Abschluss und Abschied in den stationären Erziehungshilfen (eBook)
456 Seiten
tredition (Verlag)
9783347753365 (ISBN)
1 Am Anfang steht das Ende – Einleitung
1.1 Thematische Einführung
„Zugegeben, ich selbst bin sehr schlecht in Abschieden. Die einzige Strategie, mit der ich überhaupt damit klarkomme: Einfach so tun, als würde morgen alles genauso weitergehen wie bisher – Abschiedsverleugnung ist mein bester Freund. Sobald ich außer Sichtweite bin, breche ich natürlich in Tränen aus. Alles in allem kein sehr souveränes Konzept“ (Hartmann o. J.).
Was die Autorin eines jungen Onlinemagazins in diesen Zeilen über das nahende Ende ihrer Arbeit im Redaktionsteam beschreibt, findet auch in weiten Teilen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ein Spiegelbild: vielen von uns fehlt ein solches ‚souveränes Konzept‘ zum bewussten Abschied von einer Lebensphase oder einem zur Heimat gewordenen Lebensort – vor allem aber zum Abschied von persönlich bedeutsamen Menschen. Nicht selten wird Abschiedsverleugnung daher zum sprichwörtlich ‚besten Freund‘. Die Folge ist, dass der Schmerz der Trennung, des Loslassens und des Weggehens erst dann zugelassen und durchlebt wird, wenn sich die Wege bereits getrennt haben.
Seit jeher wenden wir uns statt dem Abschiednehmen viel leichter dem Beginn, Aufbruch und Start in eine neue Lebensphase zu. Während der Anfang meist freudig begrüßt wird, fristet das Ende im Bewusstsein unserer Gesellschaft noch immer ein Schattendasein:
„Vieles, was mit Beenden, Trennen oder Abschiednehmen zu tun hat, ruft bei den meisten von uns Empfindungen wach, die mit etwas Unangenehmem oder Bedrohlichem verbunden sind und die uns unwillkürlich sofort an den Verlust von Sicherheit, von wichtigen Bindungen oder von geliebten Personen denken lassen. Am liebsten möchte man sich gar nicht mit diesem Thema beschäftigen“ (Müller-Ebert 2008, S. 13).
Dabei ist es vor allem das Ende einer jeden Lebensphase, das den Grundstein für den Beginn von etwas Neuem legt. Ohne sich vom Alten bewusst verabschiedet zu haben, mit den positiven und negativen Erinnerungen an die vergangene Zeit in Kontakt getreten zu sein und eine Form des inneren Friedens damit geschlossen zu haben, können wir uns kaum unbeschwert auf das anstehende Neue einlassen. Dabei zeigt sich jeder Abschied sehr individuell – es gibt „[…] fünfzigundeine Variante zu gehen“ (Thimm 1992, S. 158). Neben den uns persönlich wohlvertrauten Varianten existieren „[…] noch viele andere Arten des Abschieds und Abschiednehmens; laute und leise, sachliche und berührende“ (Hartmann o. J.). Doch was bedingt diese ganz unterschiedlichen Formen, Abschied zu nehmen? Inwiefern spielen unsere frühen Erfahrungen mit Beziehung und Abschied hier eine Rolle? Und auf welche Weise schreibt sich jede neue Erfahrung mit Abschied tief in unsere inneren Muster ein? – diese und weitere Fragen sind im gesellschaftlichen Diskurs bislang nur unzureichend reflektiert worden.
Auch mit Blick auf die (sozial-)pädagogische Disziplin fällt auf, dass zwar in wenigen Teilbereichen „[…] ein Boom hinsichtlich des Trennungsthemas zu verzeichnen [ist]“ (Thimm 1992, S. 159). So steigt die Zahl der Untersuchungen zur Problematik von Scheidungsfamilien sowie die Anzahl psychosozialer Einrichtungen, die Trennungsberatung anbieten. Auch in populärwissenschaftlichen Schriften findet eine verstärkte Auseinandersetzung mit Trennung, Trauer und Tod statt (Thimm 1992, S. 159). Jenseits dieser markanten Beispiele gilt jedoch: „Die sozialpädagogische Praxis bleibt von diesen wichtigen oder gar aufregenden Akzentsetzungen bisher merkwürdig unberührt“ (Thimm 1992, S. 159). Das Thema des Abschieds scheint insofern auch im Feld der Pädagogik1 bislang nur im Zusammenhang mit Trennung, Scheidung oder gar dem Tod eine explizite Rolle zu spielen. Dabei gehört zu jeder Form der pädagogischen Arbeit – in einem übergreifenden Sinne verstanden als Förderung, Unterstützung und Begleitung von Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenslagen – auch der Abschied in allen denkbaren Formen dazu. Abschied von einem Tag, Abschied von Zusammenarbeit, Abschied von Menschen und vergangenen Zeiten oder Abschied von zu überwindenden Gewohnheiten – das Thema durchzieht das gesamte pädagogische Feld auf leise, dafür aber umso wirkmächtigere Art und Weise.
Die grundlegende Verleugnung des Abschiedsthemas trifft nicht nur auf die übergeordnete Ebene unserer Gesellschaft und das pädagogische Feld im Allgemeinen, sondern in besonderer Weise auch auf die stationären Erziehungshilfen2 zu:
„Man redet immer nur vom Leben in der Wohngruppe, vom Leben im betreuten Wohnen […]. Aber man redet nie davon, wie es ist beim Abschied“ (E01, 239-241).
