Kreisky, Israel und die Juden (eBook)
208 Seiten
ecoWing (Verlag)
978-3-7110-5380-0 (ISBN)
Daniel Aschheim, geboren 1988 in Jerusalem, ist israelischer Diplomat und derzeit in Funktion im israelischen Außenministerium. Der Absolvent der »European Studies« an der Hebrew University fungierte zwischen 2020 und 2023 als stellvertretender Generalkonsul in den USA. In Diplomatie übte er sich bereits vor seiner akademischen Laufbahn, etwa als Concierge eines Luxushotels. Der Autor lebt mit seiner Familie in Israel.
Daniel Aschheim, geboren 1988 in Jerusalem, ist israelischer Diplomat und derzeit in Funktion im israelischen Außenministerium. Der Absolvent der »European Studies« an der Hebrew University fungierte zwischen 2020 und 2023 als stellvertretender Generalkonsul in den USA. In Diplomatie übte er sich bereits vor seiner akademischen Laufbahn, etwa als Concierge eines Luxushotels. Der Autor lebt mit seiner Familie in Israel.
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KREISKYS JÜDISCHE IDENTITÄT
Kreisky und das jüdische Leben in Wien
Es wird manchmal behauptet, dass Kreisky, so wie viele andere österreichische Juden, aus einem völlig »assimilierten« jüdischen Elternhaus stammte. In der neueren Forschung wird jedoch ein scharfer Unterschied zwischen »Assimilation« und »Akkulturation« gemacht. Assimilation setzt die völlige Auslöschung der jüdischen Identität und eine Art Konversion zur dominanten Religion der Kultur voraus. Dies trifft auf Kreisky und seine Familie nicht zu: Sie haben ihren jüdischen Hintergrund oder ihre Abstammung nie verleugnet, obwohl sie keine Verbindung zur offiziellen jüdischen Religionsausübung hatten. Es wäre daher zutreffender, zu sagen, dass Kreisky auf komplizierte Weise ein vollständig akkulturierter Österreicher war, wenn auch einer, der bestimmte Identitätsmuster und familiäre Loyalitäten aufwies, die eindeutig jüdisch waren.
Kreiskys Familie gehörte zum jüdischen Großbürgertum aus dem tschechischen Teil des Habsburgerreiches. Seine Mutter war die Tochter eines Industriellen, sein Vater war Direktor einer Textilfabrik. Wie viele andere böhmische und mährische jüdische Familien war auch Kreisky kulturell, politisch und emotional liberal eingestellt. Kreisky war, wie viele andere sensible jüdische Jugendliche aus dem Bürgertum, von der Armut und der Gewalt in Österreich betroffen. Obwohl sein Vater Max erfolgreich in der Textilindustrie tätig war, trat der fünfzehnjährige Kreisky 1925 zum Leidwesen seiner Eltern dem Jugendverband der Sozialistischen Partei Österreichs bei. Dies war in jüdischen bürgerlichen Familien in Mitteleuropa durchaus üblich, viele prominente sozialistische Führer stammten nicht aus proletarischen Familien. Ein Jahr später trennte er sich aktiv vom Judentum und ließ seinen Namen aus den Listen des Wiener Judenbundes streichen.
Juden konnten sich in den Ländern der Habsburgermonarchie frei bewegen und sich – in nie ganz definierten Grenzen – auch in die allgemeine Gesellschaft integrieren. Kreiskys Familie lehnte, wie auch die meisten bürgerlichen österreichischen Juden, den Zionismus von Theodor Herzl ab. Dies spielte zweifellos eine Rolle für Kreiskys spätere Haltung zu politischen Fragen im Zusammenhang mit dem Zionismus und Israel. Kreiskys ehemaliger Sekretär Thomas Nowotny glaubt, dass Kreiskys negative Einstellung zum Zionismus auf seinen bürgerlichen Hintergrund zurückzuführen ist, in dem eine österreichische nationale Identität positiv betont wurde. Wie andere österreichische jüdische Familien glaubten auch die Kreiskys, dass man sich mit seinem Geburtsland identifizieren sollte, wo immer man auch lebte. Diese Ansicht stand in direktem Gegensatz zur zionistischen Idee, die sich ausschließlich auf eine jüdische Nationalität und ein jüdisches Heimatland bezieht.
