Junge weiße Männer (eBook)
200 Seiten
Riva Verlag
9783745318562 (ISBN)
Julian Witzel wurde 1982 in Fulda geboren. Nach seinem Studium der Germanistik arbeitete er als Songtexter, Musiker und Creative Director in der Werbebranche. Darüber hinaus schreibt er als Journalist für die »Welt am Sonntag«.
Julian Witzel wurde 1982 in Fulda geboren. Nach seinem Studium der Germanistik arbeitete er als Songtexter, Musiker und Creative Director in der Werbebranche. Darüber hinaus schreibt er als Journalist für die »Welt am Sonntag«.
8
Das falsche Jahrzehnt
Es ist 1996. Ich sitze in einem aus Holz gezimmerten Würfel, der so groß wie ein kleiner Raum ist - von außen mit silberglänzenden Paneelen beschlagen. Nach vorne hin gibt es eine Öffnung im Würfel, ein in die Vorderseite gefrästes riesiges Herz, durch das man hineinsteigen kann; im Inneren dann - dort, wo ich sitze - ist alles aus rotem Plüsch. Um mich herum räkeln sich fünf junge Frauen, die alle mit bauchfreien Tops bekleidet sind und mir mit ihren Blicken bedeuten, dass sie sich heute eventuell noch ihr erstes Mal mit mir vorstellen könnten, mindestens aber Knutschen. Eine von ihnen liegt zu meinen Füßen.
»Jetzt pack mal richtig zu!«, ruft eine Stimme, verstärkt von einem Megafon. Bisher hatte ich vermieden, meine Arme tatsächlich auf den nackten Schultern der Mädchen abzulegen, hatte meine Unterarme auf unnatürliche Weise nach innen geklappt, in der Anmutung vielleicht ein bisschen an ein Huhn erinnernd.
»Greif sie dir«, sagt die Stimme noch mal mit Nachdruck, und dann tue ich, was von mir verlangt wird. Ein bisschen unangenehm ist es schon, aber natürlich fühlen sich nackte Mädchenschultern grundsätzlich nicht schlecht an. Die Stimme aus dem Megafon scheint zufrie-den zu sein und brüllt endlich »Action!«, das Musikplayback startet, und alle setzen sich in Bewegung. Ich wippe ein bisschen mit den Mädchen in meinen Armen, bevor ich anfange, meine Lippen zum Text zu bewegen. Es ist mein erster Musikvideodreh.
* * *
Mitte der Neunziger war ich dreizehn und wie jeder Mensch in diesem Alter mit den Unwegsamkeiten der Pubertät beschäftigt. Es ging da natürlich um Flecken im Gesicht, erste Partys und wer dort geknutscht, gekotzt oder geklaut hatte, um eine neue Sensibilität für soziales Standing und manchmal auch um irgendwas mit Drogen. Im Nachhinein scheint es mir aber die größte Herausforderung gewesen zu sein, den Tag mit so viel Masturbation wie möglich zu füllen und parallel dem irgendwie kräftezehrenden Gedankenspiel nachzugehen, wie es denn wäre, mal in echt mit jemandem Geschlechtsverkehr zu haben. Das wirklich Kuriose aber ist: In dieser bemerkenswerten Zeit ergab sich für mich die Möglichkeit, als eine Art Teeniestar berühmt zu werden.
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Nach meinem Crush auf Michael Jackson hatte es nicht lange gedauert, bis in mir der sehr ambitionierte Wunsch gereift war, selbst ein berühmter Musiker zu sein. Es hatte dann noch die genial zugängliche Ausdrucksform Sprechgesang gebraucht, die ersten selbst geschriebenen Texte, einen Schlagzeuglehrer mit guten Kontakten in die Pop-branche und ein Narrativ, das man den - Achtung: Neunzigerjahre-Musikbranchen-Talk - Major Labels sehr gut verkaufen konnte: Deutschlands jüngster Teeniestar! Schon gab es da einen flotten Pop-Rap-Song, einen Videodreh mit Plüschwürfel und unschlagbare Überschriften in meiner Pressemappe: Aufgepasst - Hier kommt der Tausendsassa mit Knuddelfaktor 10.
