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Der Tag, an dem ich sterben sollte (eBook)

Spiegel-Bestseller
Wie der Terror in Hanau mein Leben für immer verändert hat
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-01803-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Tag, an dem ich sterben sollte -  Said Etris Hashemi
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Hanau, 19. Februar 2020: Ein Rechtsextremist erschießt an mehreren Tatorten neun Menschen aus rassistischen Motiven, weitere werden schwer verletzt. Unter ihnen der damals 23-jährige Said Etris Hashemi und sein 21-jähriger Bruder Said Nesar, sowie weitere Freunde. Etris wird am Hals getroffen, überlebt nur knapp. Sein Bruder stirbt vor Ort, jede Hilfe kommt zu spät. Wenige Sekunden, die alles verändern - nicht nur im Leben der Betroffenen, sondern gesamtgesellschaftlich. Hanau löst eine wichtige Debatte aus, über Diskriminierung, rechten Terror in diesem Land, den Polizeiapparat und die Chancen für Deutschland.  Etris' Geschichte ist der wohl persönlichste Bericht des Überlebenden eines Attentats, das Deutschland für immer verändert hat.

Said Etris Hashemi, geboren am 01.09.1996, ist Sohn afghanischer Geflüchteter. Said Etris ist von dem rechtsextremen Terroranschlag am 19.02.2020 in Hanau direkt betroffen. Er verlor bei dem Anschlag seinen jüngeren Bruder Said Nesar und viele seiner Kindheitsfreunde. Er selbst überlebte den rassistisch motivierten Anschlag mit mehreren Schusswunden, u.a. am Hals, nur schwerverletzt. Seitdem ist er zum Botschafter für mehr Gerechtigkeit in diesem Land geworden, nutzt seine Stimme aktiv und setzt sich gegen Rassismus und Diskriminierung ein.

Said Etris Hashemi, geboren am 01.09.1996, ist Sohn afghanischer Geflüchteter. Said Etris ist von dem rechtsextremen Terroranschlag am 19.02.2020 in Hanau direkt betroffen. Er verlor bei dem Anschlag seinen jüngeren Bruder Said Nesar und viele seiner Kindheitsfreunde. Er selbst überlebte den rassistisch motivierten Anschlag mit mehreren Schusswunden, u.a. am Hals, nur schwerverletzt. Seitdem ist er zum Botschafter für mehr Gerechtigkeit in diesem Land geworden, nutzt seine Stimme aktiv und setzt sich gegen Rassismus und Diskriminierung ein.

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Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst
Glossar
Über den Autor
Endnoten
Impressum

7. Juli 2023


Ich höre meinen Herzschlag nicht. Ich höre gar nichts mehr. Um mich herum die Dunkelheit, aber die sehe ich nicht. Dabei ist sie überall. Um mich herum. In mir drin. Und dann höre ich doch etwas. Ein rasselndes Keuchen. Dieses Keuchen. Es ist so leise und doch so laut. Ich will mir die Ohren zuhalten, aber ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt noch existiere. Bin ich da? Wer keucht da so? Panische Angst wächst in mir, sie pulsiert im Takt des Keuchens. Wie eine Trommel. Plötzlich höre ich sie heraus. Die Gewissheit. Sie frisst sich in mein Gehirn wie ein Parasit. Ich erkenne das Keuchen. Ich erkenne den Ton der Stimme, die sich hinter dem Keuchen verbirgt. Nesar. »Nesaaaaar!«, hallt es in jedem Winkel meines Hirns. Mein kleiner Bruder. Es ist mein kleiner Bruder, der da keucht. Dessen Lunge rasselt. Und bevor ich den Wahnsinn begreifen kann, begreifen kann, was hier passiert, bewusst realisieren kann, was wahr ist, gibt mein Bewusstsein auf. Leere. Ich bin weg. Ich kann nicht mehr hören, wie das Keuchen leiser wird und aufhört. Und dann wache ich auf.

Es pocht hinter meiner Schläfe. Tock, tock, tock. Es drückt, schiebt und hämmert hinter meiner Stirn. Ein Minenarbeiter, der seine Hacke in regelmäßigen Hieben gegen die harte Wand vor sich schmettert. Meine Schädeldecke. Er wühlt hinter meiner Stirn, drischt und hackt zu, bald bricht er durch.

