Die Verkrempelung der Welt (eBook)
180 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78282-8 (ISBN)
»Knebel« nennt man die drehbaren Elemente an Küchenherden, mit denen sich bequem die Temperatur regulieren lässt. Wer heute einen Induktionsherd kauft, verbiegt sich freilich bald die Finger auf widerspenstigen Touchflächen. Solche Dinge, die in gewissen Hinsichten schlechter sind, als sie einmal waren oder sein könnten, nennt Gabriel Yoran »Krempel«. Warum existieren sie überhaupt? Würde man sich die Weiterentwicklung von Produkten nicht als linearen Fortschritt vorstellen?
Warenkritik gilt wahlweise als angestaubter Antikapitalismus oder Ausdruck reaktionärer Nostalgie. Gleichzeitig sollen wir mit unseren Kaufentscheidungen das Klima retten oder zu besseren Arbeitsbedingungen im globalen Süden beitragen. In dieser Lage fragt Yoran, ausgehend von Brauseschläuchen und Kaffeevollautomaten, nach den Ursachen der Verkrempelung. Und er wagt sich an den oft tabuisierten Versuch, über Kriterien für die Legitimität von Bedürfnissen nachzudenken. Yoran tut dies so unterhaltsam wie umfassend informiert - und in dem Bewusstsein, dass wir als Verbraucher:innen ebenfalls in den Verkrempelungszusammenhang verstrickt sind.
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Gabriel Yoran, geboren 1978 in Frankfurt am Main, ist Unternehmer und Autor. Mit achtzehn gründete er sein erstes Unternehmen. Er promovierte über Spekulativen Realismus bei Graham Harman an der European Graduate School. Zuvor studierte er Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der UdK Berlin. Als Autor widmet er sich so unterschiedlichen Themen wie Kochen und klassischer Musik. Er ist Mitgründer mehrerer Unternehmen und Autor diverser Sachbücher, zudem schreibt er für den Merkur, Zeit Online, Krautreporter und die taz.
7
1. Kauf halt was anderes,
wenn es dir nicht passt
So, jetzt ist es so weit: Ich bin meine Mutter.
Das dachte ich, als ich auf das Kochfeld des neuen Herds blickte. Nichts ergab irgendeinen Sinn. Was bedeuten die Zahlen? Wo soll ich drücken? Hilfe!
8So fühlen sich vermutlich meine Eltern, wenn auf dem Computer ein unbekanntes Fenster aufploppt oder das Handy nach dem Passwort für etwas verlangt, von dem sie noch nie gehört haben. Eben ging man noch ganz selbstverständlich mit etwas um, plötzlich erscheint es einem fremd, geradezu feindselig.
Im Februar 2022 postete ich ein Foto des Herdbedienfelds auf Twitter, und siebentausend Likes später wusste ich, dass ich einer Sache auf der Spur war. Statt mit Knebeln, den klassischen Drehstellern an der Front von Küchen- und anderen Geräten, wird die Temperatur an dem neuen Herd über ein futzeliges Touchfeld eingestellt, das erst beim dritten Anlauf reagiert, unmittelbar neben den heißen Töpfen platziert ist und sich bei Kontakt mit selbigen (oder Wasser) piepsend abschaltet. Zudem ist es mit der völlig rätselhaften Zeichenfolge »0 1 3 5 8 10 14 A« beschriftet.
Alles an diesem User-Interface ist völlig unverständlich. Vor allem aber, wie es seinen Weg durch den Entwicklungsprozess, die Nutzertests, die Qualitätskontrolle und schließlich in den deutschen Einzelhandel machen konnte. Wer hat sich das ausgedacht? Warum ist niemand in irgendeiner Produktkonferenz aufgestanden und hat gesagt: Entschuldigung, aber das ist doch kompletter Stuss!
