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Freiheit, Liebe, Hoffnung -  Marianne Zückler

Freiheit, Liebe, Hoffnung (eBook)

Über sexuelle Orientierung und Ausgrenzung in Osteuropa - Aktualisierte Neuausgabe
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
240 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-95890-465-1 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
(CHF 11,70)
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Die Lebensfäden von acht Protagonisten verweben sich zu einem großen Teppich, in dem Einschüchterung und Ausgrenzung, aber auch Liebe und Freiheit ineinandergehen. Sie gewähren uns Einblicke in eine Welt, in der viele Menschen wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt werden und gegen Anfeindungen und Diskriminierung ankämpfen müssen. Die Protagonisten zeigen ihren Weg heraus aus der Opferrolle - Wege voller Mut, Beharrlichkeit und Selbstvertrauen.

Marianne Zückler, geb. 1960 in Berlin, studierte Germanistik, Erziehungswissenschaft und Theaterpädagogik. Sie ist Dozentin für dokumentarisch-biografische Theaterarbeit. Seit 1994 arbeitet sie als freie Autorin. Themenschwerpunkte sind die Verschränkung von Erfahrungs- und Erinnerungsräumen sowie die transgenerationelle Weitergabe von Kriegs- und Gewalttraumatisierungen. Ihre Hörspiel-Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet. Ihr erster Roman 'Der blanke Hans und seine Frauen' erschien 2015.

Marianne Zückler, geb. 1960 in Berlin, studierte Germanistik, Erziehungswissenschaft und Theaterpädagogik. Sie ist Dozentin für dokumentarisch-biografische Theaterarbeit. Seit 1994 arbeitet sie als freie Autorin. Themenschwerpunkte sind die Verschränkung von Erfahrungs- und Erinnerungsräumen sowie die transgenerationelle Weitergabe von Kriegs- und Gewalttraumatisierungen. Ihre Hörspiel-Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet. Ihr erster Roman "Der blanke Hans und seine Frauen" erschien 2015.

ANDRÉ/ANDREA


Ich bin 1949 in Riga geboren. An welchem Tag … welcher Monat? Das wissen der liebe Gott und mein Schutzengel. Die Papiere hat man nachträglich und dank meines energischen Adoptivvaters ausgestellt. Schon verrückt – keine Identität ohne behördliche Papiere? Identität ist etwas ganz anderes, etwas Angeborenes. Ich fühle mich mit mir verbunden, das ist meine Identität. Mit dem Papier verbindet mich gar nichts. Ist doch völlig unwichtig, ob man als Männchen, Weibchen oder als etwas dazwischen auf die Welt kommt. Wir sind alle Kinder Gottes.

Ich bin in sehr unruhigen und schweren Zeiten geboren … vermutlich im Lager. Damals gab es viele Deportationen in Riga. Viele Letten, Juden, Kinder, Kriminelle und politische Gegner wurden von den Sowjets abgeholt und in Straflager nach Sibirien gebracht.

Ich hatte Glück im Unglück. Mein Schutzengel hat mich wie ein Jesuskind vor eine Tür gelegt. Später bin ich dann in ein Kinderheim gekommen. Es war eines der schlimmsten! Das erzählten meine Adoptiveltern oft, wenn sie drohten, mich wieder hinzubringen. Als sie mich holten, muss ich drei oder vier Jahre gewesen sein. Viele Kinder starben dort an Typhus und anderen Krankheiten. Endlose Flure … alle führen ins Nichts … riesige Schlafsäle, lange, schwarze Schlunde … an den Gestank von Pisse und Kacke, daran kann ich mich erinnern. Die brüllenden Stimmen … einer rüttelt mich, zum Appell … und bindet mich los.

Davon wache ich heute noch auf. Klitschnass, mein ganzer Körper. Ich stehe dann auf, öffne das Fenster, ganz weit, rauche eine – meistens werden es mehr. Ich warte bis zum Morgengrauen, bis die schwarzen Raben der Vergangenheit weggeflogen sind, aber sie kommen wieder.

Viele wurden in Gulags verschleppt. Auch die, die »andersrum« waren. Zu Sowjetzeiten sprach darüber niemand. Es war zu gefährlich. Jetzt, wo wir Letten frei sind, erfährt man nach und nach, was in diesen Lagern passiert ist. Aber über Menschen … die so wie ich sind … wird weiter geschwiegen. Bei euch im Westen ist das heute anders. Wir brauchen noch Zeit. Eine kleine Ewigkeit vielleicht.

