Geteilter Horizont (eBook)
260 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78166-1 (ISBN)
Seit dem Frühjahr 2022 führt Russland seinen brutalen Krieg gegen die Ukraine. Trotz Unterstützung durch EU und NATO und deren Partner gelingt es nicht, ihn zu beenden. Moskaus Strategien, den Westen zu spalten, fallen auf fruchtbaren Boden. Längst steht fest, dass es sich nicht um einen regionalen Konflikt handelt. Der Krieg ist Teil einer Welt, deren Machtgefüge im Umbruch begriffen ist.
Für die Ukraine selbst - für ihre Städte, ihre Infrastruktur, ihre Natur und alles Leben - heißt jeder neue Tag Zerstörung, Kampf und Erschöpfung. Wie arbeitet man unter Bedingungen des Zermürbungskrieges - als Lehrerin, als Drohnenoperateur, als Therapeut? Welche Strategien entwickeln die Ukrainerinnen, die Ukrainer, um gegen Müdigkeit und Verzweiflung anzukämpfen? Was bedeutet ihre Erfahrung für unsere gemeinsame Zukunft? Und was muss geschehen, damit der Krieg endet?
Katharina Raabe ist Lektorin für osteuropäische Literaturen im Suhrkamp Verlag. Zuletzt erschienen u.a.: <em>Gefährliche Nachbarschaften - Ukraine, Russland, Europäische Union</em> (Hg.), <em>Testfall Ukraine. Europa und seine Werte</em>, hg. mit Manfred Sapper, beide 2015; <em>Warum lesen. 24 Gründe</em>, hg. mit Frank Wegner, 2020. Kateryna Mishchenko, geboren 1984 in Poltawa, ist Essayistin, Übersetzerin und Verlegerin in Kyjiw. Sie arbeitete als Dolmetscherin im menschenrechtlichen Bereich und war Mitbegründerin der Zeitschrift <em>Prostory</em>. 2015 erschien ihr Buch <em>Ukrainische Nacht / Ukrainian Night / Ukrajinska nitsch</em>. Sie publiziert Essays in internationalen Zeitschriften und Anthologien. Im Jahr 2022/23 war sie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. 2023 erschien <em>Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine</em> (hg. mit Katharina Raabe). Sie lebt in Berlin.
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Kateryna Mishchenko
Nebeneinander
Ermüdungskrieg, Ermüdungskrieg – das kann man sich beim Ein- und Ausatmen immer wieder vorsagen, um den Atem zu beruhigen, wenn man sich nur noch hinlegen, mitten im Wort einschlafen, den Gedanken nicht zu Ende denken und nie wieder etwas sagen möchte. Aber ich weiß, jegliche Ermüdung ist eine Chance, ein kleiner Pluspunkt für den Krieg. Er funktioniert wie ein Algorithmus, der alle ins Visier nimmt, die sich irgendwie mit ihm verbunden haben, und versucht, sie in den Strom der Gewalt hineinzureißen. Deshalb sollte man der Erschöpfung nur minimalen Raum geben, sie beiläufig als vertrauten Hintergrund wahrnehmen und nicht als allgegenwärtige Verarmung – des Körpers, der Psyche, der Hoffnung. Ein weiterer aufdringlicher Gedanke: Es bleibt rein gar keine Zeit mehr, buchstäblich nur noch für ein Ausatmen, als befände man sich in einer Spielart der mindfulness, maximal gegenwärtig, nur in diesem Augenblick – und ringsum Wüste. Vielleicht gibt es eine Zeit oder vielmehr ein Zeitgefühl, das man als genozidal bezeichnen könnte – wenn die ständige Gefahr der Vernichtung zu einem erdrückenden Rahmen wird, der nur kleine taktische Schritte erlaubt und keinen Blick darüber hinaus.
