Deutsche Interessen (eBook)
288 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-83435-6 (ISBN)
Timo Lochocki studierte Interdisziplinäre Sozialwissenschaften in Deutschland, den USA und Norwegen und wurde vor allem mit seiner Promotion im Jahr 2014 über die Gründe für den Auf- und Abstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa im politischen Berlin bekannt. Im Anschluss arbeitete er bis 2018 in der Politikberatung beim German Marshall Fund (GMF) in Berlin, Washington und Paris. 2019 wechselte er in die Bundesregierung, wo er während der Coronapandemie das Referat Strategische Planung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) leitet. Seit 2022 berät er internationale Stiftungen und deutsche Entscheider im Umgang mit anti-demokratischen Kräften. Aktuell ist er Visiting Fellow am European Council on Foreign Relations (ECFR) sowie Dozent am Bard College Berlin.
Timo Lochocki studierte Interdisziplinäre Sozialwissenschaften in Deutschland, den USA und Norwegen und wurde vor allem mit seiner Promotion im Jahr 2014 über die Gründe für den Auf- und Abstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa im politischen Berlin bekannt. Im Anschluss arbeitete er bis 2018 in der Politikberatung beim German Marshall Fund (GMF) in Berlin, Washington und Paris. 2019 wechselte er in die Bundesregierung, wo er während der Coronapandemie das Referat Strategische Planung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) leitet. Seit 2022 berät er internationale Stiftungen und deutsche Entscheider im Umgang mit anti-demokratischen Kräften. Aktuell ist er Visiting Fellow am European Council on Foreign Relations (ECFR) sowie Dozent am Bard College Berlin.
Einleitung: Was sind deutsche Interessen?
Was sind nationale Interessen, warum sind sie bedeutsam, warum sollte sich Deutschland mit diesem Thema jetzt beschäftigen?
Als nationale Interessen sind grob die Interessen des Großteils der Bevölkerung zu verstehen, im Idealfall die Zusammenfassung unterschiedlicher Einzelinteressen, die in ein Gesamtinteresse münden. Also ein möglichst breiter Kompromiss darüber, was für alle gut ist, der wiederum das Handeln aller staatlichen Organe definiert. Dies gilt nur, wenn die Formulierung der Interessen einem demokratischen Prozess folgt. Falls nicht, können bestimmte Partikularinteressen (z. B. durch Lobbyeinfluss) andere verdrängen und sich als gesamtgesellschaftliches Interesse tarnen. Die Möglichkeit exportorientierter deutscher Industriezweige und deutscher Banken, die Finanzpolitik des Landes während der Eurozonenkrisen zu beeinflussen, ist hierfür ein gutes Beispiel. Der deutschen Exportindustrie und den Banken ist es nicht selten gelungen, ihr Partikularinteressen als das Interesse der gesamten deutschen Wirtschaft darzustellen. Doch es gibt auch große Wirtschaftszweige, die eher vom Binnenmarkt abhängen. Und natürlich sind diese Wirtschaftsinteressen nicht zwingend die der Bevölkerungsmehrheit.
In nichtdemokratischen Regimen werden die Interessen der Bevölkerung als deckungsgleich mit dem öffentlich propagierten nationalen Interesse gesetzt. Dies gilt par excellence für die autoritären Regime in Russland und China, die genau wissen, dass die Interessen der herrschenden Clique nicht denen der breiten Bevölkerung entsprechen. Sie richten daher ihre ganze Außenpolitik – gerade uns gegenüber – darauf aus, diesen Widerspruch zu vertuschen (vgl. „Lösungswege IV“). Das gilt erst recht für den ideologischen Wahn der Nazis, dessen Essenz darin bestand, das Leben aller Deutschen jederzeit unter das „große Ganze“ unterzuordnen. Für autoritäre Regime gilt der Satz: „Ein Mensch ist jederzeit bereit, für eine Idee zu sterben, vorausgesetzt, er versteht sie nicht völlig.“
Die Erfahrungen der NS-Zeit führten dazu, dass wir in Deutschland oftmals deutsche Interessen mit menschenfeindlichen Zielen verbinden. Die Schlussfolgerung lautet aber nicht: Deutschland verfolgt per se menschenfeindliche Interessen, wenn es eigene Interessen verfolgt, sondern: Autokratische Regime in Deutschland oder anderswo verfolgen menschenfeindliche Interessen. Eine deutsche Demokratie kann somit jederzeit nationale Interessen verfolgen, die sehr wohl demokratisch gerechtfertigt, gar moralisch richtig sein können.
