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Junge Wohnungslose -  Claudia Daigler

Junge Wohnungslose (eBook)

Eine Einführung für die Soziale Arbeit
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
110 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-042411-1 (ISBN)
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Warum werden junge Menschen wohnungslos? Wie heterogen ist diese Gruppe? Wie sehen ihr Alltag und ihre Bewältigungsformen aus? Was wünschen sich junge Wohnungslose an Unterstützung, was fordern sie und wie organisieren sie sich, z. B. auch über Portale im Netz? Das Grundlagenwerk beantwortet diese Fragen und stellt Ansätze der Sozialen Arbeit, insbesondere der Jugendhilfe, vor. Zudem werden bestehende Zuständigkeitskonflikte in den Hilfesystemen herausgearbeitet und aufgezeigt, wie diesen Konflikten mit neuen, innovativen Ansätzen und einer engagierten Sozialplanung begegnet werden kann. Abgerundet wird die Einführung durch ein Kapitel zur Motivation und zu Kompetenzen, über die in der Wohnungsnotfallhilfe tätige Sozialarbeitende verfügen sollten.

Prof. Dr. Claudia Daigler ist Sozialarbeiterin und Diplompädagogin. Sie lehrt und forscht mit dem Schwerpunkt Integrationshilfen und prekäre Übergänge an der Hochschule Esslingen.

Prof. Dr. Claudia Daigler ist Sozialarbeiterin und Diplompädagogin. Sie lehrt und forscht mit dem Schwerpunkt Integrationshilfen und prekäre Übergänge an der Hochschule Esslingen.

2 Ursachen für und Wege in die Wohnungslosigkeit


T Überblick

Die Ursachen, warum Kinder und Jugendliche wohnungs- bzw. obdachlos werden, sind verschieden. Bei der Mehrheit kann nicht ein einzelner Faktor als Erklärung herangezogen werden. Viele von ihnen haben Armut, (körperliche, psychische, sexuelle) Gewalt und Vernachlässigung in der Familie erlebt. Einige haben sich aufgrund dieser Erfahrungen dafür entschieden, das Elternhaus zu verlassen, andere wurden auf die Straße gesetzt, haben Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen verlassen oder wurden dort entlassen. Offiziell leben etliche bei ihren Eltern, sind aber zum Teil Tage und Wochen nicht ›nach Hause‹ zurückgekehrt. Hinzu kommt, dass immer mehr Familien und junge Erwachsene ihre (Miet-)‌Wohnung verlieren, in Mietrückstände geraten und sie ein Wohnungsmarkt mit immer weniger bezahlbarem Wohnraum exkludiert. Deshalb sind in diesem Kapitel verschiedene Zugänge aufzuzeigen.

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    Wohnungslosigkeit, die entsteht, wenn Familien oder junger Erwachsene ihre Wohnung verlieren und nicht wieder in eine neue eigene Wohnung einmünden können (▸ Kap. 2.1),

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    Jugendliche, die im Elternhaus nicht mehr bleiben können/wollen (▸ Kap. 2.2),

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    Jugendliche/junge Menschen, die aus stationären Jugendhilfeeinrichtungen ›flüchten‹, Heimerziehung abbrechen, oder die Hilfe von der Einrichtung abgebrochen wird (▸ Kap. 2.3).

