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Der Wille zur Gesellschaft (eBook)

Bürgerschaftliches Engagement und die Transformation des Sozialen
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
208 Seiten
Herbert von Halem Verlag
978-3-7445-0935-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Wille zur Gesellschaft -  Barbara Sutter
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Die Rückkehr des Bürgers ist vielfach beschworen worden - in der politischen Theorie wie in der politischen Praxis gleichermaßen. In den Massenmedien hatte er seinen großen Auftritt als Mut- und Wutbürger; im Kontext Bürgerschaftlichen Engagements hingegen kommt er unscheinbarer in der Gestalt eines aktiven, (selbst-)verantwortlichen und leistungsbereiten Individuums daher, das zugleich gemeinwohlorientiert motiviert und an sich interessiert ist. Vor diesem Hintergrund untersucht Barbara Sutter, wie unter dem Signum Bürgerschaftlichen Engagements das Soziale Gegenstand von Politisierung, Ökonomisierung und Moralisierung wird und sich damit tiefgreifend ändert: Nicht mehr bloße Mitgliedschaft qua Bürgerrechte gilt als sein Fundament, sondern die Bereitschaft zu seiner Mitgestaltung qua Engagement wird zum zentralen Konstituens. Mithilfe diskursanalytischer Detailstudien zeigt sie, wie sich im Rahmen eines 'neuen Gesellschaftsvertrags' ein Wille zur Gesellschaft als Grundlage von Gesellschaftlichkeit plausibel macht, der die Idee des Sozialen, wie sie ehedem für den Aufstieg der Soziologie als neuer wissenschaftlicher Disziplin entscheidend gewesen ist, konterkariert. Dass das für das Fach nicht ohne Folgen bleiben kann, bietet Anlass für weiterführende Überlegungen hinsichtlich einer Wissenschaftssoziologie der Soziologie.

Dr. Barbara Sutter ist Akademische Rätin a.Z. an der TUM School of Education in München.

Dr. Barbara Sutter ist Akademische Rätin a.Z. an der TUM School of Education in München.

2 Die Politisierung des Sozialen: Enquete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement: Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft“


„Bürgerschaftliches Engagement ist eine unverzichtbare Bedingung für den Zusammenhalt der Gesellschaft“ – unter dieser Prämisse hat der Deutsche Bundestag im Dezember 1999 die Einsetzung einer Enquete-Kommission beschlossen (Deutscher Bundestag 1999a). Immer dann, wenn „Probleme und Themen von Gewicht, die tiefer gehend und ohne Zeitdruck behandelt und gelöst werden sollen“ (Heyer/Linieng 2004, 3), ist die Bildung einer Enquete-Kommission das Mittel der Wahl. Bereits 21 Mal hatte der Bundestag diese Form der Politikberatung zu diesem Zeitpunkt genutzt (Altenhof 2002), bis dato vor allem im Hinblick auf im weitesten Sinne technikpolitische Entscheidungen, damit entstehende rechtliche Konflikte und ethische Dilemmata, aber auch angesichts von Angelegenheiten bestimmter Teile der Bevölkerung (wie etwa Frauen (1977–1981), Jugend (1981–1983)) – also in erster Linie aufgrund von als spezifisch wahrgenommenen Problemen, für die spezifischer Sachverstand erforderlich sein sollte. Das Problem jedoch, dem sich der Bundestag mit seiner 22. Enquete-Kommission stellte, ist ein wahrlich generelles, denn von der „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ sollte nichts weniger als die Zukunft unserer Gesellschaft abhängen: Ihr Zusammenhalt steht und fällt mit der Bereitschaft der Einzelnen, sich freiwillig, unentgeltlich, gemeinwohlorientiert zu engagieren – zumindest wird dies mit der spezifischen Problematisierung behauptet, die die Einsetzung dieser Enquete-Kommission motiviert und ihre Arbeit determiniert hat.