Dieser Herd ist keine Ausnahme. Die billigere wie die teurere Konkurrenz ist heute oft mit einer solchen Touchbedienung ausgestattet, die keine relevanten Vorteile, dafür aber handfeste Nachteile hat. Die früher üblichen Knäufe konnte man bedienen, ohne hinzuschauen, ohne sich die Finger zu verbiegen oder sie sich zu verbrennen (weil man damals eben nicht genau da hantieren musste, wo die heiße Pfanne steht), sie reagierten auf Anhieb, 9auch wenn man sie mit feuchten Händen anfasste. Die Touchfelder haben nur einen Vorteil, jedoch nicht für die Kundschaft: Sie sind tatsächlich günstiger in der Herstellung – die Herde werden aber nicht billiger verkauft. Will man hingegen einen modernen Herd mit klassischen controls, muss man einen Aufpreis zahlen.
Nun ist es keineswegs so, dass an den neuen Geräten alles schlechter wäre. Alle, die mal mit Induktion gekocht haben, werden zustimmen, dass diese Technik gegenüber einem herkömmlichen E-Herd viele Vorteile hat – die Temperatur lässt sich präziser steuern, der Stromverbrauch ist geringer, und die Herdplatte wird nicht heiß (der Topf schon!).
Man kann an solchen Geräten eine merkwürdige Gleichzeitigkeit von Fort- und Rückschritt beobachten. Während die Primärfunktionen, beim Herd also das Erhitzen von Speisen, besser und effizienter erfüllt werden, verlangt das Produkt eine hakelige, unnötig umständliche Befassung mit sich. Nicht die Dinge bedienen uns, sondern sie »wollen bedient werden«, wie der Medienphilosoph Vilém Flusser schon in dem 1993 erschienenen Buch Dinge und Undinge schrieb.1 Und dieses, im doppelten Sinne, Befassungsbedürfnis der Dinge ist seitdem in vielen Produktkategorien steil angewachsen.
Wasch- und Spülmaschinen erzielen zwar mit so wenig Strom und Wasser wie nie sehr gute Ergebnisse, machen sich derweil aber mit immer mehr (teils angeblich KI-gesteuerten) Programmen wichtig, die niemand benutzt. Sie piepsen ganze Melodien und blinken um die Aufmerksamkeit der Familie, die doch einfach nur saubere Wäsche und Teller will. Dafür gehen sie schneller kaputt als ältere Modelle.
Was Stromverbrauch und Haltbarkeit anbelangt, sind 10moderne LEDs klassischen Glühbirnen geradezu beschämend überlegen, auch das Problem der zu kalten Farbtemperaturen hat man in den Griff bekommen. Die fancy Heim-Automatisierung verlangt allerdings, dass Gäste eine App installieren, um das Licht im Klo einzuschalten.
Autos sind sicherer als je zuvor, und Fortschritte in der Batterieentwicklung ermöglichen mittlerweile auch elektrisch respektable Reichweiten. In der 2019er-Baureihe von Deutschlands meistverkauftem Pkw, dem VW Golf, regelt man Heizung und Klima jedoch nicht mehr mit Knöpfen, sondern über eine berührungsempfindliche, unbeleuchtete Fläche, die man nachts nur findet, wenn man weiß, wo sie ist, und die man nicht bedienen kann, ohne die Augen von der Straße zu nehmen. Wohlgemerkt: Es geht nicht um irgendwelche abwegigen Spezialeinstellungen, sondern schlicht darum, die Temperatur im Innenraum zu ändern.
Das Radio im 2019er-Golf verzichtet, wie die Autozeitung berichtet, ebenfalls
komplett auf lieb gewonnene Drehknöpfe. Im Klartext: Man muss die Touch-Flächen für »Volume +« und »Volume –« finden und durch Tippen oder Finger-Dauerauflage bedienen. Das geht während der Fahrt oft nicht wie gewünscht, muss wiederholt werden und gelingt selbst nach Eingewöhnung nicht ohne Blickkontrolle. Und so trauern sämtliche Tester dem bewährten Drehknopf nach.2
Ursächlich für diese bemerkenswerten Designentscheidungen sind nicht nur die niedrigeren Kosten der Touchcontrols, sondern möglicherweise auch überschießende Scheininnovationen an anderer Stelle. In VW-Fanforen wird spekuliert, dass hinter der Klima-Control-Unit ein 11Infrarotsensor für die neue Gestenerkennung eingebaut sei, weshalb dieses Feld unbeleuchtet bleiben müsse. Der Sensor erlaubt die Steuerung, beispielsweise der Radiolautstärke, mit Wischgesten in der Luft. Im Test kommt die Fuchtelbedienung nicht besonders gut weg, zumal neue Gesten auswendig gelernt werden müssen.
