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Mord im Tiergarten (eBook)

Putins Staatsterror in Europa
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-83079-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mord im Tiergarten -  Silvia Stöber
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Die Hinrichtung des Tschetschenen Selimchan Changoschwili im Berliner Tiergarten im August 2019 sorgte weltweit für Entsetzen. Ende 2021 verurteilte das Berliner Kammergericht den russischen Angeklagten Wadim Krassikow zu lebenslanger Haft. Während der Ermittlungen und des Prozesses tritt zutage, wie der russische Geheimdienst FSB im Ausland operiert und seine Spezialagenten mit einer Tarnidentität nach Europa schickt, um dort unliebsame Gegner zu töten.  Silvia Stöber hat den gesamten Prozess begleitet, mit zahlreichen Beteiligten und Journalisten gesprochen und Orte besucht, die mit der Tat in Zusammenhang stehen. Vor dem Hintergrund des Tiergartenmords entwirft sie ein Panorama postsowjetischer Schicksale und bettet diese in die gewaltsame Machtpolitik Russlands ein, die sich staatsterroristischer Methoden bedient. Sie macht deutlich, was auf dem Spiel steht: Niemand ist vor Russland sicher, nicht einmal in Europa. Kann sich der deutsche Staat, kann sich Europa wehren?

Silvia Stöber, geb. 1973, freie Autorin und Journalistin, Redakteurin im Ressort Investigativ bei tagesschau.de, mit Abschlüssen in Kommunikationswissenschaften, Soziologie und Romanistik. Sie ist auf Osteuropa und besonders den Südkaukasus spezialisiert, aus und über den sie seit 2007 regelmäßig berichtet. 2008 war Silvia Stöber Stipendiatin des Marion-Gräfin-Dönhoff-Programms in Tbilisi, Georgien. 

Silvia Stöber, geb. 1973, freie Autorin und Journalistin, Redakteurin im Ressort Investigativ bei tagesschau.de, mit Abschlüssen in Kommunikationswissenschaften, Soziologie und Romanistik. Sie ist auf Osteuropa und besonders den Südkaukasus spezialisiert, aus und über den sie seit 2007 regelmäßig berichtet. 2008 war Silvia Stöber Stipendiatin des Marion-Gräfin-Dönhoff-Programms in Tbilisi, Georgien. 

Kapitel 2
Der Auftrag


Staatsterrorismus – das Wort kommt im schriftlichen Urteil zum Mord im Tiergarten einmal vor. Auch bei der mündlichen Urteilsverkündung am 15. Dezember 2021 sprach es der Vorsitzende Richter Olaf Arnoldi nur einmal gegen Ende seines Vortrages aus – für einige Beobachter durchaus überraschend. Denn so sicher hatte es nicht erschienen, dass der Strafsenat diesen Punkt für ausreichend erwiesen halten würde. Schließlich wird im Urteil auch keine konkrete Person oder Sicherheitsbehörde benannt, aus der heraus der Mord in Auftrag gegeben und vorbereitet wurde. Mit behördlichen Ermittlungen und journalistischen Recherchen war es unmöglich, in diesen Bereich vorzudringen. Einblicke könnten nur Zeugen aus dem Machtapparat geben, die – unter Lebensgefahr – zur Aussage bereit wären und Dokumente als Beweise vorlegen könnten. Putin und sein Führungszirkel sind allerdings vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen im Geheimdienstbereich seit Anbeginn ihrer Herrschaft äußerst geschickt darin, eine Rückverfolgung bis zu ihnen zu erschweren, wenn nicht unmöglich zu machen. In einer ausführlichen Biografie beschreiben Fiona Hill und Clifford G. Gaddy beispielsweise, wie Putin belastendes Material sammelt und damit unbedingte Loyalität der ihn Umgebenden erpresst. Der Reichtum, den er sich im Laufe der Zeit angeeignet hat, lässt sich nicht auf ihn zurückführen, registriert sind Konten, Paläste, Jachten und anderes auf die Namen enger Vertrauter.1 So verfügte der Cellist und Taufpate von Putins Tochter Maria Sergej Rodulgin über ein Netzwerk von Briefkastenfirmen, in die mehrere Millionen Dollar flossen und über die zahlreiche Geschäfte abgewickelt wurden. Daten aus den 2016 veröffentlichten „Panama Papers“ legen nahe, dass Putins enger Freund seinen Namen gegeben hatte, um den Reichtum des Mannes an der Spitze des russischen Staates zu verschleiern.2 Dennoch lassen ein genauerer Blick auf die Machtstrukturen Russlands und einige Indizien den Schluss zu, dass die Entscheidung, den Auftragsmord auszuführen, auf höchster Ebene getroffen wurde.

