Gewalt im Haus (eBook)
320 Seiten
Edition Nautilus (Verlag)
9783960543770 (ISBN)
Barbara Peveling, geboren 1974 in Siegen, ist promovierte Ethnologin, Autorin und Journalistin. Mit Nikola Richter gab sie 2021 die Flugschrift »Kinderkriegen. Reproduktion reloaded« heraus. Sie lebt bei Paris und in Köln.
Barbara Peveling, geboren 1974 in Siegen, ist promovierte Ethnologin, Autorin und Journalistin. Mit Nikola Richter gab sie 2021 die Flugschrift »Kinderkriegen. Reproduktion reloaded« heraus. Sie lebt bei Paris und in Köln.
Nacht
Keine dieser vielen Nächte, nicht eine einzige von ihnen, ließ mich verstehen, in welchem System ich gefangen war. Diese Nächte voller Angst und Wut, in denen Schreie wie Sprengladungen explodierten. Nächte, in denen mit Drohungen, Beleidigungen und Anklagen um Dominanz gerungen wurde, bis das Schweigen mich umgab wie Dunkelheit. Für jede einzelne dieser Nächte suchte ich eine logische Erklärung, fand einen Zusammenhang, hielt sie immer wieder nur für einen Ausfall der Ordnung, einen Zufall, schrecklich zwar, da unvorhersehbar, aber reparierbar, ein Versehen, etwas hatte nicht funktioniert, nicht gepasst, damals in meiner Kindheit zwischen den Erwachsenen, die mich aufzogen, später zwischen mir und dem anderen Menschen im Haus, ein Missverständnis war geschehen, ein Irrtum hatte sich ereignet und zu dieser einen dramatischen Nacht geführt. Und auch zu all den anderen Nächten danach, die dieser ersten so sehr glichen, als wären sie Zwillinge, als wären sie identisch, ein grausamer Doppelgänger, der irgendwo in der Ecke, in der Finsternis lauerte und immer wieder hervorgekrochen kam. Egal wie sehr ich mich bemühte, wie unglaublich ich mich anstrengte, dieser einen mir zugeschriebenen Rolle zu entsprechen und den gesellschaftlichen Erwartungen an einen weiblich gelesenen Körper zu genügen – die Explosionen dieser Nacht kehrten beharrlich zurück. Denn diese eine, diese erste Nacht war der Winkel, nach dem sich alle anderen Nächte, eine Nacht nach der anderen Nacht, im Haus ausrichteten. Sie war wie ein Prisma, durch das sich nicht Licht, sondern Dunkelheit brach, die lange, viel zu lange verhinderte, dass ich etwas von dem Prinzip des Hauses erkennen konnte, das Teil einer Gesellschaft ist, die Körper in einzelne Kategorien einteilt und ihnen unterschiedliche Bedeutungen und Rollen zuordnet.
Diese eine Nacht war der Auftakt für alle anderen Nächte. Sie war gekommen, um zu bleiben.
Doch in meiner Vorstellung gehörten diese Nächte lange nicht zu meinem Alltag, obwohl sie sich ständig wiederholten. Sie waren dysfunktional, Ereignisse jenseits der Norm. Ein Unfall ließ diese Nacht zum Abgrund werden. Sie war ein Missgeschick, für das ich mir oft, allzu oft selbst die Schuld gab. Vor allem als Kind, vor allem nach dieser einen fatalen Nacht der Nächte, in der ich meinen Vater verlor, herrschten das Schweigen und die Scham lange über mich, sie beherrschten mich.
Die Nächte blieben, sie wurden zu Jahren, und aus Jahren wurden Jahrzehnte, sie wurden zu einem ganzen Leben, einer Existenz, meiner Existenz. Und in diesen Jahren, diesen Nächten erzählte mein Leben ein Narrativ, das dem von Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht glich. Ich überlebte, indem ich der Welt und mir die Geschichte einer Frau erzählte, einer Frau, die mit Mann und Kindern in einem Haus mit Garten lebt, die das Heim pflegt, den Herd heizt und die Kinder hütet, während der Mann das Geld verdient. Diese alte Erzählung, Scheherazades Erzählung, war in meiner Version selbstverständlich etwas modernisiert, mit Ausbildung und Berufstätigkeit, also alles in allem das gesellschaftlich angepasste Narrativ einer heteronormativen Frau.