Seit ihrer Einführung im Jahr 1969 sind Enquete-Kommissionen zu einem immer stärker eingesetzten Instrument der Politikberatung und als solche auch zum Gegenstand von science policy studies geworden. Diese argumentieren häufig mit der Idee zweier „Legitimationskreise öffentlicher Entscheidungen“19 als Charakteristikum moderner Demokratien: Politische Entscheidungen müssen sowohl rational sein, wofür Wissenschaft als Autorität fungiert, als auch von Repräsentanten delegierter Macht getroffen werden, was durch öffentliche Zustimmung i. d. R. in der Form von Wahlen gewährleistet werden muss (Weingart 2001, 132). Folgt man dieser Konzeption, liegt es nahe, von einer ‚Politikverdrossenheit‘, die sich am deutlichsten in geringer Beteiligung an Wahlen zeigt, auf eine erhöhte Relevanz wissenschaftlicher Expertise bei der Legitimierung politischer Entscheidungen zu schließen. Und in der Tat, bei der Lösung sachbezogener Probleme ist der Ruf nach sachbezogener Expertise deutlich zu hören und damit die Möglichkeit von ‚Sachzwängen‘ schon vorprogrammiert. Und doch bedeutet ‚mehr Wissenschaft‘ keineswegs ‚weniger Politik‘, ist doch gerade die Formulierung zu bearbeitender Probleme als sachbezogene Probleme ein politischer Akt. Die Frage, ob „durch wissenschaftliche Politikberatung überhaupt eine ‚Rationalisierung‘ der Politik zu erwarten“ sei (Weingart/Lentsch 2008, 16) ist deshalb hier in einer modifizierten Form interessant, nämlich: Im Modus welcher Rationalität verbinden sich Politik und Politikberatung? (2.1) Einen ersten Hinweis gibt die Aufgabe, die der Enquete-Kommission gestellt wurde: Bestandsaufnahme und die zu erarbeitenden Umsetzungsstrategien sollten „in eine Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit eingebunden werden, in der das Bürgerschaftliche Engagement eine bedeutende Funktion für den Einzelnen und für das Gemeinwohl besitzt“ (Deutscher Bundestag 1999) (2.2). Die Forderung nach Bürgerschaftlichem Engagement wird dabei mit zweierlei Strategien plausibilisiert: in Abgrenzung zu dem, was seit Jahrzehnten als Ehrenamt bekannt ist, und in mehr als wahlverwandtschaftlicher Beziehung zum Selbstmanagement (2.3). Konvergenzen von Bürgerschaftlichem Engagement und Selbstmanagement werfen ein neues Licht auf die Unterscheidung von citoyen und bourgeois, eines Staatsbürgers auf der einen, eines Wirtschaftsbürgers auf der anderen Seite. Mit der sogenannten „Requalifizierung des Bürgerbegriffs“ (Münkler) stellt die Enquete-Kommission dem Bürgerstatus verloren geglaubte Bürgerkompetenzen gegenüber – deren Neuauflage sind eine Facette dessen, was als enterprising self (Miller/Rose) beschrieben worden ist (2.4). Ein neuer Gesellschaftsvertrag soll die Bürgergesellschaft als Gesellschaft kompetenter und williger Bürger oder in anderen Worten bürgerschaftlich Engagierter fixieren und bleibt dabei, so wird zu zeigen sein, stets Resultante permanenter Arbeit – am Selbst und an der Bürgergesellschaft (2.5.)

2.1 Enquete-Kommissionen als Form der Politikberatung


Die Möglichkeit zur Einrichtung von Enquete-Kommissionen etablierte der Deutsche Bundestag im Zuge der sogenannten „Kleinen Parlamentsreform“ im Jahr 1969, mit der auch die Bundestagsverwaltung in den Bereichen der wissenschaftlichen Fachberatung ausgebaut wurde (Marschall 2000).20 Bis zu diesem Zeitpunkt verfügte der Bundestag mit den Untersuchungsausschüssen nur über ein Instrument, um Missstände und Skandale aufzudecken – eine Instanz, die darüber hinausgehende, generelle Informationsbedürfnisse befriedigen konnte, gab es nicht. Demgegenüber sollten Enquete-Kommissionen den Abgeordneten ermöglichen, für Entscheidungsprozesse notwendiges Wissen zu erheben, und zwar unabhängig von der Regierung, um auf diese Weise die Kontrollfunktion des Parlaments zu stärken – dazu sollte eine enge Kooperation von Abgeordneten mit Sachverständigen, mit Wissenschaftlern und Praktikern angestrebt werden. Wenn das Enqueterecht als Resultat des Mißtrauens der gesetzgebenden gegenüber der ausführenden Gewalt“ betrachtet werden kann (Altenhof 2002, 12 f.), kann es gleichzeitig als Reaktion auf einen erhöhten Bedarf an wissenschaftlicher Politikberatung sowie Teil ihrer Professionalisierung gelten.