ASENKA


Ich behaupte immer, dass ich in der Sowjetunion geboren bin, aber das stimmt nicht ganz. Mein Vater ist Russe und kommt ursprünglich aus Minsk, also Weißrussland. Meine Mutter ist Lettin. Wir lebten mit vielen anderen russischen Familien in der Moskauer Vorstadt von Riga. Die Kinder, mit denen ich spielte, kamen aus ähnlichen Verhältnissen wie mein Bruder und ich. Ihre Väter dienten als Soldaten und Offiziere in der Sowjetarmee. Die Häuser und Straßen waren ziemlich heruntergekommen. Es gab tiefe Risse in den Wänden, die Bürgersteige waren holprig und lagen voller Schutt. Wenn es stark regnete, gruben sich lange Flüsse durch die Straßen und Wege. Man kam nur mit Gummistiefeln voran.

Ging es den anderen Kindern genauso wie mir? Ich konnte mir jedenfalls nichts anderes vorstellen. Ich dachte, alle Familien sind so wie meine und in allen Familien geschehen die gleichen Geschichten. Die Väter trinken, streiten sich mit ihren Frauen, prügeln sie, hauen ab, kommen wieder und lassen sich bis zum nächsten Streit bedienen. Die Mütter putzen, weinen, schlagen ihre Kinder, brüten vor sich hin, gehen arbeiten und geben ihren Kindern Befehle. Ein ewiger Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Unsere kleine Vorstadt war für mich die Welt. So waren die Menschen.

Irgendwann wurde mir klar, dass ich nicht dazugehöre. Andere Kinder waren mir fremd, darum zog ich mich vor ihnen zurück. Ich beobachtete sie beim Spielen. Wenn sie mich riefen, machte ich mit, aber nur halbherzig. Bei den Schlammschlachten der Jungs hatte ich nichts zu suchen. Die Schmink- und Verkleidungsspiele der Mädchen kamen mir albern vor. Ich fühlte mich anders als sie.

ALGIS


Ich hatte einfach Glück, dass ich nach der Unabhängigkeit Litauens aufgewachsen bin. Ich bin froh, dass mein Land zur EU gehört, wo Menschenrechte geachtet werden. Für die Generation meiner Eltern war es schwer, mit dem neuen System klarzukommen. Sie erlebten es als Crash. Viele haben es trotz der Aufbruchsstimmung nicht gepackt, sich neu zu finden. Meine Eltern haben beide alles Mögliche ausprobiert.

Papa ist Ingenieur. Als sein Kombinat 2002 geschlossen wurde, versuchte er es mit einem Mobilfunkladen und ging pleite. Er ist kein Geschäftsmann. Heute arbeitet er in der Sicherheitsbranche. Bei Mama lief es ähnlich. Auch sie wurde entlassen und hat anschließend Lehrgänge besucht. Heute arbeitet sie als Buchhalterin bei einem internationalen Unternehmen.

Im Kindergarten war ich der einzige Junge, der nur mit Mädchen spielte. Die Erzieherinnen machten sich deswegen Sorgen, und meine Eltern steckten mich in einen Fußballverein. Ich hasse Fußball. Und es war schlimm, wenn wir danach zusammen duschen mussten. Ich war einfach ein empfindsames … frühreifes Kind. Die anderen nannten mich »Weichei« und »pensionierter Mann«. Ich wurde katholisch erzogen. Aber nicht streng … Meine Eltern sind eher Atheisten. Bei meiner Tante und meinem Onkel liegt der Fall anders. In ihrer Wohnung hängt der blutende Jesus am Kreuz und mehrere Heilige verschönern ihre Ozeantapete.

Als Kind war ich nachmittags oft bei meiner Tante. Sie war siebzehn Jahre älter. Wir lagen auf ihrem Sofa und sahen uns gemeinsam erotische Filme im Internet an. Abends kam dann mein Onkel dazu und es ging mit Heteropornos weiter. Mein Onkel hat in der Verwaltung gearbeitet und ist heute ehrenamtlicher Küster. Ich lernte früh viel über Sex. Aber ich schämte mich und erzählte meinen Eltern nichts davon.

