Schlauer im Schlaf und andere Lernmythen (eBook)
Dr. Michael Skeide wurde nach dem Studium in Heidelberg und Harvard in Leipzig promoviert und in Berlin habilitiert. Seit 2020 ist er Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. In seinen Untersuchungen befasst er sich mit der frühkindlichen und pränatalen Entwicklung des menschlichen Gehirns. Dabei geht er unter anderem der Frage nach, wie Lernprozesse aus elektromagnetischen Signalen des heranreifenden Gehirns entschlüsselt werden können. Über seine vielfach ausgezeichneten wissenschaftlichen Arbeiten berichteten u. a. die »FAZ«, der »SPIEGEL«, die »Neue Zürcher Zeitung« und die »Washington Post«.
Dr. Michael Skeide wurde nach dem Studium in Heidelberg und Harvard in Leipzig promoviert und in Berlin habilitiert. Seit 2020 ist er Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. In seinen Untersuchungen befasst er sich mit der frühkindlichen und pränatalen Entwicklung des menschlichen Gehirns. Dabei geht er unter anderem der Frage nach, wie Lernprozesse aus elektromagnetischen Signalen des heranreifenden Gehirns entschlüsselt werden können. Über seine vielfach ausgezeichneten wissenschaftlichen Arbeiten berichteten u. a. die »FAZ«, der »SPIEGEL«, die »Neue Zürcher Zeitung« und die »Washington Post«.
7.
Früh, früher, Frühförderung
Lernen beginnt schon im Mutterleib. Wir wissen zum Beispiel, dass das Gehirn gleich nach der Geburt die Silben ba und ga unterscheiden kann. Das ist sogar bei Frühgeborenen der Fall (Untersuchung28 auf Beweiskraft-Stufe 4/5). Es ist eher unwahrscheinlich, dass ein Kind das während der ersten Lebenstage auf der Welt lernt. Und es ist klar, dass dafür keine Fördermaßnahmen nötig sind.
In einer weiteren Untersuchung29 wurden werdende Mütter damit beauftragt, ihren Ungeborenen täglich die Silbenreihe tatata vorzuspielen. Dabei wurde ab und zu die Betonung auf die Silbe in der Mitte gelegt: tatáta. Kurz nach der Geburt bekamen die Babys diese Silben wieder vorgespielt, während sie eine Hirnstromkappe aufhatten. Und tataaa! Ihr Gehirn reagierte auf den Unterschied zwischen tatata und tatáta. Diese Reaktion blieb bei Babys aus, die nicht an dem vorgeburtlichen Hörspiel teilgenommen hatten. Schade, dass es keine weitere Kontrollgruppe gab, die zum Beispiel ein anderes Hörspiel hörte. So muss die Reaktion des Gehirns kein besonderer Lerneffekt sein. Vielleicht wurde einfach nur allgemein die Aufmerksamkeit erhöht. Die aufgezeichnete Hirnreaktion ist in diesem Fall leider mehrdeutig. Deswegen schafft es die Studie nur auf Beweiskraft-Stufe 2/5.
Lernen vorgeburtlich anzuregen, ist keineswegs nur eine verrückte Idee aus irgendeiner seltsamen Forschungswelt. Vorlesen oder musikalische Begleitung ist für viele Schwangere ein wichtiges Ritual. Onlinedienste bieten Playlists speziell für Babys im Mutterleib an. Dabei geht es natürlich nicht nur ums Lernen, sondern auch um Entspannung, Bindung und vieles mehr. Aber für einige stellt sich bereits die Frage: Wie mache ich mein Kind fit für ein späteres Leben in der hart umkämpften Leistungsgesellschaft?
Ich wünsche uns allen eine gewisse Gelassenheit gegenüber dieser Frage. Lassen Sie uns zunächst eingestehen: Die Entwicklung unserer Kinder liegt nur bedingt in unserer Hand. Das gilt natürlich auch für das Lernen. Wir können (und wollen) die Gene nicht (direkt) aussuchen. Was wir stattdessen versuchen können, ist, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich unterschiedliche Lernpotenziale individuell entfalten dürfen. Aber bitte ohne engstirnige Erwartungen. Und ohne den Glauben, wir hätten die volle Kontrolle. Nehmen wir etwas Druck heraus.