Die Nachrichten dieses heißen Sommers in Europa: Die UN-Beobachtungsmission in der Ukraine hat die höchste Zahl an zivilen Opfern seit drei Jahren registriert: Im Juni 2025 wurden 232 Menschen getötet und 1343 verletzt.[1] Die russischen Luftangriffe erinnern tatsächlich immer mehr an Schwarmanflüge. Das Schwirren der Drohnen über den Köpfen der Menschen in ukrainischen 10Städten, die in Reichweite der Russen liegen, bezeichnet eine neue Phase des Krieges. Zu dem Geräusch der Shaheds, die im Volksmund auch als Mopeds bezeichnet werden, gesellt sich das Brummen kleiner Propeller. Sie wälzen die Luftmassen und produzieren ihren ganz eigenen »wind of change«. Die Luftschutzsirene war ein Signal der Gefahr, dessen Klang wir noch aus Filmen über den Zweiten Weltkrieg, also aus einer fernen Vergangenheit, kannten. Die Drohnenschwärme, die jetzt die Städte terrorisieren, erzeugen eine ganz neue Akustik, das aufdringliche Summen der Zukunft.
Die Bürgerrechtlerin Marija Berlinska, die den Maidan mitgemacht und seit der russischen Invasion 2014 die ukrainische Luftaufklärung wesentlich weiterentwickelt hat, schrieb kürzlich: »Zurzeit fürchten alle die Shaheds und Raketenangriffe, aber Shaheds und Raketen schlagen nach konkreten Koordinaten ein. Es gibt etwas viel Gefährlicheres – Tausende von Drohnen über den Städten, ständig auf der Jagd. Das könnte schon 2026 unsere Realität sein. Und es betrifft nicht nur Sumy, Dnipro oder Charkiw. Sondern auch Lwiw und Tscherniwzi. Das, was jetzt schon in Cherson und Kostjantyniwka passiert, obwohl dort noch Drohnen mit Funksteuerung oder Glasfaser zum Einsatz kommen. Ich spreche von einem Level-up – vollständige oder teilweise Autonomie. … Tausende von Mörderdrohnen … Das ist keine Frage von Jahrzehnten mehr. Es ist eine Frage von Monaten. Mir ist klar, dass das wie ein Science-Fiction-Horrorfilm klingt. Aber es ist unsere Realität, nach meiner Einschätzung schon nächstes Jahr, 2026.«[2]
Weiter beschreibt Berlinska, was getan werden muss, um die Menschen vor einem solchen Szenario zu schützen, als wolle sie alle aus einem lähmenden Schlaf wecken. Die Luft ist dick – mit diesen Worten beschreiben Soldaten die große Anzahl von Drohnen über ihren Köpfen und die Unmöglichkeit, sich wegzubewe11gen. Berlinska formuliert ihre Botschaft als eine Art didaktischen Horrors, um die Dringlichkeit der Situation und notwendiger Maßnahmen zu vermitteln.
Wenn ich von den Mörder-Drohnen lese, denke ich an das berühmte Rätsel aus Alfred Hitchcocks Film Die Vögel: Warum fangen Vögel plötzlich an, Menschen zu töten, und hören dann plötzlich wieder auf? Slavoj Žižek beschreibt in seinem Text Welcome to the desert of the Real[3] die Aufnahmen des herannahenden Flugzeugs beim Terroranschlag vom 11. September als ein Bild aus dem realen Leben, das das Bild eines Vogels vor dem Angriff wiederholt: Er erscheint zunächst als kleiner Fleck am Horizont. In welcher Beziehung stehen derzeit Horizontlinie und Frontlinie zueinander?
***
In einem Bericht von Human Rights Watch vom Juni 2025[4] werden Augenzeugen aus dem Gebiet Cherson zitiert, die berichten, dass Drohnen oft Antipersonenminen in den Städten verteilen. Die Überlebensregeln für die Menschen ändern sich: Mittlerweile muss man nicht mehr nur nach oben blicken und auf Geräusche achten, die von dort kommen, sondern auch genau beobachten, was sich direkt vor den Füßen befindet. Die Gefahr schafft ihre eigene physische Hülle und versucht, den Menschen darin einzusperren. Safari, Menschen als Zielscheiben, die Stadt als Schießstand – das sind die Metaphern, die die Augenzeugen verwenden.