»Kopfschmerzen sind die unvermeidliche Konsequenz des Denkens«, hat unser Lehrer früher immer gesagt, wenn sich jemand wegen Kopfweh aus dem Unterricht verdrücken wollte. Wer weiß, vielleicht stimmt das ja. Die ganze Nacht hat mein Kopf gerattert. Schlaf finde ich sowieso nicht mehr so leicht. Und Kopfweh hatte ich als kleines Kind schon. Angeblich lag das an einer Zyste in meinem Gehirn. Die Zyste war zum Glück ungefährlich. Trotzdem waren meine Eltern damals sehr verängstigt. Sie wussten noch nicht, dass der wahre Horror unseres Lebens noch bevorstand und weniger medizinische Gründe haben würde. Vielleicht aber war damals schon der endlose Gedankenstrom eines typischen Migrantenkindes wie mir schuld daran, dass sich mein Kopf wie ein Bergwerk anfühlte, das niemals zur Ruhe kommt. Irgendwie haben wir ja alle einen Knacks.

Vor Tagen wie heute ist es besonders schlimm. Ich drehe und wende mich in meinem Bett. Die Mine hinter meiner Stirn kennt keinen Feierabend und befördert auch nachts den Staub meiner Seele mit hämmernden Schlägen ins Bewusstsein. In gewisser Weise sind Kopfschmerzen vielleicht ein Zeichen dafür, dass der Geist aktiv ist und Gedanken formt. Gedanken, die niemandem etwas bringen. Gedanken, die eine unangenehme Unruhe in den Rest des Körpers senden. Alles erzittert und bebt unter der Arbeit, die da oben in Endlosschleife läuft. Ich fühle mich konstant wie unter Strom, obwohl mich die meisten von außen als »sanften Riesen« wahrnehmen. Immer bedacht. Immer vorsichtig, um nicht das Falsche zu sagen, keine Angriffsfläche zu bieten und vor allem keine Angst auszulösen. Ich bin groß, breit, habe schwarze Haare und dunkle Haut. Die Welt da draußen lässt mich das selten vergessen. Also gebe ich acht, sie nicht in dem zu bestätigen, was sie von mir denkt. Ich bin ruhig. Beherrscht, immer beherrscht. Sanftes Segeln auf spiegelglatter Oberfläche, auch wenn nur wenige Zentimeter darunter ein Sturm tobt. Auch heute ist die See in mir aufgepeitscht.

Ob meine Scheißkopfschmerzen nun vom ewigen Grübeln und Kratzen im Unbewussten kommen oder nicht – sie führen unweigerlich dazu, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen oder mich auf etwas konzentrieren kann. Es ist eine sinnlos ablaufende Maschinerie, die nichts produziert, nur heiß läuft. Ich war immer ein Stratege und machte mir das wenige, das sich mir bot und das ich aus mir selbst schöpfen konnte, zum Vorteil. Heute, in dieser rastlosen Nacht, in der ich in meinem Bett liege und an die Decke starre, kommen jedoch keine Diamanten unter dem Geröll zum Vorschein. Vor etwa zwei Jahren, am ersten Tag des Untersuchungsausschusses, ging es mir ganz ähnlich wie heute – dem Tag, an dem er enden wird.

Wie sehr hatten wir für diesen Untersuchungsausschuss gekämpft! Wie viele Politikerhände hatte ich geschüttelt, wie oft meine Geschichte wieder und wieder vor ihnen ausgebreitet, um diese Chance zu bekommen. Immer wenn eine TÜV-geprüfte und mit Sicherheitskonzept ausgestattete Brandschutztür zu einem Politikerbüro sich auch nur den kleinsten Spalt für mich öffnete, zwängte ich mich hinein, um hinter den Kulissen für unseren Ausschuss zu kämpfen. Denn in diesem Land, in dem man Stempel, Urkunden, beglaubigte Kopien und Nummern so sehr liebt, würde uns der offizielle Prozess doch sicher die Legitimation, den Respekt und die Würde geben, die uns all die Anzeigen, Aufrufe und Nachfragen zuvor nicht hatten liefern können. Korrekte Papiere, Unterschriften, Schlagzeilen sind Türöffner, ein Dietrich zur Gesellschaft, zum Wir, zum Menschsein. Das hofften wir zumindest.

Klar, auch der Untersuchungsausschuss würde unseren Schmerz nicht lindern können. Aber er würde ihn zumindest anerkennen. Vielleicht würde er uns sogar das Gefühl nehmen, so verdammt allein zu sein in unseren Bemühungen, diese Tat vom 19. Februar 2020 aufzuarbeiten. Vielleicht würde er unseren Verdacht, der sich über die letzten Monate und Jahre eingeschlichen hatte, nämlich den Verdacht, Bürger zweiter Klasse zu sein, doch widerlegen. Vielleicht würde er unser Vertrauen wiederherstellen, dass, wenn mal etwas Schlimmes passiert, etwas wirklich Schlimmes, dass dann die Leute mit den Stempeln, Protokollen, Abzeichen und Ausweisen, die uns sonst misstrauisch beäugen, grundlos kontrollieren und demütigen, dass die uns dann doch helfen würden. Wenn es hart auf hart kommt. Vielleicht. Und dass so etwas nie wieder passiert. Dass es besser wird. Für Leute wie uns.