Was bringen also Lernfördermaßnahmen während der Schwangerschaft? Ich zitiere dazu einen Beitrag30 auf der Website eines renommierten Kinderhilfswerks: »Musik hören während der Schwangerschaft hat nicht nur einen beruhigenden und stimmungsaufhellenden Effekt auf die schwangere Frau, sondern auch einen positiven Einfluss auf das ungeborene Baby.« Der beschworene »positive Einfluss« wird jedoch leider nicht näher erläutert.
Kann hier die Wissenschaft einspringen? Sie kann. Zumindest wird eine Untersuchung31 konkreter: Babys, deren Mütter während der Schwangerschaft täglich Musik hörten, reagierten (angeblich) aufmerksamer auf Gesehenes und Gehörtes als Babys ohne musikalische Frühförderung. Allerdings gibt es Punktabzug dafür, dass der Erstautor selbst die Reaktionen der Babys getestet hat. Das fällt hier besonders schwer ins Gewicht, weil die Reaktion nicht gemessen, sondern nur auf einer 9-Punkte-Skala eingeschätzt wurde. Subjektive Verfälschung ist hier nicht ausgeschlossen, zumal er die Gruppenzugehörigkeit kannte und ein gewisses Interesse daran hatte, einen Effekt zu finden. Das reicht mit Augenzudrücken für Beweiskraft-Stufe 1/5. Dennoch sind die Beteiligten hier einer wichtigen Frage nachgegangen. Das ist nicht in Abrede zu stellen.
Eine weniger seriöse Quelle lehnt sich weit aus dem Fenster: »Musik im Mutterleib fördert die Verknüpfung von Nervenzellen.« Ich befürchte, dass sich diese Aussage auf eine Untersuchung32 bezieht, in der eigentlich etwas anderes beleuchtet wurde: nämlich die Nervenzelldichte in der Hirnrinde von Ratten, deren Muttertiere während der Schwangerschaft zweimal 90 Minuten pro Tag mit klassischer Musik beschallt wurden. Diese Ratten (sechs Tiere) hatten angeblich eine höhere Nervenzelldichte als sechs Ratten ohne vorgeburtliche Musikerfahrung. Hier schrillen sofort laute Alarmglocken. Woher weiß man, dass das bei nur sechs Ratten kein Zufall war? Und kann man das auf den Menschen übertragen? Wohl kaum. Außerdem bleibt völlig offen, ob diese »Förderung« überhaupt einen Einfluss auf das Lernen hatte. Beweiskraft-Stufe: bestenfalls 1/5.
Bis hierhin halten wir fest: Frühförderung während der Schwangerschaft klingt gut, die Beweislage steht jedoch auf wackeligen Beinen. Es könnte sein, dass die Stimulation mit Sprache und Musik vielleicht die Aufmerksamkeit eines Neugeborenen etwas erhöht. Was das für spätere Lernfähigkeiten bedeuten könnte, ist allerdings aktuell vollkommen unklar. Untersuchungen zu langfristigen Auswirkungen habe ich vergeblich gesucht.
Führen vielleicht etwas spätere Förderprogramme in die Erfolgsspur? Ist es sinnvoll, das Lernen von Kleinkindern ankurbeln zu wollen? Kapitel 4 macht uns da eher skeptisch. Da es so etwas wie ein Mindesthaltbarkeitsdatum der Lernfähigkeit nicht gibt, gibt es auch keine zwingenden Gründe für die Befürchtung, dass man eine Chance verpassen könnte, wenn man nicht in frühester Kindheit damit beginnt. Kapitel 5 stimmt uns noch nachdenklicher. Da haben wir gelesen: Förderung überträgt sich nicht automatisch auf andere Lernbereiche. Was fördere ich dann? Musikalische Früherziehung? Sprachliche Fähigkeiten? Mathematische Grundlagenfähigkeiten? Lesen und Schreiben? Schwierig, sich da festzulegen, zumal wir festgestellt haben, dass ein paar Monate nicht reichen. Das Kind wäre zum langjährigen Dranbleiben verdammt, sonst könnte alles umsonst gewesen sein. Hm, das hört sich nicht gerade entspannt an.
Der oben angesprochene Beitrag30 des Kinderhilfswerks legt sich fest: »Musik befeuert alle Bereiche der Entwicklung. Und sie fördert die Schulreife, insbesondere in den Bereichen Sprache und Lesen.« Die Formulierung verrät es schon: Wenn wir »alle Bereiche« lesen, können wir eine Uhr darauf verwetten, dass da jemand zu weit geht. Lassen wir die erste Behauptung also lieber links liegen.