2.1 Wohnungsverlust und fehlender bezahlbarer Wohnraum


Je älter Jugendliche und junge Erwachsene sind, desto häufiger fallen Aspekte wie ein Wohnortwechsel, der Verlust des Arbeitsplatzes oder der Lehrstelle, eine Trennung oder der Verlust des*der Partner*in bzw. der Bezugsperson, der Verlust der Wohnung, aber auch eine Therapie- bzw. Haftentlassung als Ursache für Wohnungslosigkeit ins Gewicht. Mietrückstände entstehen durch Verlust der Erwerbsarbeit, durch Überschuldung sowie psychische Beeinträchtigungen und damit verbundenen Schwierigkeiten, sich um Dinge des Lebens (z. B. Finanzen) ausreichend kümmern zu können (Hoch 2017). Schwierig ist für viele junge Menschen, insbesondere für diejenigen mit Erfahrungen in der stationären Jugendhilfe, die eigene Wohnung zu halten. Als Hauptauslöser für ihre Wohnungslosigkeit sehen wohnungslose junge Menschen – zusätzlich zu den individuellen, heterogenen Gründen – auch die Defizite in den Hilfestrukturen, sei es im Jugendamt, in Sozialämtern, dem Jobcenter oder der Bundesagentur für Arbeit. Sie fühlen sich aufgrund bürokratischer Hürden überfordert und in den Behörden nicht ausreichend unterstützt und verstanden (Sievers 2019). Gerahmt werden die oben beschriebenen Bruchstellen von einem unzureichenden Angebot an bezahlbarem Wohnraum. Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten bzw. in Einkommensarmut leben, haben kaum mehr Möglichkeiten auf dem regulären Wohnungsmarkt unterzukommen. Allein zwischen 2000 und 2020 hat sich der Bestand an Sozialwohnungen in Deutschland halbiert. Das bedeutet, für junge Erwachsene – wie auch für viele andere und insbesondere für vulnerable Gruppen – erweist es sich als ausgesprochen schwierig, nach dem Verlust des eigenen Wohnraums wieder einen bezahlbaren und ausreichenden Wohnraum zu erhalten und zu finanzieren.

Auch wenn Wohnungslosigkeit nach wie vor vorrangig als ein Problem alleinstehender, überwiegend männlicher Personen öffentlich wahrgenommen wird und zudem die Wohnungsnotfallhilfe auf Einzelpersonen ausgerichtet ist, steigt die Zahl der wohnungslosen Haushalte mit minderjährigen Kindern und Jugendlichen kontinuierlich an. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (BAG W) gibt an, dass erstmals 2018 Haushalte mit Kindern und Jugendlichen häufiger (71 %) wohnungslos wurden als Haushalte ohne Kinder/Jugendliche (48 %) (BAG W 2020a). Die Unterkunftssituation wohnungsloser Familien wird als alarmierend bewertet: Der größte Anteil lebt in verdeckter Wohnungslosigkeit bei Familienangehörigen, Partner*innen und Bekannten als ›Zwischenlösung‹ in oftmals prekären Mitwohnverhältnissen mit, ca. ein Zehntel sind in Notunterkünften im Rahmen der ordnungsrechtlichen Unterbringung untergebracht und ein Fünftel der Familien sind gänzlich ohne Obdach (BAG W 2020b). Bei Familien in Wohnungslosigkeit überwiegen alleinerziehende Personen, i. d. R. alleinerziehende Frauen*, (junge) Schwangere und Familien mit Migrationshintergrund, die EU-Bürger*innen sind. Eine bereits 2015 für Baden-Württemberg veröffentlichte Studie zeigte auf, dass der Anteil an Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahren 40 % der ordnungsrechtlich untergebrachten Personen ausmacht, die dort eine durchschnittliche Verweildauer von mehr als drei Jahre haben (GISS 2015). Aufgrund des ›Verstopfungsphänomens‹, also, dass kein bezahlbarer Wohnraum als Alternative gefunden werden kann, in der ordnungsrechtlichen Unterbringung wie auch in der Wohnungslosenhilfe der freien Träger, ergibt sich die prekäre Situation, dass Kinder und Jugendliche über viele Jahre hinweg in Notunterkünften in beengtem Wohnraum, oftmals in einer Umgebung mit viel Konflikten und Gewaltpotenzial aufwachsen. Kolleg*innen aus der Wohnungsnotfallhilfe sehen großen Bedarf an Kooperation mit der Jugendhilfe/dem Jugendamt und dem Aufbau von sogenannten ressortübergreifenden »verbundenen Hilfen«. Sie erleben den Zugang zum Jugendamt als tendenziell schwierig, da wohnungslose Familien auch Wohnorte wechseln und damit die Zuständigkeit wechselt und da sie innerhalb der Jugendämter eine hohe Personalfluktuation wahrnehmen (Daigler 2022).