Einige Hinweise lieferte der Angeklagte selbst, auch wenn er an den 53 Verhandlungstagen des Gerichtsprozesses keine Aussage machte. Nur wenige Male war seine Stimme im holzgetäfelten Saal Nummer 700 des Kriminalgerichts in Berlin-Moabit zu hören, aus dem Russischen übersetzt von Gerichtsdolmetscherinnen und -dolmetschern. Bis zum Schluss blieb Krassikow bei der Aussage, dass er nichts mit der Tat zu tun habe, dass er lediglich als Tourist unterwegs gewesen sei und Wadim Sokolov heiße – der Name in dem Pass, den er bei der Festnahme bei sich trug. Konkretere Angaben zu seinem Aufenthalt in Berlin wollte er nicht machen. Zumeist verfolgte Krassikow die Verhandlungen reglos, aber konzentriert hinter den Sicherheitsglasscheiben. Auf Angebote des Vorsitzenden Richters Arnoldi, sich zu den Vorwürfen gegen ihn zu äußern oder die Tatwaffe in Augenschein zu nehmen, ging er nicht ein.

Was wiederum ein Beamter des Bundeskriminalamtes (BKA) als Zeuge vor Gericht über seine Begegnungen mit ihm erzählte, lässt darauf schließen, dass er durchaus reges Interesse an den Ermittlungen und deren Folgen hatte und dass er auf staatliche Unterstützung aus Russland hoffte. Das BKA übernahm die Ermittlungen, als der Generalbundesanwalt am 4. Dezember 2019 den Fall unter dem Verdacht an sich zog, dass die Tat auf den russischen Staat zurückgehen könnte. Für die Überprüfung der Untersuchungshaft war entsprechend der Bundesgerichtshof zuständig.

Verräterische Worte


So beherrscht Krassikow im Gerichtssaal auftrat, so ließ er doch manches Mal durchscheinen, wer er wirklich sein könnte und über welche Fähigkeiten er verfügt. Als Krassikow am 11. Februar 2020 einem Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe vorgeführt wurde, begleitete ihn ein BKA-Beamter mit Russischkenntnissen. Während der Wartezeiten im Haftraum seien sie nach und nach ins Gespräch gekommen, erzählte der BKA-Beamte.3 Krassikow habe sich dafür interessiert, was Putin zur Tat gesagt habe und wie darüber in Russland berichtet werde. Er habe sich verwundert darüber gezeigt, dass die deutsch-russischen Beziehungen durch die Tat beeinträchtigt worden seien. Regelrecht „echauffiert“ habe er sich über die „einseitige“ Berichterstattung in Deutschland. Auch andere Staaten verfolgten Terroristen im Ausland, argumentierte er. Die Amerikaner zum Beispiel töteten in Syrien und anderswo. In Deutschland hingegen sei man offenbar etwas naiv und unterschätze die Tschetschenen: „Sie machen sich keine Vorstellung von der Gefahr, die von Tschetschenen ausgeht“, so die Worte Krassikows nach Aussage des BKA-Beamten.

Gesprächig zeigte sich Krassikow auch bei den ersten Vernehmungen durch Berliner Polizeibeamte einen Tag nach der Tat und bei drei weiteren Terminen. Von Anfang an bestand er auf einen Anwalt, den die russische Botschaft ihm stellen sollte. Laut einem Vermerk, den die Nebenklage vor Gericht zitierte, äußerte er selbstsicher: „Russland weiß ja, dass ich hier bin, und würde nicht auf mich verzichten.“ Jedoch schickte die Botschaft keinen Anwalt. Krassikow blieb ohne anwaltliche Vertretung, bis der Generalbundesanwalt den Fall am 4. Dezember 2019, mehr als drei Monate nach der Tat, übernahm. Er ordnete dem Beschuldigten die zwei Pflichtverteidiger Ingmar Pauli und Christian Koch bei. Bis dahin hätten die Ermittler keine Vernehmungen durchführen dürfen. Krassikows Wahlverteidiger Robert Unger, der nach eigenen Angaben kurz vor Beginn des Gerichtsprozesses am 7. Oktober 2020 in das Verfahren einstieg, setzte deshalb durch, dass Krassikows Aussagen, die er ohne einen Anwalt getätigt hatte, nicht im Urteil verwendet werden durften. Die drei Anwältinnen Inga Schulz, Johanna Künne und Barbara Petersen, die die Angehörigen des Opfers im Prozess als Nebenklägerinnen vertraten, schlossen sich dem Antrag an, weil auch sie das Recht von Beschuldigten auf anwaltlichen Beistand bei polizeilichen Vernehmungen durchgesetzt sehen wollten.