Der junge Mensch, der hier rückblickend über seine Lebensphase in stationären Erziehungshilfen berichtet, bringt deutlich auf den Punkt, was auch in weiten Teilen des gesamten Arbeitsfeldes ein zentrales Problem darstellt: während der Beginn sowie das Leben innerhalb der Hilfe umfassend thematisiert werden, scheint ihr Ende in auffallender Art und Weise nahezu verschwiegen zu werden (Thimm 1992; Wißmach et al. 2018b). So weist auch Thimm darauf hin, „[…] dass in den Einrichtungen eine Kultur des Abschiednehmens fehlt“ (Thimm 1992, S. 158).
Die hier vorliegende Forschungsarbeit soll einen Beitrag zur Überwindung dieses Desiderats leisten. Die intensive Auseinandersetzung mit der Beendigung stationärer Erziehungshilfen, genauer gesagt mit der Frage, wie Mitarbeiter*innen die Abschlüsse und Abschiede in ihren Wohngruppen professionell gestalten können, steht dabei im Zentrum.
Wohngruppen als eine spezifische Ausgestaltungsform stationärer Erziehungshilfen stellen für einen begrenzten Zeitraum den vorübergehenden Lebensmittelpunkt ihrer betreuten Kinder und Jugendlichen außerhalb deren Herkunftsfamilien dar. Wie lang diese Zeitspanne real andauert, zeigt sich individuell sehr verschieden, sodass in der Praxis von einem überschaubar kurzen bis hin zu einem mehrjährigen Lebensabschnitt in Wohngruppen vieles vorhanden ist. Mit dem formalen, äußeren Abschluss der Hilfe und dem Auszug aus der Wohngruppe geht auch das Ende einer bisweilen turbulenten und von vielen Höhen und Tiefen begleiteten Lebensphase einher. Dabei sind die jungen Menschen auf Grund ihrer biografischen Vorerfahrungen und Belastungen in der Regel nicht mit genügend positiven, progressiven Strategien ausgestattet, die ihnen einen bewusst zelebrierten, einvernehmlichen und friedvollen Abschied ermöglichen würden (Schnoor 2018b). Eine gesellschaftlich idealisierte Form von Abschied, bei der beide Seiten geklärt und befriedet auseinandergehen und sich anschließend freudig dem Neuen zuwenden, erscheint unter diesen Voraussetzungen im Kontext von Wohngruppen kaum erreichbar. Vielmehr haben die meisten der hier aufwachsenden jungen Menschen in ihrem bisherigen Lebensverlauf bereits eine Vielzahl ungewollter und abrupter Beziehungsabbrüche erlebt. Sie sind – ob auf eigene oder äußere Initiative hin – (mindestens) von ihren Eltern als primäre Bezugspersonen getrennt worden und besitzen in der Regel kaum ein tragfähiges soziales Netzwerk, das diese Verlusterfahrung wirksam ausgleichen könnte. Auf diese Weise treten Viele bereits mit dem sprichwörtlich ‚schweren Rucksack‘ belastender Beziehungs- und Abschiedserfahrungen in die Wohngruppe ein (Schnoor 2018a). Dort angekommen wird unter Umständen bereits der Aufbau von tragfähigen Beziehungen, die sich zumeist als wegweisend für den gesamten Hilfeverlauf erweisen (Schleiffer 2015; Schnoor 2018a), nachhaltig negativ beeinflusst. Spätestens zum Hilfeabschluss hin treten viele der nicht verarbeiteten und dennoch im Unterbewusstsein weiterhin aktiven Erfahrungen mit Beziehung und Abschied wie in einem Brennglas wieder aktiv hervor und beeinflussen das äußere Geschehen. Dass ein gelingender und vor allem einvernehmlicher Hilfebeendigungsprozess3 in Wohngruppen unter diesen Grundbedingungen zumindest deutlich erschwert wird, erscheint evident (Schnoor 2018b).
So zeigt auch der Blick in die Praxis, dass sich die Zusammenarbeit und das gemeinsame Leben zwischen den Mitarbeiter*innen4 und den jungen Menschen in der Wohngruppe zum Ende der Hilfe hin häufig noch einmal zuspitzt. Selbst wenn bis zu diesem Zeitpunkt eine positive, tragfähige Beziehung aufgebaut werden konnte und der bisherige Hilfeverlauf von allen Seiten als gelingend empfunden wird, können die tief ins Innere eingeschriebenen, biografisch erworbenen Selbstschutzmechanismen dazu führen, dass sich die jungen Menschen mit dem sprichwörtlichen ,lauten Knall‘ verabschieden müssen, um überhaupt gehen zu können (Schnoor 2018b). Hierdurch reinszenieren sie nicht nur für sich selbst die oft bereits wohlvertraute Erfahrung eines plötzlichen Abbruchs der Beziehung, weil sie den Schmerz einer bewusst reflektierten, inneren Verarbeitung des Abschieds womöglich nicht auszuhalten im Stande sind. Auch für alle anderen Beteiligten – die...
| Erscheint lt. Verlag | 11.10.2022 |
|---|---|
| Verlagsort | Ahrensburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Erwachsenenbildung |
| Schlagworte | Abschied • Abschluss • alt • Ankommen • Arbeit • Bedeutung • Bewertung • bewusst • Bindung • Ende • Entwicklung • Erziehung • Erziehungshilfen • Evaluation • finden • Forschungsfeld • Fortbildung • Fragen • Gestaltung • Hilfe • Junger Mensch • Kinder • Kreislauf • Leben • Loslassen • Lösung • Maßnahme • Menschen • Neu • Pädagogik • Phase • Professionalität • Ritual • Selbstevaluation • Seminar • Sozialpädagogik • Stationär • Transdisziplinär • Transition • TZI • Verbesserung • Verstehen • Wohngruppe • Zeit • Ziel • Zukunft |
| ISBN-13 | 9783347753365 / 9783347753365 |
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