Ordnungsrechtliche Unterbringung

Unfreiwillige Obdachlosigkeit bedroht die grundgesetzlich geschützten Güter der körperlichen Unversehrtheit, von Leib und Leben der betroffenen Menschen. Die Ordnungsbehörden und die Polizei sind – auf der Grundlage der Ordnungs- und Polizeigesetze der Länder – verpflichtet, diese Bedrohung abzuwehren. Sie müssen die betroffenen Personen daher unterbringen. Die Unterbringung nach Ordnungsrecht dient nicht einer »wohnungsmäßigen Versorgung«, sondern soll den Betroffenen eine vorübergehende Unterkunft einfacher Art verschaffen.

2.2 Familiäre Brucherfahrungen


Aus der DJI-Studie von Beierle und Hoch geht hervor, dass familiäre Problemlagen von minderjährigen als Hauptgrund (66,2 %) und von volljährigen jungen Menschen als zweitwichtigster Grund (40,1 %) für ihre Straßenkarriere genannt werden (Beierle & Hoch 2018). Damit verbunden sind Erfahrungen von Vernachlässigung, Missachtung, physischer und emotionaler Gewalt und ein Aufwachsen mit suchterkrankten oder psychisch erkrankten Elternteilen. Die Entscheidung, das Elternhaus zu verlassen, wird in den seltensten Fällen plötzlich getroffen. Vielmehr kommen junge Menschen peu à peu in Kontakt mit der Szene, die ihnen attraktiver als Schule, Familie oder Unterbringung erscheint. Zunächst schlafen sie noch an ihrem Meldesitz, dehnen dann ihr Wegbleiben immer mehr aus, bis sie endgültig nicht mehr nach Hause kommen.

Praxis und Forschung melden seit Jahrzehnten zurück, dass junge Frauen* i. d. R. Herabwürdigung, massive Kontrolle, Missbrauch, Schläge etc. in der Familie lange aushalten und erst dann flüchten, wenn es unerträglich wird. Nicht selten haben sie zuvor mehrmals beim Jugendamt auf ihre Situation aufmerksam gemacht, ohne dass sich für sie eine Verbesserung der familiären Situation oder eine Alternative zum Leben in der Familie ergeben hat. Verbunden damit ist insbesondere bei Mädchen* die Erfahrung, ausfallende Elternteile ersetzen bzw. deren Sorgearbeit mit übernehmen zu müssen (Stichwort Parentifizierung). Damit erhalten sie überhaupt die Berechtigung der Existenz oder glauben, dass sie diese erst darüber erhalten. Dies bestätigen Befunde, wonach Mädchen* und junge Frauen* in verdeckte Wohnungslosigkeit gehen als Folge ausstoßender Familiensysteme, in die sie gleichzeitig viel investiert hatten (Hartwig & Kriener 2007, Daigler 2019). Aus der Mädchen*forschung ist bekannt, dass Mädchen* und junge Frauen* i. d. R. nicht hilfsbedürftig, sondern ›ganz normal‹, unauffällig, ›taff‹ und handlungsfähig sein wollen. Sie wollen anderen zeigen, dass sie es ›drauf haben‹. So wird Not und vieles mehr ›eingenordet‹ und bagatellisiert, auf jeden Fall nicht erzählt, um das Gesicht zu wahren und nicht Opfer zu sein. Das bedeutet, auch wenn Mädchen* und junge Frauen* in Notunterkünften bzw. Hilfen sind, werden diese Verdeckungen fortgesetzt (Daigler 2020b).

»Auf der Straße leben heißt, dass alles in meinem Leben anders ist als vorher. Aber so ist es immer noch besser als das, was ich in meiner Familie vorher erlebt habe. Zu Hause hat der Freund meiner Mutter mich total kontrolliert, der hat mich bis ins Bad und zur Toilette verfolgt. Wenn ich das...

Erscheint lt. Verlag 12.4.2023
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Rudolf Bieker, Heike Niemeyer
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
Schlagworte Berufseinstieg • Bewältigungsstrategien • Familie • Gesundheit • Obdachlosigkeit • Sucht
ISBN-10 3-17-042411-4 / 3170424114
ISBN-13 978-3-17-042411-1 / 9783170424111
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