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Die Frontlinie (eBook)

Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
544 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01573-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Frontlinie -  Serhii Plokhy
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In «Die Frontlinie» analysiert der Historiker Serhii Plokhy die entscheidenden Entwicklungen in der Geschichte der Ukraine und ihrer Beziehung zu Russland und dem Westen. Russlands Angriffskrieg kommt nicht aus dem Nichts. Die Begründung des Krieges und das dahinterstehende Narrativ greifen auf jahrhundertealte Großmachtansprüche Russlands zurück, die es in der Vergangenheit immer wieder gestellt hat. In kenntnisreichen Essays zeigt er, wie viel umfassender sich der gegenwärtige Konflikt verstehen lässt, wenn man die historischen Wurzeln kennt und die Region in ihrer Vielschichtigkeit erfassen kann. Das ist so erhellend wie erschreckend.

Serhii Plokhy ist Mychajlo-Hruschewskyj-Professor für ukrainische Geschichte an der Harvard Universität und Direktor des Harvard Ukrainian Research Institute. Plokhy ist Autor zahlreicher Bücher, darunter «The Last Empire», für das er den Lionel-Gelber-Preis gewonnen hat, und «Chernobyl», das mit dem Baillie-Gifford-Preis ausgezeichnet wurde. Er lebt in den USA.

Serhii Plokhy ist Mychajlo-Hruschewskyj-Professor für ukrainische Geschichte an der Harvard Universität und Direktor des Harvard Ukrainian Research Institute. Plokhy ist Autor zahlreicher Bücher, darunter «The Last Empire», für das er den Lionel-Gelber-Preis gewonnen hat, und «Chernobyl», das mit dem Baillie-Gifford-Preis ausgezeichnet wurde. Er lebt in den USA.

Vorwort


Am 24. Februar 2022 erwachte die Welt in einer neuen Realität. Im Morgengrauen begann Russland mit einem Luftangriff auf Kyjiw und andere Städte einen Krieg gegen den souveränen Staat Ukraine. Gemessen an seiner Reichweite, an der Zahl der beteiligten Truppen, der Masse der militärischen und zivilen Todesopfer wie auch der Flüchtlinge infolge der Angriffe, hat sich dieser neue Kriegsschauplatz schnell zum größten und tödlichsten Militärkonflikt entwickelt, den Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hat.

Der russisch-ukrainische Krieg begann 2014 mit der russischen Annexion der Krim, wurde aber von der internationalen Gemeinschaft weitgehend ignoriert. Nun ist es jedoch unmöglich, weiterhin die Augen davor zu verschließen. Die Zerstörung Mariupols, dem Erdboden gleichgemacht von russischen Bomben und Raketen, die viele Zivilisten in der erbitterten Widerstand leistenden Hafenstadt getötet haben, hat auch mit dem magischen Denken aufgeräumt, dem viele westliche Politiker und die breite Öffentlichkeit jahrelang verfallen sind: Wenn man nur lange genug die Augen verschließt vor der russischen Aggression gegen die Ukraine, würde sie von ganz allein aufhören. Der Glaube daran, dass Appeasement-Politik funktioniert, mag weitgehend verschwunden sein, aber die Frage, was den Krieg verursacht hat, bleibt unbeantwortet.

Bislang hat sich die internationale Aufmerksamkeit überwiegend auf das vom Aggressor, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, selbst verbreitete Narrativ konzentriert. Diese Darstellung behauptet zu Unrecht, die Aggression gegen die Ukraine sei eine Reaktion auf die Erweiterung der NATO auf Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Aber Putins eigene Äußerungen und Schriften vor der erneuten Invasion deuten darauf hin, dass der wahre Grund und die eigentliche Rechtfertigung für seine Aggression gegen die Ukraine – deren Bemühungen um einen NATO-Beitritt vom Bündnis schon lange vor diesem Angriff abgewürgt wurden – in der Geschichte wurzeln, besonders in einer bestimmten Version russischer Geschichte und ihrer Beziehung zur Ukraine, die Wladimir Putin und ein Teil der politischen Elite Russlands übernommen haben.

