Mein Nordpol (eBook)
600 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-78133-2 (ISBN)
Erling Kagge hat seine eigene Biografie des Nordpols verfasst. Es ist eine höchst persönliche, philosophische, klimapolitische, lehrreiche - und vor allem spannende - Annäherung an den einen unvergleichlichen Ort.
Zum siebten Geburtstag bekam Erling von seinen Eltern einen Globus. Er drehte ihn, drehte und schaute auf Länder und Meere, bis sein Blick am obersten Punkt hängen blieb. Das war, inmitten einer blaugrauen Fläche, der Nordpol. Konnte man dort hinreisen? Und wer reiste dort hin?
Er las Abenteuerbücher, begleitete Thor Heyerdal auf seinen Expeditionen, war auf Skiern mit Fridtjof Nansen unterwegs. Befasste sich mit den Erzählungen der ersten erfolgreichen Polarreisenden und mit den Berichten über die Ungezählten, die von ihren Expeditionen nicht zurückkehrten.
Schließlich wurde er selbst zum Abenteurer. Am 4. Mai 1990 erreichte er zusammen mit Børge Ousland den Sehnsuchtsort seiner Kindheit. Nachdem sie 58 Tage lang ihre Schlitten durch Kälte, Eis und Schnee gezogen hatten. War er während der Vorbereitung besessen von der Vorstellung, es allen beweisen zu können, so änderte sich am Ziel seine Haltung. Ging es nicht vielmehr um den Weg dorthin? Um die besondere Beziehung zum Nabel der Welt, um das Eis, das der fortschreitende Klimawandel rasant zum Schmelzen bringt? »Die Geschichte des Nordpols ist die Geschichte unseres Verhältnisses zur Natur«, sagt Erling Kagge.
<p>Erling Kagge, geboren 1963, ist ein Verleger, Autor, Jurist, Kunstsammler, Bergsteiger und Vater von drei Töchtern. Er lebt in Oslo. Der norwegische Abenteurer hat als erster in der Geschichte die »drei Pole« erreicht – den Süd- und Nordpol und den Mount Everest. Im Jahr 2017 erschien der SPIEGEL-Bestseller <em>Stille. Ein Wegweiser</em>. Seine Anleitung für angehende Kunstsammler, <em>Große Kunst für kleines Geld</em>, erschien 2019.</p>
Vorwort
Als Børge Ousland und ich am 4.Mai 1990 am Nordpol ankamen, waren wir die Ersten, die den Polpunkt auf Skiern ohne Hunde, Versorgungsdepots und motorisierte Hilfsmittel erreichten. Wir waren achtundfünfzig Tage unterwegs gewesen, manchmal haben wir uns unterhalten, meistens war es mehr als genug, jeden Tag früh aufzustehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Ich habe viele Jahre geglaubt, das Wichtigste am Nordpol sei, zu Fuß dorthin zu gelangen. Ein Wettrennen zu gewinnen, einen Rekord aufzustellen. In den gut zwei Jahren unserer Vorbereitungen gab es für mich nur eines: Ich wollte zum Nordpol. Es mag eigenartig klingen, aber es war wie eine stürmische Verliebtheit – ich dachte morgens beim Aufstehen daran, und ich dachte den ganzen Tag an nichts anderes, bis zum Einschlafen. Bei Schnee lief ich Ski, wenn kein Schnee lag, lief ich auf Rollskiern und zog einen Traktorreifen hinter mir her. Ich war wie besessen. Polfahrer müssen besessen sein.
»Wir sehen uns in zwei Tagen hier wieder«, sagte der Pilot, als wir am 8.März am Eisrand im Norden der Ellesmere-Insel gelandet waren. Das Thermometer des Flugzeugs stand bei minus zweiundfünfzig Grad, er sagte das ohne eine Spur von Ironie. Nach fünfzehn Jahren als Pilot in der kanadischen Arktis war er es gewohnt, dass Expeditionen abgebrochen wurden und die Teilnehmer aufgaben. Wir wuchteten unsere Pulkas aus dem Flugzeug, es war früher Nachmittag, im Südsüdwesten ging bereits die Sonne unter. Im Licht der tiefstehenden Sonne schauten wir nach Norden, ins Dunkel, aufs Packeis. In dieser Richtung, siebenhundertsiebzig Kilometer von hier, lag der Nordpol, dort war die Sonne seit einem halben Jahr nicht mehr aufgegangen.