Eine der Protagonistinnen des Dokumentarfilms Kherson: Human Safari von Zarina Zabrisky[5] beschreibt, wie sich die Stadt durch die Drohnen verändert hat, dass sich immer mehr Leben, insbesondere das kulturelle, unter die Erde verlagert, wo al12les noch relativ sicher ist und man die Zeit ohne plötzliche Angriffe planen kann. Diese Erfahrung machen nicht nur die Einwohner von Cherson. Es findet eine vertikale Vertreibung der Bevölkerung ganzer Städte statt – als eine der Folgen davon, dass der Aufruf »Close the sky«, der seit dem ersten Tag der Invasion zu hören war, unbeantwortet blieb.
Derweil leben die Ukrainer in ihrer spezifischen Freiheit – der Freiheit, auf sich selbst gestellt zu sein. Der Alltag wird immer beengender, genauer gesagt, engt er dich ein zwischen einem gefährlichen Himmel und einem verminten Boden. In letzter Zeit stoße ich im ukrainischen Internet immer häufiger auf das Wort deblokada – Befreiung aus Trümmern – sowie auf Anleitungen zum Überleben unter Trümmern. Nicht nur das Tempo der Angriffe hat sich geändert, jetzt tragen die Shaheds neben ihren dreißig Kilogramm Sprengstoff auch Brandstoffe, damit nach der Explosion ringsum zusätzliche Feuer entstehen. Unter den Trümmern überlebt etwa eine Person von hundert, sagt Viktoria Ruban, Sprecherin des Staatlichen Katastrophenschutzdienstes im Kyjiwer Gebiet, in einem Beitrag von hromadske[6] . Im selben Artikel wird auch die Überlebende Maria aus Charkiw zitiert, die im Schlaf den Alarm nicht gehört hat, sondern erst den Lärm der Shahed: »Ich wusste, dass es entweder mein Haus oder das Nachbarhaus treffen würde. Instinktiv rollte ich mich in Embryonalstellung zusammen, zog die Bettdecke über mich und bedeckte mein Gesicht mit den Händen.«
Zwei Platten der Zwischendecke fielen auf Maria.
»Ich schob mit dem Kopf das Kissen ein Stück weg, um etwas Luft zu bekommen. Atmen konnte ich nur sehr schwer: Staub, Rauch, Brandgeruch, die Wohnung über mir brannte ja, und aus dem Loch in der eingestürzten Decke flogen brennende Trümmer auf mich. Auch meine Wohnung brannte. Auf dem Balkon hatte der künstliche Weihnachtsbaum Feuer gefangen und ich bekam den ganzen Ruß ab, das Feuer versengte mir den Rücken. Die 13Rettungskräfte löschten das Feuer, und das Wasser ergoss sich über mich. Durch die Explosion waren die Wasserleitungen beschädigt, dort lief auch Wasser aus. Alles gleichzeitig: das Feuer, Wasser, Rauch und die Platte, die mich erdrückte. Über mir schrien meine Nachbarinnen um Hilfe, die dann lebendig verbrannten …«
Der russische Terror versucht mit seinen Angriffen, einfach alle unter Druck zu setzen, ihnen ihr Zuhause konkret oder langfristig zu nehmen, er vergiftet die Wohngebiete, die schlaflosen Nächte, die Wohnungen von Bekannten und Freunden mit seiner Gewalt, er lässt die Luft in den Städten rauchig werden und füllt die Kalender mit Tagen der Trauer um die Opfer eines weiteren Angriffs. Dieser Terror weiß, wen und wie er zermürben will: Wenn du dich entscheidest, dein Zuhause im Krieg...
| Erscheint lt. Verlag | 29.9.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | aktuelles Buch • Angriffskrieg • Augenzeugen-Berichte • Autoritarismus • Bücher Neuerscheinung • Bundesverdienstkreuz 1. Klasse • Deutscher Sprachpreis 2015 • Deutscher Sprachpreis 2015 • Globaler Süden • Invasion • Kiew • Kriegsberichterstattung • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Osteuropa • Russland • Tatsachenberichte • Übersetzerbarke des VdÜ 2018 • Ukraine • Ukraine-Krieg |
| ISBN-10 | 3-518-78166-9 / 3518781669 |
| ISBN-13 | 978-3-518-78166-1 / 9783518781661 |
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