Die gute alte Zeit: Unsere Interessen sind eure Interessen
Deutschland ersparte sich lange eine grundlegende Evolution seines Selbstverständnisses, was aus drei Gründen sehr bequem, gar erleichternd war:
Zum einen erlaubt der Verzicht auf komplexe Debatten über nationale Interessen eine einfache Antwort auf die Frage nach nationaler Identität. In Deutschland – gerade bei seinen meinungsmachenden progressiven Kräften – hieß diese einfache Antwort: Deutschland, das ist Auschwitz, Angriffskrieg, Menschenverachtung. Daraus folgt alles Weitere, sei es in der Außen- oder Innenpolitik. War diese Sichtweise in den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten sicherlich richtig, wurde sie es immer weniger, je weiter 1945 zurücklag. Denn je länger die Bundesrepublik Deutschland (BRD), die Deutsche Demokratische Republik (DDR) und schließlich das wiedervereinigte Deutschland existierten, desto weniger konnte man Deutschland oder die Deutschen allein über die Zeit 1933–1945 oder die Folgejahrzehnte definieren. Dies zu tun, war in den Anfangsjahrzehnten nach 1945 richtig und danach schlicht bequem. Dazu später mehr.
Zum Zweiten wurde die liberale Demokratie nie institutionell in ihren Grundfesten bedroht (zumindest nicht in der BRD, in der DDR existierte sie leider nie). Es gab zwar die gewalttätigen Studentenproteste und den Terror der Rote-Armee-Fraktion (RAF), es gab und gibt islamistische Terroranschläge und inakzeptable rechtsextreme Gewalt, aber das alles stellte nie eine systematische Bedrohung für die Bundesrepublik dar. Sie kamen nie in die Nähe der Machthebel der deutschen Exekutive. Mit dem Aufstieg der antidemokratischen Alternative für Deutschland (AfD) stellt sich nun zum ersten Mal seit 1949 die Systemfrage. Der AfD geht es um den grundlegenden Umbau der Staatsstruktur. Die liberale Demokratie soll umgebaut werden in ein autoritäres System. Die deutsche Demokratie muss sich somit erstmals gegen einen sehr ernst zu nehmenden Feind im Inland schützen. Um die Gefahr für unsere liberale Demokratie plakativ darzustellen: Die Präsenz der AfD in Landtagen und im Bundestag 2025 entspricht in etwa dem Absprung von 30.000 sowjetischen Fallschirmjägern über Hamburg 1985. Auch dazu später mehr.
Zum Dritten musste sich Deutschland die Frage nach dem nationalen Interesse in seinem vollen Umfang auch lange nicht stellen, da die nationalen Interessen anderer Staaten nahezu deckungsgleich mit unseren waren, vorneweg die der USA, Frankreichs und Großbritanniens. Diese drei Staaten führten den Kreis der liberalen Demokratien weltweit an, die sich nach 1945/49 in der NATO versammelt hatten. Ihre grundlegenden Ziele in politischer, wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Hinsicht waren mit unseren fast identisch:
• der Erhalt und die Stärkung der liberalen Demokratien, in denen politische Extreme oder gar antidemokratische Kräfte keine nennenswerte Rolle spielten oder so schnell bekämpft wurden, dass sie irrelevant blieben. In diesem Sinne wurde das Grundgesetz geschrieben;
• unterschiedliche Formen der (sozialen) Marktwirtschaft, in der möglichst intensiver weltweiter Handel zu mehr Wohlstand führte, und ein (unterschiedlich ausgebauter) Wohlfahrtsstaat, der diesen Wohlstand möglichst breit verteilen sollte und auch konnte, institutionalisiert durch die EU und transatlantische Handelsverträge;
• die Sicherstellung der territorialen Unversehrtheit der liberalen Demokratien und die Ausweitung ihrer globalen Interessensphären gegenüber den Gegenspielern Sowjetrussland und später China, repräsentiert durch die größte Militärallianz der Welt, die NATO.