Anfang März ist es so weit im Norden immer gleich kalt, ob die Sonne scheint oder nicht. Selbst bei blauem Himmel ist das Licht schwach – wir warfen kaum Schatten. Die Sonne wärmte nicht. Bei so niedrigen Temperaturen gefrieren Partikel, die Gerüche, Bakterien, Verunreinigungen, Niederschläge oder Feuchtigkeit mit sich tragen, schnell zu Eis. Zu meiner Überraschung nahm ich plötzlich den Duft von Blumen wahr. Wenige Sekunden später begriff ich, dass es das Parfum der Copilotin Patricia war. Als das Flugzeug abhob, nahm es den Duft mit.
Auf unsere Pulkas hatten wir die Dinge gepackt, von denen wir annahmen, dass wir sie brauchen würden. Sechzig Tagesrationen Dörrfleisch, Haferflocken, Fett, Schokolade und Milchpulver, einen Siebzig-Tage-Vorrat gereinigtes Benzin – zwei Deziliter pro Mann und Tag – für den Primus. Wir wussten nicht, wie viele Tage die Expedition dauern würde, sollte uns aber der Proviant ausgehen, hätten wir – so unsere Überlegung – noch genug Benzin, um Eis zu schmelzen, so dass wir für die letzten Kilometer wenigstens Wasser haben würden. Jeder Schlitten wog einhundertzwanzig Kilo. Es gab einen Schlafsack für jeden sowie einen Doppelschlafsack für uns beide, damit wir uns gegenseitig warm halten konnten. Zu unserer Ausrüstung gehörten außerdem Isomatten, Landkarten, ein Zelt und zwei Smith & Wesson 44 Magnum Revolver, um mögliche Angriffe von Eisbären abzuwehren. Wir hatten keine Ersatzteile dabei, aber tausendzweihundertsechsundfünfzig Gramm Werkzeug.
Wie sich zeigen sollte, brauchten wir alles.
Achtundfünfzig Tage nachdem ich den blumigen Duft von Patricias Parfum in der Nase gehabt hatte, erreichten wir den Nordpol, erst da begriff ich, wie sehr ich mich in meiner Fixiertheit auf den Nordpol geirrt hatte. Meine anhaltende Verliebtheit hatte nicht dem Pol gegolten, sondern dem Weg dorthin.
Der Nordpol ist der Nabel der Erdkugel, der feste Punkt, um den sich Menschen, Meere, Landmassen und Kontinente nahezu unmerklich bewegen. Wenn wir nachts auf der nördlichen Halbkugel in das Sternenmeer im Nachthimmel blicken, stellen wir fest, dass nicht nur der Erdball, sondern auch alle Sterne um den Polpunkt kreisen – mit einer Ausnahme: dem Polarstern.
Aufgrund seiner Lage unterscheidet sich die Geschichte des Nordpols grundsätzlich von der Geschichte eines jeden anderen Ortes auf der Welt. Je mehr ich über den Nordpol höre, lese und lerne, umso klarer wird mir, dass die Geschichte des Nordpols die Geschichte unseres Verhältnisses zur Natur ist – unserer sich verändernden Gefühle und unseres Respekts für eine Umwelt, die nicht von Menschen geschaffen wurde. Die Geschichte des Nordpols ist die Geschichte unseres Verhältnisses zur Natur.
Sie handelt auch von der Schönheit und Brutalität dieser Natur, von der Liebe der Menschen zu Träumen und ihrem Wunsch, die Natur zu kontrollieren und auszubeuten.
Der Nordpol ist seit über 2,7 Millionen Jahren von einer Eisplatte bedeckt, die auf einem 4807 Meter tiefen Meer liegt. Wenn wir vom Eis am Nordpol sprechen, sprechen wir auch von seiner Fragilität – in keiner anderen Region der Welt ist die Erderwärmung so groß wie am Nordpol.
Der Kampf um Prestige und das Streben nach Ruhm treiben Menschen ins Eis an die Spitze der Welt. Auch Habgier und Betrug spielen eine Rolle. Diese Faktoren haben im Lauf der Zeit immer eine Rolle gespielt, sie waren mal stärker, mal schwächer ausgeprägt, aber in den letzten Jahrzehnten haben sie zugenommen – während das Packeis schmilzt.
Für mich geht es bei der Geschichte des Nordpols auch um zwei Einstellungen zum Leben. Staunen, sich wundern, Fragen stellen und zulassen, dass das der Motor des Lebens wird, ist die eine, Abenteuerlust die zweite. Abenteuerlust – dieses faszinierende Wort, das sich aus »Abenteuer« und »Lust« zusammensetzt.