Die zweite Behauptung dagegen können wir anhand einer Untersuchung33 überprüfen. Getestet wurde dort die Wirksamkeit von Musik im Vergleich zum Zeichnen an vier- bis sechsjährigen Kindern. Die Musik-App umfasste Rhythmus, Tonhöhe, Melodie, Gesang und Theorie (Noten, Tonleiter). Die Zeichnen-App umfasste Formen, Farben, Perspektiven und Materialien. Geübt wurde sehr intensiv, zwei Stunden pro Tag, vier Wochen lang, begleitet von einer Lehrkraft, drei Hilfslehrkräften und einer wissenschaftlichen Hilfskraft. Das Ergebnis war, dass die Kinder in der Musik-Gruppe nach den vier Wochen in einem Wortschatztest besser abschnitten. Die Größe dieses Effekts lag bei 33 auf einer Skala von minimal 0 bis maximal 100. So weit, so gut. Starke Schlüsse wären bei nur 32 Kindern jedoch fahrlässig. Wir erfahren auch nicht, wie lange der Vorteil nach Abschluss des Programms anhielt. Und schließlich ist der Verdacht nicht auszuräumen, dass die Musik-Lehrkraft vielleicht einfach kompetenter war (indem sie zum Beispiel besser erklärt hat) als die Zeichnen-Lehrkraft. So landet die Arbeit auf Beweiskraft-Stufe 2/5.
Zurück zu dem Beitrag30, der die Kraft der Musik beschwört: »Ein Instrument zu lernen, kann Mathe-Lernen verbessern und sogar Schulnoten verbessern.« Dieses Versprechen steht mit folgender Untersuchung34 in Verbindung (Beweiskraft-Stufe 2/5): Acht bis zehn Jahre alte Schulkinder in einem Viertel von São Paulo mit hoher Armutsrate erhielten fünf Monate lang drei Unterrichtsstunden pro Woche eine musikalische Förderung. Die Kinder durften mithilfe von Blockflöten und Keyboards musizieren. Dabei wurden sie von zwei Lehrkräften angeleitet, Rhythmen, Melodien und Harmonien zu erkennen. Im Vergleich zu Kindern, die einem unveränderten Schulalltag nachgingen, verbesserten sie sich im Durchschnitt um etwas mehr als eine Mathe-Schulnote. Hier haben wir wieder das Problem, dass die Vergleichsgruppe gar nichts gemacht hat. Damit ist ein spezieller Effekt von Musik leider nicht nachweisbar. Es könnte sein, dass die aktiven Kinder zum Beispiel von der intensiveren Betreuung durch zwei zusätzliche Lehrkräfte profitiert haben. Gerade bei diesen Kindern mit einem eher ungünstigen häuslichen Lernumfeld könnte das eine entscheidende Rolle gespielt haben. Aber was hätte das Forschungsteam machen sollen? Schule entzieht sich nun einmal der experimentellen Kontrolle. Das soziale Gefüge ist viel zu komplex und viel zu reguliert. An der Kompetenz der Autor*innen habe ich keinen Zweifel.
Auch wenn Musik vielleicht nicht beim Lernen hilft: Musik ist trotzdem cool – eine der besten Erfindungen überhaupt. Ohne sie wäre dieser Planet wüst und leer. Selig sind die, die ein Instrument oder eine Musikmaschine bedienen können. Viva la musica!
So richtig fündig geworden sind wir noch nicht. Aber die Auswahl ist groß. Der nächste Themenbereich bitte: Sprachförderung. In diesem Bereich werden gerne die Eltern mit ins Boot geholt. Das macht Sinn, weil sie typischerweise viel Zeit mit ihren Kindern verbringen, oft mehr als das jeder Coach von außen könnte. In solchen Sprachförderungsprogrammen bekommen Eltern zum...
| Erscheint lt. Verlag | 13.4.2025 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Geisteswissenschaften ► Psychologie | |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Bildung • Erfolg • Fakten • Gedächtnis • Gehirn • Gehirnentwicklung • Hirnforschung • Irrtürmer • Lernen • Lernmythen • Lernstrategien • Mythen • Neurowissenschaft • Schule • Universität • Wissenschaft |
| ISBN-10 | 3-98922-120-5 / 3989221205 |
| ISBN-13 | 978-3-98922-120-8 / 9783989221208 |
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