In Kreiskys Generation lässt sich eine historische Verbindung zwischen jungen, akkulturierten Juden und der Anziehungskraft universeller Formen des »Fin de Siècle«-Sozialismus erkennen. Das Wien der Jahrhundertwende war eine außerordentlich kosmopolitische Stadt auf dem Höhepunkt großer kultureller und intellektueller Kreativität. Gleichzeitig herrschten in der Stadt nationalistische und antisemitische Unruhen, die bereits nach den Revolutionen von 1848 eingesetzt hatten. Assimilierte und nicht assimilierte Juden stellten in der Stadt eine bedeutende Präsenz dar. Im Jahr 1910 lebten beispielsweise 175.318 Juden in Wien. Kreisky schreibt in seinen Memoiren, dass die akkulturierten Juden gut in die österreichische Gesellschaft integriert waren und dass er und seine Familie nur ein oder zwei kleinere negative Vorfälle im Zusammenhang mit ihrem Judentum erlebten. Kreiskys langjähriger Sekretär Wolfgang Petritsch bekräftigt dies mit den Worten:
Kreisky betrachtete die Österreicher als eine Nation mit stolzer Vergangenheit und sah sich selbst als Bürger des »größeren Österreichs«, womit er das Habsburgerreich meinte. Er sah das intellektuelle und geistige Österreich definitiv als eines, das auf dem sehr positiven Erbe des Habsburgerreiches aufgebaut war. Es war klar, dass die meisten österreichischen jüdischen Intellektuellen nicht in Wien geboren waren, sondern aus den Randgebieten des Reiches kamen. Da die Juden in der Monarchie kein eigenes Land hatten, war für sie das Große Österreichische Reich ihre wahre Heimat.
Kreiskys familiäres Umfeld war ein Beispiel für gelungene soziale Integration im multinationalen Habsburgerreich, was seine Einstellung zur österreichischen Gesellschaft und später zum österreichischen Staat maßgeblich beeinflusste. Es war dieser Sinn für multinationale Toleranz und kosmopolitische Eleganz, der die Juden des Reiches so anziehend machte und sie gegenüber Kaiser Franz Joseph, der von 1848 bis 1916 regierte, so loyal werden ließ. In seinen Memoiren hebt Kreisky eine gewisse Abneigung gegen die noch in Ghettos lebenden galizischen Ostjuden und ihre Verbundenheit mit jüdischen Ritualen hervor. Zu dieser Zeit gab es eine gewisse Spannung zwischen den sogenannten traditionellen »Ghetto«-Juden und den modernen assimilierten oder akkulturierten Juden. Für Juden (und leider auch für viele Nicht-Juden) war dies im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine entscheidende Identitätsfrage, die im Deutschen Reich und in der Habsburgermonarchie besonders ausgeprägt war.
Obwohl Kreisky gegen Ende der sogenannten großen Periode des Wiener Fin de Siècle geboren wurde, ähnelten viele der Haltungen, die er mit seiner jüdischen Herkunft verband, denen der vorangegangenen Generation. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verband sich in Wien enorme intellektuelle Kreativität mit politischen und nationalen Umwälzungen. Jüdische Intellektuelle standen bei vielen dieser Themen im Mittelpunkt und zogen Bewunderung – und Ressentiments – auf sich. Ein gewichtiger Teil des Antisemitismus war damals mit dem »subversiven« Denken dieser Intellektuellen verbunden. Man denke an Größen wie Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Stefan Zweig, Sigmund Freud, Theodor Herzl und Ludwig Wittgenstein, um nur einige zu nennen.
