heiligen Ort beratschlagten die aztekischen Götter, wer denn nun dafür verantwortlich sein solle, die Erde zu beleuchten. Sie entzündeten ein großes Feuer und der Gott Nanauatzin stürzte sich freiwillig hinein. Er glühte und verbrannte, und als der Gott Tecuciztécatl, der das Feuer entzündet hatte, dies sah, folgte er ihm in die Flammen. Aus dem Feuerschein des Nanauatzin entstand die Sonne, aus dem des Tecuciztécatl der Mond.
Doch es gab ein Problem: Die beiden Himmelskörper standen unbeweglich nebeneinander am Firmament. So beratschlagten die Götter, wie man sie in Bewegung setzen könne, auf dass die Sonne den Tag beleuchte und der Mond der Nacht seinen Schimmerglanz gebe. Sie fanden keine andere Lösung, als sich allesamt ins Feuer zu stürzen. Nur einer wollte nicht mitmachen: Xolotl. Dieser Gott fürchtete den Feuertod.
Xolotl ist der Zwillingsbruder oder auch das andere Gesicht des Quetzalcoatl, jenes mondänen Schlangengotts mit dem grün schillernden Gefieder des Quetzalvogels. Er wurde nicht nur von den Azteken, sondern auch von den Maya und Tolteken verehrt. Quetzalcoatl ist der Gott des Windes, des Himmels und der Erde; ein Schöpfergott, der zuständig ist für alles Schöne und Erhabene. Xolotl ist das glatte Gegenteil davon, ein hässlicher Gott, der meist so dargestellt wird, wie er im Nationalmuseum für Anthropologie in Mexiko-Stadt...
| Erscheint lt. Verlag | 26.3.2025 |
|---|---|
| Verlagsort | Zürich |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Abholzung • Alexander von Humboldt • Artenvielfalt • Aussterben • Austrocknung • Axolotl • Azteken • Bedrohte Art • Biogeochemie • Genforschung • Grundwasser • Grundwasserentnahme • Klimaerhitzung • Klimaerwärmung • Klima-und Umweltwissenschaften • Klimawandel • Kolonisation • Megastädte • Mexiko-Stadt • Regenerationsfähigkeit • Tenochtitlán • Trinkwassermangel • Trockenlegung • Übernutzung des Grundwassers • Überschwemmungen • Versiegelung des Bodens • vom Aussterben bedroht Wassermangel • Wassernot • Wasserstadt • WOZ-Wochenezeitung |
| ISBN-13 | 9783039730629 / 9783039730629 |
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