Mehr als einmal hat Putin nachweislich erklärt, Russen und Ukrainer seien vermutlich Teil ein und desselben Volkes. Diese Behauptung führte er 2021 in seinem Essay «Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern» aus, das zur ersten Salve im folgenden Krieg der Narrative wurde. Auch in seiner Rede, in der er drei Tage vor der Invasion vom 24. Februar das Minsker Abkommen zwischen Russland und der Ukraine von 2015 anprangerte, kam Putin auf die Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen zurück. Bei dieser Gelegenheit stellte er den ukrainischen Staat fälschlicherweise als ein künstliches Gebilde dar, das Wladimir Lenin und die Bolschewiken geschaffen hätten.[1]

Putins Missbrauch der Geschichte ist mehr als lediglich eine weitere Manipulation der Vergangenheit, um einen Vorwand für einen Akt der Aggression zu liefern. Sie ist auch Ausdruck von Putins eigenen Überzeugungen, die ihn verleitet haben, ein Land anzugreifen, das er grundlegend falsch eingeschätzt hat. Die Erwartung, dass diese «Militäroperation» innerhalb weniger Tage beendet sein würde – mit einer Siegesparade in Kyjiw und Massen jubelnder «befreiter» Ukrainer, die seine Truppen dankbar begrüßten, weil sie endlich mit ihren russischen Brüdern im historischen Schoß der einen russischen Nation «wiedervereint» sind –, hat sich nicht erfüllt.

Dieselbe Ukraine, die nach Putins Ansicht durch historische Verwerfungslinien und Sprachgrenzen so gespalten war, dass sie angeblich weder eine Daseinsberechtigung noch eine Chance hatte, Russlands Angriff etwas entgegenzusetzen, hielt stand und, mehr noch, wehrte sich. Die ukrainische Nation, die es nach Putins Ansicht niemals gab, machte über sprachliche, ethnische und religiöse Trennlinien hinweg mobil, um die russische Aggression zu stoppen.

Viele Menschen in Europa und auf der ganzen Welt, die Putins Geschichtsversion geglaubt hatten, wundern sich, warum und wie das geschehen konnte. Anfangs beobachteten sie entsetzt den russischen Angriff auf friedliche ukrainische Städte und ihre Zivilbevölkerung; dann verfolgten sie staunend den heldenhaften Widerstand der ukrainischen Armee und gewöhnlicher Bürger gegen den Angriff eines erheblich stärkeren Nachbarn. Die in diesem Band zusammengestellten Essays liefern Antworten auf eine Reihe wesentlicher Fragen zur Ukraine, ihrer Geschichte, Kultur, Identität und vor allem ihrer langen, stürmischen und häufig tragischen Beziehung zu Russland. Obwohl sie vor der Eskalation des russisch-ukrainischen Militärkonflikts zu einem umfassenden Krieg geschrieben wurden, sind sie heute aktueller denn je.

***

Der Band beginnt mit einer Einführung, die für die Notwendigkeit einer neuen Nationalgeschichte der Ukraine plädiert, welche die wichtigsten historiografischen Entwicklungen und Errungenschaften der letzten Jahrzehnte miteinbezieht und das Entstehen des modernen ukrainischen Staates erklärt.

«Kosakenstamm», der Titel des ersten Teils, bezieht sich auf den Wortlaut der ukrainischen Hymne, einen Text aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, der allen Ukrainern eine kosakische Abstammung zuschrieb. Das Kosakentum wurde zum Gründungsmythos der modernen ukrainischen Nation. Die Essays in diesem Teil befassen sich daher mit den verschiedenen Aspekten der kosakischen Geschichte und den aus ihr entsprungenen Mythologien.

Der Essay «Die Ukraine erscheint auf der Landkarte Europas» befasst sich nicht nur mit dem erstmaligen Auftauchen des Begriffs «Ukraine» auf einer europäischen Landkarte, sondern untersucht auch die synergetische Beziehung zwischen Kosaken und Fürsten, die in der traditionellen Geschichtsschreibung als Kontrahenten dargestellt werden. Das nächste Kapitel, «Russland und Ukraine: Gab es 1654 eine Wiedervereinigung?», analysiert die Fallstricke der Perejaslaw-Mythologie, deren man sich in Zeiten des russischen Kaiserreichs und der Sowjetunion bediente, um die russische Herrschaft über die Ukraine zu rechtfertigen, und die kürzlich vom neoimperialistischen Russland wiederbelebt wurde, um zu behaupten, Russen und Ukrainer seien «ein Volk». In «Hadjatsch 1658: Die Ursprünge eines Mythos» wird der Mythos betrachtet, der als Gegengewicht zu dem von Perejaslaw diente, indem er die Orientierung des kosakischen Staates in Richtung Polen als eine wünschenswerte Alternative darstellte. «Die Rückkehr Iwan Masepas» schließlich nimmt in den Blick, in welcher Weise die ukrainische Gesellschaft mit der kaiserzeitlichen Mythologie der Schlacht von Poltawa (1709) und der Darstellung des ukrainischen Hetmanen Ivan Mazepa umgegangen ist, der gegen das Kaiserreich rebellierte, als Verräter des Zaren und Erzfeind Russlands.