»Wozu ein Untersuchungsausschuss? Der GBA klärt das doch auf«, lautete eine der häufigsten Antworten auf unsere Bitten. »Das war ein Einzeltäter! Was hat der Staat damit zu tun?«, hörte ich einige Male. Meine Lieblingsausrede aber war: »Der Hessische Landtag hat gerade schon den Walter-Lübcke-Untersuchungsausschuss am Laufen. Zwei Untersuchungsausschüsse gleichzeitig? Das ist sehr unwahrscheinlich, dass euch das irgendwer durchboxt.«

Wir hatten in Hessen unabhängig voneinander zwei Fälle von rechtsradikalen Morden, bei denen der Polizei und dem Verfassungsschutz keine unwesentlichen Fehler unterlaufen waren, sodass überhaupt Untersuchungsausschüsse gefordert werden mussten, und die Menschen mit den Ämtern, Uniformen und Siegeln wollten mir was von Einzeltätern erzählen und dass es keine strukturellen Probleme in Sachen Rechtsextremismus in Deutschland gibt? Aber dann bekamen wir ihn doch, den Untersuchungsausschuss. Obwohl keiner so richtig daran geglaubt hatte.

Und heute ist der letzte Tag. Zwei Jahre auf diesen Stühlen sitzen, das Neonlicht ertragen, die Blicke der Polizisten, der anderen Angehörigen, der Journalisten und die immer gleichen Erklärungen und Ausreden über sich ergehen lassen. Über drei Jahre im Leben danach. 30 öffentliche Sitzungen. Dazu kamen noch die nicht öffentlichen. Ich bin müde. Aber ich stehe auf. Zähne putzen. Duschen. Anziehen. Tock, tock, tock. Aspirin einwerfen. Motorradhelm über meinen hämmernden Schädel ziehen. Gas geben. Wie oft ich diese Strecke jetzt schon gefahren bin. Heute zum letzten Mal. Gott sei Dank.

Die Securitys im Eingangsbereich des Hessischen Landtags begrüßen mich mit einem vertrauten Handshake, die beiden Damen am Empfang lächeln mir zu. Wir haben in den letzten zwei Jahren Sympathie füreinander aufgebaut, auch wenn Uniformträger in mir normalerweise Unwohlsein auslösen. »Wir dürfen ja nichts dazu sagen, was hier passiert. Aber wir wünschen euch alles Gute«, raunt einer der Secus mir zu, während ich mein Handy und meine Schlüssel in die kleine Plastikschüssel werfe und dann den Metalldetektor passiere. Ich lächle ihn an. Handshakes im Landtag – hätte ich nicht gedacht, dass das mal mein Leben sein würde. Und dass sich meine Hände heute, zwei Jahre nach der ersten Sitzung, nicht mehr vor Müdigkeit und Aufregung in vertrocknetes Laub verwandeln, sondern fest und freundlich in die der Securitys greifen würden.

Ich weiß selbst nicht mehr, bei wie vielen der 30 öffentlichen Sitzungen ich dabei war. Bei über der Hälfte bestimmt. Am Anfang noch selten und dann immer häufiger. Es fiel mir schwer zu Beginn. Ich mache diese Arbeit nicht, weil sie mir gefällt. Ich habe meine Lebensentscheidungen nicht darauf abgestimmt, das tun zu können, was ich seit den letzten Jahren tun muss: im Untersuchungsausschuss sitzen, Zeugenbefragungen zum Mord an meinem Bruder verfolgen und dabei zusehen, wie Abgeordnete Zeitung lesen oder nebenher Candy Crush spielen. Immer wieder muss ich mir reinziehen, was damals passiert ist, und schweigend zuhören, wenn Polizisten und Politiker offen lügen. Dabei will ich am liebsten einfach losschreien, ihnen ihre offensichtlichen Unwahrheiten um die Ohren hauen.

Aber so läuft es eben. Geduldig sein, abwarten, zuhören. Mit Politikern, Sachverständigen und Verantwortlichen immer wieder über den schrecklichsten Tag meines Lebens sprechen, damit sich etwas ändert – nicht bei mir, sondern in diesem Land. Während ich dabei verrinne und doch immer fester, stärker, unverrückbarer werde. Ich wollte all das nie machen. Aber ich muss. Ich trage Verantwortung, und im Gegensatz zu einigen anderen Menschen, mit denen ich im Laufe der letzten zwei Jahre hier in diesem...

Erscheint lt. Verlag 3.2.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antirassismus • Aufarbeitung • Erlebnisbericht • Hanau • Integration • Migration • Rassismus • Solidarität • Terroranschlag • Überleben
ISBN-10 3-455-01803-3 / 3455018033
ISBN-13 978-3-455-01803-5 / 9783455018035
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