Dass wissenschaftliche Politikberatung seit 1945 zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, ist einerseits auf die Ausweitung der Staatsfunktionen, andererseits auf die Ausdifferenzierung der Wissenschaft zurückzuführen. Steigerte sich mit der Spezialisierung der Wissenschaft ihre Analysefähigkeit, wurden neben sicherungs- und ordnungspolitischen Aufgaben die Zukunftssicherung zu einem Politikbereich, und dies trotz einer gleichzeitigen Vervielfachung von Wissenschaftskonzeptionen und eines einhergehenden Verlusts einer Eindeutigkeit des Wissens (Weingart/Lentsch 2008, 10). Ob Wissenschaft unter diesen Voraussetzungen zu einer Rationalisierung von Politik führen kann, ist umstritten − die komplementäre Frage, ob Politik ihrerseits zu einer Demokratisierung von Wissenschaft beitragen kann, ist beispielweise Gegenstand einer „funktionalen Rekonstruktion“ partizipativer Verfahren der Technikfolgenabschätzung hinsichtlich ihres Potentials zur Akzeptanzsteigerung und Anpassung von Technologien an die Bedürfnisse der von ihnen Betroffenen (Abels/Bora 2004, 19).

Um demgegenüber die hier eingenommene Perspektive zu schärfen, ist ein Blick auf die Vorannahme hilfreich, die der Frage nach einer möglichen Rationalisierung von Politik (und ebenso einer möglichen Demokratisierung von Wissenschaft) zugrunde liegt: Sie muss voraussetzen, dass es sich bei Wissenschaft und Politik im wesentlichen um zwei soziale Systeme mit unterschiedlichen Operationslogiken handelt:

„Der an Machterhalt orientierten Politik, die Wissen ausschließlich unter strategischen Gesichtspunkten beurteilt, steht die Wissenschaft gegenüber, die an der ‚Richtigkeit‘ des Wissens orientiert ist.“ (Weingart/Lentsch 2008, 17)21

Gleichwohl werden beide Systeme nicht völlig unabhängig voneinander konzipiert: Während politische Legitimation neben demokratischer Zustimmung eines als wissenschaftlich gesichert geltenden Wissens bedarf, benötigt Wissenschaft von der Politik bereitgestellte Ressourcen. „Im Hinblick auf Wissen als Handlungsressource“ wird die Abhängigkeit als „asymmetrisch“ beschrieben, denn insbesondere in „medialen Massendemokratien“ verfüge Wissen über ein derart großes Irritationspotential, dass es die Politik nicht dauerhaft ignorieren könne; die Wissenschaft hingegen bliebe im „Kern ihrer Praxis […] davon unberührt“ (ebd.), dass sie Ressourcen von der Politik beziehe.

Wissenschaftliches Wissens wird in diesem Zusammenhang vor allem als politische Legitimationsquelle in den Fokus genommen, deren Generierung zwar politischer Unterstützung in der Form geeigneter Ressourcen bedarf, die aber davon im wesentlichen nicht affiziert wird – genau dies lässt sich jedoch mit Blick auf den von Foucault beschriebenen Macht/Wissen-Komplex problematisieren und in Hinsicht auf Fragen der Subjektivierung produktiv wenden (s.o.). In gewisser Weise trägt die Charakterisierung von Beratungswissen, das über die sachliche Richtig- und Belastbarkeit von wissenschaftlichem Wissen hinaus „politisch nützlich und realisierbar sein“ muss (Weingart/Lentsch 2008, 17), einem solchen Ansatz Rechnung. Gleichwohl perpetuiert sie die Idee eines reinen Wissens, die aus der hier eingenommenen Perspektive hochproblematisch ist:

„Political rationalities are dependent on knowledge. They ground themselves in a positive knowledge of that which is to be governed, ways of reasoning about it, analyzing it and evaluating it, identifying its problems and devising solutions.“ (Miller/Rose 1990, 167)

Diese Perspektive auf den Zusammenhang von Politik und Wissen(schaft) soll im folgenden dazu genutzt werden, die Arbeit der Enquete-Kommission „Zukunft...

Erscheint lt. Verlag 25.11.2015
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Aufstand • Blockupy • Bürger • Bürgerrechte • Bürgerschaftliches Engagement • Citizenship • Corporate Citizenship • Demonstration • Diskursanalyse • Diskussion • Engagement • Gemeinwohl • Gesellschaftlichkeit • Gesellschaftsvertrag • Meinung • Mutbürger • Politisierung • Protest • Soziale • Stuttgart 21 • Widerstand • Wissenschaftssoziologie • Wutbürger
ISBN-10 3-7445-0935-4 / 3744509354
ISBN-13 978-3-7445-0935-0 / 9783744509350
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