Bevor diese Entscheidung getroffen wurde, nutzten die Anwältinnen allerdings die Möglichkeit, aus den Ermittlungsakten Aussagen von Krassikow zu zitieren, die einen Hinweis auf seine persönliche Einstellung zu der Tat gaben: In einer Erklärung, die sie dem Gericht am 9. Dezember 2020 vorlegten, zitierten sie aus den Ermittlungsakten, wonach sich Krassikow zum Opfer äußerte, als er am 18. November 2019 mit zwei Ermittlungsergebnissen konfrontiert wurde: dass der Name Wadim Sokolov nur eine Tarnidentität sei und er in Wahrheit Wadim Krassikow heiße – und dass er den Mord an Selimchan Changoschwili begangen habe. „Den Terroristen, der sich hier befunden hat, habe ich nicht vernichtet“, soll seine Reaktion den Akten zufolge gewesen sein.4 Dass der Beschuldigte in dieser offenbar spontanen Reaktion vom Opfer als „Terroristen“ und von dessen „Vernichtung“ sprach, deckt sich mit der Feststellung, zu der das Gericht in seinem Urteil kam: dass der Angeklagte „sich bewusst in den Dienst der Ziele seiner Auftraggeber“ gestellt habe, bei dem es sich um „staatliche Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation“ gehandelt habe. Die Richter des 2. Strafsenats schlossen einen Mord aus kriminellen oder persönlichen Motiven aus, ebenso einen Auftraggeber in der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Die Erschaffung der Tarnidentität für Krassikow sei den zentralen Behörden in Moskau zuzuschreiben. Die Russische Föderation verfüge zudem über die logistischen Möglichkeiten, die Tat im Ausland vorzubereiten: Der FSB und dessen Spezialeinheit Wimpel seien zu solchen Taten „ohne Weiteres in der Lage“.

Arnoldi machte beim Urteilsspruch am 15. Dezember 2021 jedoch eine Einschränkung: Es habe nicht mit Sicherheit festgestellt werden können, welche staatliche Institution für den Tötungsauftrag konkret verantwortlich war. Auch sei nicht mit letzter Sicherheit feststellbar gewesen, welcher Institution innerhalb des staatlichen Sicherheitsapparates der Täter zugehörig war. Damit blieb offen, auf welcher Ebene und von wem in Moskau die Entscheidung getroffen worden sein könnte. Einiges spricht dafür, dass der Führungskreis um Präsident Wladimir Putin eingeweiht war.

Es war Putin selbst, der hierfür Hinweise lieferte, als er sich bei zwei Pressekonferenzen vier Monate nach der Tat äußerte, die erste aus Anlass des Ukrainegipfels am 9. Dezember 2019 in Paris, bei der Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron neben ihm saßen. Ein weiteres Mal äußerte er sich bei seiner Jahrespressekonferenz zehn Tage später in Moskau, als er einem Spiegel-Journalisten antwortete. Dieser fragte zunächst nach dem Verdächtigen, der in Berlin in Untersuchungshaft saß. Zu diesem Zeitpunkt war schon bekannt, dass es sich um Wadim Krassikow handeln könnte, der wegen eines Mordes, begangen am 19. Juni 2013 in Moskau, zeitweise in Russland und international zur Fahndung ausgeschrieben war. Auf den Verdächtigen ging Putin mit keinem Wort ein, ebenso wenig auf die Frage, warum die russischen Behörden Anfragen aus Deutschland zur Aufklärung des Attentats in Berlin nicht nachkämen. Stattdessen äußerte sich Putin bei beiden Pressekonferenzen ausführlich zum Getöteten. Er rechtfertigte die Tat als Vergeltung für Terrorakte, die Changoschwili begangen haben sollte. Er nannte ihn einen „absolut blutrünstigen Mörder“, einen „sehr blutigen und sehr harten Mann“, der in einem „Banditenmilieu“ unterwegs gewesen...

Erscheint lt. Verlag 14.8.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Agentenmord • Attentat • Auftragsmord • fsb • Geheimdienst • Mord • Putin • Russland • Spion • Tiergarten • Tiergartenmord • Tschetschenien
ISBN-10 3-451-83079-5 / 3451830795
ISBN-13 978-3-451-83079-2 / 9783451830792
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