Mir gelang es nicht, die Scheherazade in mir zu töten. In ihrem Buch Wie ich Scheherazade tötete. Bekenntnisse einer zornigen arabischen Frau 1 dekonstruiert Joumana Haddad die für sie prägende Vorlage der mythischen Frau, die dem Tod durch die Hand ihres Mannes nicht nur durch List und Tücke, sondern auch durch Unterwerfung entrinnen kann. Die innere Tötung dieser Mythen und Vorbilder ist ein wichtiger Schritt der Befreiung, sie ist aber auch wieder eine Form der Gewalt, die wir uns selbst antun. Ich glaube, wir können uns von diesen emanzipieren, indem wir ihre Lesart neu formulieren. Doch dazu müssen wir erst einmal die Strukturen und Mechanismen der intimen Form der Dominanz entschlüsseln.
Ich erkannte lange nicht, dass die Nächte kein Ausfall, sondern das System selbst waren. Ein System der Körper, der Liebe, der Fürsorge, der Beziehungen, der Familie, Kleinfamilie vor allem, mit Kindern – ein System der Gewalt. Und sie ist überall, sie sitzt schon im Mutterleib vor dem ersten Atemzug, sie wächst mit dem Herzschlag in der Fruchtblase, sie hockt in der Angst auf dem Heimweg von der Schule, der Angst vor Fremden, vor der Schutzlosigkeit und der Erkenntnis, dass es keine Flucht gibt, sie lebt in der Angst, schwanger zu werden beim ersten Mal, ungewollt, sie sitzt in dem Gedanken, nicht schlank, nicht attraktiv genug zu sein, nicht stark, nicht anziehend, nicht männlich oder weiblich genug, sie gehört zum Alltag, sie ist das Schlaflied der gesellschaftlichen Normen und kehrt sich, leise und kontinuierlich, gegen den Menschen selbst.
Gewalt als die von Menschen gegenüber anderen »eingesetzte Kraft ohne Rücksicht auf die Eigenart des Gegenübers«2 wird von allen Körpern erfahren. Sie wird vor allem von den Körpern erfahren, die einer Minderheit angehören, die in körperlicher Stärke unterlegen sind, die ein Stigma tragen, sei es Hautfarbe, Herkunft oder körperliche Beeinträchtigung. Aber auch die Körper auf der anderen Seite, Repräsentanten der »dominanten« Gruppe, der männlich gelesenen, weißen Körper, sind nicht frei von Gewalt. Denn wer Gewalt ausübt, unterwirft sich ihr gleichzeitig, und so tragen auch die sogenannten Täter diese in sich, richten sie gegen sich und andere, denn irgendwo muss sie ja hin, diese Gewalt, die ein System produziert und reproduziert, die es am Leben hält – und davon handelt dieser Text.
Ich habe lange, viel zu lange gebraucht, um dieses System zu verstehen. Vielleicht, weil die Prägung zu existentiell war. Denn wer bin ich, wenn ich nicht das kleine Mädchen bin oder war, das mit den Puppen spielte, die man mir ungefragt gab? Ich kann mich nicht daran erinnern, wer mir meine erste Puppe schenkte, ob ich sie mir gewünscht hatte, aber ich hatte viele Puppen und ich liebte sie. Ich fuhr sie sonntags spazieren und gab ihnen abends einen Brei, bevor ich sie schlafen legte. Ich war eine gute Puppenmutti. Und aus dieser Perspektive schreibe ich dieses Buch, aus der eines Menschen in einem weiblich gelesenen Körper, einer Frau, einer weißen Frau, aufgewachsen in einem zwar privilegierten, aber gewaltproduzierenden System, in dem die Etablierung der Dominanz durch die Rollenzuteilung Einzelner systemerhaltend wirkt. Ich schreibe aus der Perspektive einer Frau, die in Mitteleuropa aufgewachsen ist, die Gewalt als intime Form der Dominanz in ihrem Leben als Erwachsene in zwei europäischen Ländern, Frankreich und Deutschland, erlebt hat. Meine Beschreibungen beziehen sich auf persönliche Erfahrungen sowie auf historische und politische Entwicklungen in beiden Gesellschaften. Dabei konzentriere ich mich auf den gesellschaftlichen Umgang mit patriarchaler Gewalt, und dabei vor allem auf Gewalt gegen Frauen.3 Ich erzähle also von mir, von meiner persönlichen, intimen Nacht, wohl wissend, dass denen, die sprechen, meist eher Sanktionen drohen als den anderen, aber auch im Bewusstsein, dass meine private Geschichte politisch ist.