«Das rote Jahrhundert», der zweite Teil des Bandes, umfasst Artikel und Essays, die das blutigste Jahrhundert Europas und der Ukraine behandeln – das 20. Er beginnt mit einer Neuinterpretation der Russischen Revolution als einer Revolution der Nationen («Wie russisch war die Russische Revolution?») und diskutiert die Gründe, die Lenin und die Bolschewiken dazu führten, dem ukrainischen Streben nach Unabhängigkeit Zugeständnisse zu machen. Der Teil behandelt anschließend in zwei weiteren Artikeln die große ukrainische Hungersnot von 1932/33, welche jüngst vom ukrainischen Parlament und jenen einer Reihe anderer Länder als Völkermord anerkannt wurde: «Durch Hunger töten» ist eine Rezension von Anne Applebaums preisgekröntem Buch Roter Hunger: Stalins Krieg gegen die Ukraine, und «Die Vermessung der Großen Hungersnot» präsentiert die Ergebnisse eines Forschungsprojekts zur Historie dieser Tragödie, das sie eindeutig als menschengemachte Hungersnot einstuft.

Die nächsten beiden Essays, «Der Ruf des Blutes» und «Der Kampf um Osteuropa», behandeln die Relevanz der Ukraine für die internationale Politik des Zweiten Weltkriegs. Im ersten Fall zog Stalins Entscheidung, den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt zu unterzeichnen, eine teilweise Rehabilitierung des ukrainischen Nationalprojekts und seiner Rhetorik nach sich, die für die Rechtfertigung der sowjetischen Annektierung von Teilen Polens und Rumäniens vonnöten war. Im zweiten Schritt vertrete ich die Ansicht, dass sich die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen am Ende des Zweiten Weltkriegs im Zuge des erstarkenden Wettstreits der beiden Länder um Osteuropa, das die Ukraine damals wie heute einschloss, zu verschlechtern begannen. Die Wirkung des ausbrechenden Kalten Kriegs auf die Einwohner der Ukraine wird in dem «Der amerikanische Traum» überschriebenen Essay behandelt.

«Abschied vom Imperium», der dritte Teil des Bandes, umfasst Texte zum Anteil der Ukraine an dem Kollaps der Sowjetunion. Mit dem Zerfall der UdSSR, deren Geschichte ich in meinem Buch The Last Empire ausführlich behandle, setze ich mich hier in einem kurzen Kapitel mit der Überschrift «Der Zusammenbruch der Sowjetunion» auseinander. Die Geschichte und das Andenken an die atomare Katastrophe von Tschornobyl (russisch Tschernobyl), einer der Faktoren des Zusammenbruchs, wird in den Essays «Tschornobyl» und «Die Wahrheit in unserer Zeit» behandelt. «Das Imperium schlägt zurück» zeichnet die Evolution der russischen Außenpolitik gegenüber der Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach und untersucht den Ausbruch des aktuellen Konflikts.

Essays zur Politik der Erinnerung liefern zudem einen Kontext zum Verständnis des Kriegs...

Erscheint lt. Verlag 19.5.2022
Übersetzer Stephan Gebauer, Thorsten Schmidt, Gregor Hens, Ulrike Bischoff, Stephan Kleiner
Zusatzinfo Mit 19 s/w Karten
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Annektion der Krim • Catherine Belton • Donbas • Donbass • EU • Geschichte der Ukraine • Geschichte Ukraine • Holodomor • KGB • Kiew • Krieg • Krim • Maidan • mariupol • NATO • Oligarchen • Putin • Putins Netz • Russland • Russland Ukraine • Selenski • Selenskyj • Sowjetunion • Tschernobyl • Ukraine • Ukraine Buch • Ukraine Einwohner • Ukraine Geschichte • Ukraine-Konflikt • Ukraine Krieg • Ukraine Präsident • Ukraine Prognose • Ukraine Russland • Ukraine Unabhängigkeit • Vladimir Putin • Waffenlieferung • Wolodymyr Selenskyj
ISBN-10 3-644-01573-2 / 3644015732
ISBN-13 978-3-644-01573-9 / 9783644015739
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