Die jüdische Identität wurde für die meisten – wenn nicht für alle – dieser Juden zu einem zentralen Problem. Der Schriftsteller Arthur Schnitzler – ein scharfsinniger und subtiler psychologischer Porträtist des bürgerlichen Wiens und seiner inneren sexuellen, unbewussten Impulse – schildert in seinem bemerkenswerten Roman Der Weg ins Freie (1908) meisterhaft die Verwirrung und die Kreativität dieser Wiener jüdischen Intellektuellen. Ein nichtjüdischer Protagonist des Romans drückt es so aus: »Wo immer er hinkam, traf er nur Juden, die sich schämten, Juden zu sein, oder solche, die stolz darauf waren und sich davor fürchteten, dass man glaubte, sie würden sich dafür schämen.«
Es ist bemerkenswert, wie obsessiv die Frage des Jüdischseins oder »das jüdische Problem« im Zentrum ihrer Psyche und ihres Bewusstseins stand. Ausnahmslos alle haben über diese Frage nachgedacht – ob negativ oder positiv, konstruktiv oder verzweifelt. Alle grübelten tief über das Wesen ihres jüdischen Wesens nach und suchten nach Wegen, um ihre persönlichen und kollektiven Probleme zu lösen. Zweifellos war es das Wien der Jahrhundertwende, wo der eigentümliche Zustand, den man als »jüdischen Selbsthass« bezeichnet, nicht nur pathologische Ausmaße annahm, sondern auch in den Werken von Otto Weininger, der Selbstmord beging, und Arthur Trebitsch, der sich aus seinem heftigen Selbsthass heraus sogar dem Nationalsozialismus anschloss, seinen philosophischen Ausdruck fand. Interessanterweise schrieb Joshua Sobol in den 1970er-Jahren, während Kreiskys Regierungszeit, in Israel ein sehr erfolgreiches Theaterstück über Otto Weininger. Mohammad Bakri, ein arabischer israelischer Schauspieler, spielte in einer Inszenierung des Stücks Sigmund Freud.
Kreiskys komplexe jüdische Identität
Vor diesem historischen Hintergrund und den Reaktionen anderer Mitglieder der jüdischen Bildungsschicht ist es nicht verwunderlich, dass Kreiskys Verhältnis zu seiner jüdischen Herkunft und seine Verbindung zu ihr relativ komplex waren. Er erkannte den Einfluss seiner Wurzeln auf seine Persönlichkeit und Identität an, weigerte sich jedoch, zu akzeptieren, dass sein jüdisches Erbe oder seine ethnische Zugehörigkeit irgendeinen nennenswerten Einfluss hatten. »Ich stehe zu dem, was ich über einen allgemeinen Einfluss [meines jüdischen Hintergrunds] auf die Persönlichkeit gesagt habe«, erklärte Kreisky. »Aber es war mir immer fremd, dem Blut oder einer Blutsverwandtschaft Bedeutung beizumessen.« Kreisky erwartete, dass »man die religiöse Zugehörigkeit, die in meinem Fall mein jüdisches Erbe ist, als Privatsache ansieht«. Zu denjenigen, die ihn aufgrund seiner jüdischen Religion abstempelten, sagte Kreisky: »Ich erlaube niemandem, mich als Mitglied einer bestimmten Rasse zu betrachten.« Stattdessen sagte er, er sei »als Mitglied einer Schicksalsgemeinschaft aufgewachsen, die es in der alten österreichischungarischen Monarchie nicht schlecht hatte.« Auf die Frage der Interviewerin Herlinde Koelbl, wie er sich als »erster jüdischer Bundeskanzler in Österreich« sehe, wies Kreisky sie sofort zurecht, dass sie ihn nicht als »ersten Bundeskanzler jüdischer Abstammung« ansprechen solle. Er betonte, dass er seine Herkunft zwar nie verleugnet habe, er aber auch nicht wolle, dass sie ihn definiere. In vielerlei Hinsicht...
| Erscheint lt. Verlag | 27.2.2025 |
|---|---|
| Verlagsort | Wals |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Außenpolitik • berühmte personen österreich • Biografie • Bruno Kreisky • Bundeskanzler • Friedenspolitik • Israel • Israel Palästina • Judentum • Kreisky • Nahostkonflikt • Nahost-Konflikt • Österreich • österreichische bundeskanzler • Österreich Politik • Palästina • Politik • politiker bücher • politiker österreich • sachbücher politik • Zeitgeschichte • Zweistaatenlösung • Zwei-Staaten-Lösung • Zweite Republik |
| ISBN-10 | 3-7110-5380-7 / 3711053807 |
| ISBN-13 | 978-3-7110-5380-0 / 9783711053800 |
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