Unsere nationalen Interessen heute sind demgegenüber sehr ähnlich geblieben:
• der Erhalt und die Stärkung der liberalen Demokratie in Deutschland und weltweit sowie die massive Bekämpfung antidemokratischer Kräfte;
• der Erhalt und der Ausbau der sozialen Marktwirtschaft, in der möglichst intensiver weltweiter Handel zu Wirtschaftswachstum führt, den der Wohlfahrtsstaat möglichst gerecht verteilt bzw. durch den er Chancengerechtigkeit herstellt;
• die Sicherstellung der territorialen Unversehrtheit der eigenen und anderer liberaler Demokratien und die Ausweitung ihrer globalen Interessensphären.
Das Problem ist: Unsere wichtigsten Verbündeten teilen diese Interessen nicht mehr so fraglos.
Die neue Lage: Auf die alten Verbündeten ist nicht mehr unbedingt Verlass
2025 hat sich Deutschlands innen- und außenpolitisches Umfeld vollkommen verwandelt: Der immer größer werdende Abstand zu 1945 und der Aufstieg der antidemokratischen AfD erzwingen eine Neudefinition deutscher Identität und deutscher Interessen und deren Durchsetzung im Inland. Außenpolitisch ist festzuhalten, dass mit der Wiederwahl Trumps zum US-Präsidenten im November 2024 das amerikanische Jahrhundert (das 20.) endgültig zu Ende ging und das 21. Jahrhundert (das die Welt in Machtzonen um regionale Zentren einteilen wird) endgültig begonnen hat. Doch Trumps Wiederwahl ist nur ein Beispiel für den Aufstieg reaktionärer Kräfte bei unseren wichtigsten Alliierten. Ihr Aufstieg begann schon in den 1990ern und schritt auch in Frankreich (Marine Le Pen) und Großbritannien (Brexit) voran. In der Folge verschieben sich so die Interessen unserer wichtigsten Alliierten: Länder, in denen antidemokratische und nationalistische Parteien regieren (USA) oder kurz davor sind (Frankreich) oder die nationale Agenda bestimmen (Großbritannien), haben nicht mehr die gleichen Interessen wie Deutschland. Ihnen liegt weder die Stärkung der liberalen Demokratie am Herzen noch der globale Freihandel und ein menschenfreundlicher Wohlfahrtsstaat, noch haben sie ein grundlegendes Interesse, autoritäre Regime zu bekämpfen. All dies kann man gut an den Äußerungen Donald Trumps ablesen, der die USA in ein autoritäres Regime umbauen möchte, seine Wirtschaft durch Zölle schützen will und hofft, mit „großen Deals“ einen Interessenausgleich mit China und Russland zu erreichen. Ähnliches gilt für Marine Le Pen in Frankreich, für Großbritannien dagegen nur teilweise, da dort zwar der Nationalismus immer stärker wird, aber die liberale Demokratie noch nicht in Gefahr zu sein scheint (siehe Folgekapitel). Der Aufstieg Chinas und der russische Angriffskrieg in der Ukraine sind in diesem Zusammenhang eher sekundär. Denn die Rivalität mit beiden ist eine historische Konstante seit 1945.
In realen Machtpotenzialen...
| Erscheint lt. Verlag | 27.1.2025 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | AfD • Außenpolitik • Bildung • China • Demokratie • Einwanderung • Migration • Parteiensystem • Populismus • Rechtspopulismus • Reform • Sicherheitspolitik • USA • Volksparteien |
| ISBN-10 | 3-451-83435-9 / 3451834359 |
| ISBN-13 | 978-3-451-83435-6 / 9783451834356 |
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