Frühlingserwachen
Ganz am Anfang, noch bevor die Regelblutung einsetzte, die Brüste wuchsen und mit diesen die Scham, konnte ich in meiner frühen Kindheit für kurze Zeit in eine andere, »verlorene« Identität schlüpfen. An ihr ist »ein Junge verlorengegangen«, sagten die großen Leute, denn außer Puppen liebte ich auch wilde Spiele. Vor allem unter Aufsicht meines Vaters, der keinen Sohn hatte, der sich vielleicht einen Sohn gewünscht hatte oder, schlimmer noch, an sich zweifelte, weil er eben keinen Sohn hatte. Für ihn war ich so etwas wie ein Sohn, er ließ mich in seiner Gegenwart Sohn sein, ermunterte mich sogar dazu. Diese kurze Zeit und diese amüsierten oder vielleicht sogar mitleidigen Blicke der Erwachsenen waren für mich die Erlaubnis, wenigstens für eine gewisse Zeit wild und unbändig sein zu dürfen, mich körperlich messen zu können, bis ich mich unterordnen, ein Mädchen sein musste und die Gewalt nicht mehr ausüben durfte, sondern sie ertrug. Da war dieser Nachmittag, als ich beim Spielen im Stacheldraht hängen blieb. Mein Vater war da schon tot, hatte sich selbst Gewalt angetan, so dass er nicht mehr sagen konnte, Indianer kennen keinen Schmerz.
Wenn du heiratest, sagten die, die mich aus dem Draht zogen, sieht man nichts mehr, aber die Narbe ist heute noch da und ich habe mich oft gefragt, was passiert wäre, wenn mir jemand stattdessen gesagt hätte: Indianer kennen keinen Schmerz. Wenn mir Stärke vermittelt worden wäre statt Unterwerfung, statt dem Warten auf den Prinzen und damit auf das Verschwinden der Narben. Meine Erziehung als Frau ging Hand in Hand mit der Dressur zur Abhängigkeit vom männlichen Zuspruch, ich wollte Cinderella sein, wie Colette Dowling4 schreibt, und auf keinen Fall die böse Hexe. Das Ertragen beginnt mit dem Tragen, dem Tragen eines geschlechtsreifen Organs, das einen anderen Körper im eigenen zu produzieren fähig ist, denn auch das ist eine Wahrheit des Systems: Eine wirkliche Frau ist nur die, die getragen und geboren hat, die einen anderen Körper aus ihrem geschaffen hat. Nur sie erhält diesen Status, der dem einer Heiligen gleichkommt, mit all den unterschiedlichen Ikonen aus den verschiedenen kulturellen Gedächtnissen, die unser gesellschaftliches System heute dominieren – der Muttergottes aus dem Christentum vor allem. In diesem System drohen selbst sehr berühmte und erfolgreiche Frauen wie die Schauspielerin...
| Erscheint lt. Verlag | 16.9.2024 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Nautilus Flugschrift |
| Verlagsort | Hamburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Abhängigkeit • Beziehung • Elternschaft • Familie • Feminismus • Femizid • Häusliche Gewalt • Manipulation • metoo • Partnerschaftsgewalt • Patriarchat • Psychische Gewalt • Scham • Sexismus • toxische männlichkeit • victim blaming |
| ISBN-13 | 9783960543770 / 9783960543770 |
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