ANNA


Wenn ich an meine Eltern … Mutter denke … sie ist der wichtigste Mensch in meiner Kindheit gewesen. Sie war sehr aktiv, hat immer viel gearbeitet und Ämter in unserer Gemeinde übernommen. Trotzdem hatte sie Zeit für mich. Wenn sie Geschichten aus der Bibel erzählte, waren die so spannend wie Abenteuergeschichten. Ich liebte das. Märchen über schöne Prinzessinnen, die nur darauf warten, wachgeküsst zu werden, mochte ich nicht. Mama und ich waren uns einig, dass ein Leben als Prinzessin, die nur schön sein soll und sich nicht dreckig machen darf, sehr langweilig sein muss.

Eine meiner eindrücklichsten Erinnerungen ist: Sie sitzt auf dem Boden, hat ein großes Bettlaken vor sich und schreibt darauf Parolen.

Sie wollte zu einer Solidarność-Demo gehen. Ich hockte neben ihr und malte Blumen, Wolken und Sonnen auf das Laken. Wir hatten großen Spaß und ich war stolz, dass ich mitkommen durfte. Die Eltern meiner Freundinnen nahmen ihre Kinder nicht zu solchen Demos mit. Wir standen vor dem Rathaus in Danzig in einer großen Menschenmenge und hörten den Rednern zu. Mein Papa kam später mit meiner Schwester nach. Anschließend gingen wir Eis essen. Unsere Eltern diskutierten über das, was die Redner gesagt hatten. Sie waren beide begeistert von den neuen politischen Strömungen und der Öffnung zum Westen. Wir bekamen das mit und wurden von ihrer Begeisterung mitgerissen. Eigentlich komme ich aus einer ziemlich politischen Familie. Heute würde Mama das nicht mehr zugeben.

ESZTER


Im Grunde war ich immer eine Einzelgängerin. Ich suchte nicht die Nähe zu anderen Kindern. Das fiel nicht nur in unserer Gemeinde negativ auf, sondern auch im Kindergarten und später in der Schule. In der amerikanischen Kultur spielen die Gemeinschaft und der Anteil am sozialen Leben eine große Rolle. Wer sich nicht daran hält, fällt auf und kann schnell zum Außenseiter werden.

Ich war nicht das typische Mädchen: Ich kletterte auf Bäume, spielte mit Jungs, baute Baumhäuser und fuhr rasant Fahrrad, was meine Mum oft in Panik versetzte. Sie ist eine strenge, disziplinierte Frau. Aber wenn es um mich geht, ist sie bis heute eine Glucke.

Mein Opa wohnte bei uns, ich liebte ihn sehr. Er begegnete mir auf Augenhöhe. Er wollte, dass ich Denken lerne und schenkte mir ein Mikroskop. Das war meine Rettung! So konnte ich die Welt tiefer entdecken und der Enge unserer Gemeinde entkommen.

KAZIMIERZ


Mein Großvater hieß auch Kazimierz. Er war kein tiefgläubiger Mann. Wir lebten damals in einer kleinen Wohnung. Mein Vater arbeitete zuerst in der Sowjetunion, später hatte er mit meiner Mutter einen Kiosk. Meine Eltern hatten wenig Zeit. Meine Schwester und ich verbrachten die Wochenenden und Sommerferien oft bei den Großeltern. Sie hatten ein großes Haus mit einem riesigen Garten. Ihre Erziehung war für mich sehr prägend, und das hat viel mit ihrer Lebensgeschichte zu tun. Ursprünglich kamen sie aus Ostpolen, der heutigen Ukraine. Später, als die Sowjets kamen, wurden viele Familien nach Sibirien deportiert. Die Familie meines Großvaters hat dieses Schicksal nicht überlebt. Von den Geschwistern kam nur mein Großvater zurück. Zu Sowjetzeiten redete keiner darüber, weil es gefährlich war....

Erscheint lt. Verlag 19.5.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Anfeindung • Ausgrenzung • Beharrlichkeit • Diskriminierung • Einschüchterung • Freiheit • LBGTQ • LBGTQ+ • LGBTQ* • LGBTQIA* • Liebe • Menschenrechte • Mut • Opferrolle verlassen • Osteuropa • Selbstbefreiung • Selbstbestimmung • Selbstvertrauen • Sexualität • Sexuelle Identität • Verfolgung
ISBN-10 3-95890-465-3 / 3958904653
ISBN-13 978-3-95890-465-1 / 9783958904651
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