Bedienungsparadigmen ändern sich mit der Zeit – das ist nicht kritikwürdig. Heute spielt man Alben via Spotify ab, und nur noch wenige Nostalgiker trauern Schallplatten hinterher. Aber wie Volkswagen (und viele Wettbewerber) tadellos funktionierende Lösungen gegen ergonomisch schlechtere auszutauschen, während man gleichzeitig einen Fortschritt in Form von Touch- und Gestensteuerung behauptet, das erfordert schon einigen Willen zum Selbstbetrug – auch von der Kundschaft, die ihre Fahrzeuge ja mögen will. (Fünf Jahre nach Markteinführung des Golf VIII, mit dem »Facelift« 2024, ist die Klima-Control-Einheit nun wieder beleuchtet – wie in all den Jahrzehnten zuvor. Keine Pointe.)
Dass Waren besser und schlechter zugleich werden, habe ich in meinem Bekanntenkreis noch nicht gehört. Die Behauptung hingegen, früher sei alles besser gewesen, ist moderne Folklore. In den USA sagt man »They don't make 'em like that anymore«, was so viel heißt wie: So was (Gutes) gibt es heute gar nicht mehr. Wie Zombies suchen Probleme, die in Allerweltsprodukten schon gelöst waren, unseren Alltag heim. Dinge, die tadellos funktioniert haben, werden mit der nächsten Produktgeneration aus scheinbar unerfindlichen Gründen wieder schlechter.
Dieses Unbehagen am Konsum ist nicht nur mein individueller Eindruck. Überall in der westlichen Welt sitzen Verbraucher:innen verzagt vor ihren Anschaffungen. Im 12US-amerikanischen Onlinemagazin Vox etwa heißt es: »Your stuff is actually worse now«3 (»Ihre Sachen sind jetzt tatsächlich schlechter«). Die Wirtschaftswoche beklagt: »Bei vielen Gütern und Dienstleistungen verschlechtert sich die Qualität.«4 »Your sweaters are garbage« (»Ihre Pullis sind Müll«), stellt The Atlantic fest.5 Aber nicht nur Konsumgüter sind betroffen. Ärzte beklagen in einem Fachartikel das immer dünnere Plastik bei Atemschläuchen – eine potenziell lebensgefährliche Entwicklung. Die besorgniserregende Überschrift: »Quality fade in medical device manufacturing«.6 »Quality fade« wird zwar meist mit »Qualitätsabbau« übersetzt, aber das suggeriert ein absichtliches Vorgehen, also jemanden, der da etwas abbaut. »Fading« hingegen bezeichnet ein Nachlassen, etwas, für das niemand konkret Verantwortung trägt. Tatsächlich ist beides der Fall.
Und es betrifft nicht nur physische Dinge. Auch Produkte, die ausschließlich online existieren, verkommen. Der Autor Cory Doctorow beschreibt unter dem Titel »Enshittification« (in etwa »Scheißifizierung«) die offenbar...
| Erscheint lt. Verlag | 16.4.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | aktuelles Buch • Antikapitalismus • Bücher Neuerscheinung • buch-geschenk • Dialektik der Aufklärung • Digitalisierung • edition suhrkamp Sonderdruck • ES Sonderdruck • ESSonderdruck • Geschenkbücher für Männer • Geschenk-Idee • Kapitalismus • Konsum • Männer • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Nützlichkeit • Papa • Technischer Fortschritt • Transformation • Vatertag • Vatertagsgeschenk • Warenkritik • Welt |
| ISBN-10 | 3-518-78282-7 / 3518782827 |
| ISBN-13 | 978-3-518-78282-8 / 9783518782828 |
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