Historiker stützen sich bei ihren Berichten meist auf das, was Menschen erlebt oder gesehen haben. Die Geschichte des Nordpols jedoch ist ungewöhnlich, denn die ersten Polfahrer reisten nicht persönlich, sondern nur in ihrer Fantasie zum Nordpol. Als die Geschichte begann, war niemand auch nur in der Nähe des Polpunktes gewesen.
In prähistorischer Zeit, der Steinzeit, der Bronze- und Eisenzeit und auch im Mittelalter versuchten die Menschen den Nordpol zu verstehen, indem sie den Sternenhimmel studierten, einander zuhörten und ihrer Fantasie freien Lauf ließen. Astronomen, Astrologen, Geografen und Philosophen hatten ein beeindruckendes Vorstellungsvermögen und stellten sich viele Fragen. Wie war das Licht da oben, die Farben, die Vegetation? Gab es dort Festland? Lebten dort Menschen und Tiere? Die Antworten auf diese Fragen ähnelten sich. Der Nordpol war ein hell leuchtender magnetischer Berg und der Ort auf Erden, der den Göttern am nächsten war. Manche hielten ihn für das verlorene Paradies, wo einmal Adam und Eva lebten. Die Region war früher einmal, war es vielleicht immer noch, hell, warm und fruchtbar.
In den folgenden Jahrhunderten, während der Renaissance und der Aufklärung, wuchs in Europa das Interesse an der Erkundung der unbekannten Welt. Der polnische Astronom Nikolaus Kopernikus (1473-1543) zog aus den Himmelsbewegungen Rückschlüsse auf die Bewegungen der Erde. Er ging davon aus, dass die Welt Naturgesetzen gehorcht, und wies nach, dass nicht die Erde der Mittelpunkt des Planetensystems ist, sondern die Sonne. Nicht mehr Gott war die Quelle aller Erkenntnis, sondern die menschliche Beobachtung. Der italienische Philosoph Giordano Bruno (1548-1600) wollte seine Zeitgenossen davon überzeugen, dass es zahllose Sonnensysteme gibt und das Universum unendlich ist. Dafür wurde er als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Im 15. und 16.Jahrhundert kehrten portugiesische und spanische Seefahrer von ihren Reisen in die Heimat zurück und brachten Geschichten über fremde Länder, Meere und neue Handelsmöglichkeiten mit. Unbekannte, unentdeckte Teile der Welt wurden kartiert. Doch was am Nordpol war, blieb ein Geheimnis, und so spekulierten die Menschen weiterhin darüber, was sich im hohen Norden verbarg.
Wir haben uns zu allen Zeiten in Sachen Nordpol in fast allem geirrt.
Aber viele Männer wollten nicht nur staunen, sich wundern und Fragen stellen, sie folgten ihrer Abenteuerlust. Lange waren Nordpolfahrer ausschließlich Männer – Inuit, Europäer und Amerikaner. Sie versuchten, zu Fuß, auf Skiern, im Boot oder Flugzeug zum Nordpol zu kommen. Sie kämpften gegen Meeresströmungen, Kälte, Sturm, Regen, wilde Tiere, Schnee, Eis, den Lauf der Sonne und Veränderungen des Klimas. Es gab viele...
| Erscheint lt. Verlag | 26.10.2025 |
|---|---|
| Übersetzer | Ebba D. Drolshagen |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | The North Pole (OT: Nordpolen. Natur, myter, eventyrlyst og smeltende is) |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft | |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Abenteuer • Abenteurer • Aktischer Ozean • aktuelles Buch • Arktis • Bücher Neuerscheinung • Eis • Eisbär • Extremerfahrung • Frederick Cook • Fridtjof Nansen • Gehen weitergehen • Gletscher-Schmelze • Iggiánguaĸ • Inseln im Atlantik / Polarregionen • ITB BuchAward 2018 • Kälte • Klimawandel • Matthew Henson • Meereis • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • nördlichster Punkt der Welt • Nordpolen. Natur myter eventyrlyst og smeltende is deutsch • polare Eiskappe • Polar-Expedition • Polarforschung • Polarreise • Reinhold Messner • Robert Edwin Peary • Schnee • Stille • The North Pole (OT: Nordpolen. Natur myter eventyrlyst og smeltende is) deutsch • Tod im Eis • Wally Herbert |
| ISBN-10 | 3-458-78133-1 / 3458781331 |
| ISBN-13 | 978-3-458-78133-2 / 9783458781332 |
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