* * *
Es war die Stunde der süßen Jungs. Manche hatten sich in Boygroups organisiert, manche führten niedlich verstrubbelt durchs Musikfernsehen, andere lungerten in amerikanischen Highschool-Serien vor den Spinden irgendwelcher Mädchen herum. Der Knuddelfaktor war die harte Währung im Popuniversum der Neunziger und wurde damit auch zum Orientierungswert für alle nicht berühmten männlichen Teenager, die sich in der stilistischen Mitte der pubertierenden Gesellschaft bewegten. Süße Boys waren also, in ihrer ganzen Verkürzung, ein Symptom ihrer Zeit. Was können wir von ihnen über Männlichkeit lernen?
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Wer sich einen hohen Knuddelfaktor sichern wollte, musste ein paar anatomische Besonderheiten unbedingt in sich vereinen. Für mich als designierten Knuddelboy galt dieser Kriterienkatalog natürlich auch. Große Augen, verträumter Blick: check. Eine schlanke, bloß nicht allzu austrainierte Figur, am Rande zur Schlaksigkeit, ganz ohne Körperbehaarung: auch check. Kopfhaar, das zum Durchwuscheln einlädt, im besten Falle halblang und zu einem Mittelscheitel sortierbar: noch mal check. Ich hatte es nie geplant und ein bisschen schämte ich mich auch dafür, trotzdem stand bald offiziell fest: Ich war süß.
Das Knuddel-Game beherrschte ich dann auf eine Weise intuitiv. Plötzlich fing ich an, bei jeder Gelegenheit zu erzählen, wie schüchtern ich sei, besonders beim Flirten, dass bei mir auf jeden Fall das Mädchen den ersten Schritt machen müsse. Das war gar nicht unbedingt die Wahrheit, zusammen mit der anatomischen Weichzeichnung ergab sich so aber ungefähr das Maß an Teddybären-Knuffigkeit, das man in Zukunft von mir erwartete, das in späteren BRAVO-Artikeln journalistisch aufgearbeitet wurde: der süße Boy beim Flirtcheck, der süße Boy beim Sternzeichencheck, der süße Boy ganz alleine im Hotelbett.
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Das Foto für mein erstes Plattencover wurde in einem Stuttgarter Studio geschossen. Der Fotograf hatte kurz zuvor schon für zwei meiner absoluten Hip-Hop-Heroes gearbeitet: Freundeskreis und die Fantastischen Vier. Dass ich mich nun in diese Serie von eigenen Vorbildern einreihen würde, versetzte mich in eine M.-C.-Escher-hafte Realitätstaumelei. Der Typ, der meinem damaligen Kunstverständnis zufolge regelrechte Cover-Ikonen geschaffen hatte, würde nun auch für mich eine visuelle Vision entwickelt haben. Welche konnte das sein? Welches Image würde ich verkörpern? Als ich am Set erschien, konnte ich die Antwort auf diese Frage kaum erwarten.
Zuerst verpasste man mir in der Maske einen kapitalen Mittelscheitel. Das darauffolgende Styling endete für mich in blauen Baggy-Pants und einem übergroßen, bunten, fast bis zu den Knien reichenden Pullover. Derartig schlumpfhaft wäre ich von alleine nie auf die Straße gegangen, ich spürte aber den künstlerischen Approach bei der Sache und machte die Maskerade mit jugendlicher Arglosigkeit einfach mit.
Für das eigentliche Shooting platzierte man mich dann inmitten eines Spiegelkabinetts, das vor der Studiohohlkehle aufgebaut worden war. In meiner ganzen Buntheit ergab sich so durch die Spiegelungen der Spiegelungen der Eindruck eines menschlichen Kaleidoskops. War das etwa mein Euphemismus? Ich - die bunte, unendliche Vielseitigkeit? Ich fühlte es nicht unbedingt. Dann wurde fotografiert: »Arme mal zum Gesicht, Stirn locker lassen, und jetzt mal verträumt in die Kamera, Kinn hoch, ja, das ist gut.«
An die Stimmung am Set erinnere ich mich noch sehr genau. Draußen war es dunkel geworden, die Studioumgebung - Assistenten, Visagisten, Manager und Plattenfirmenleute - verschwamm immer mehr um mich und die klickende Kamera herum, und ich spürte, dass wir dem alles entscheidenden Schuss immer näher kamen, und gleichzeitig spürte ich es nicht.
Nach dem Shooting schaute man gemeinsam auf die Ergebnisse. Ein Bild war dem Fotografen und auch den Leuten von der Plattenfirma besonders aufgefallen. Neben diesem Bild prangten auf dem ausgedruckten Fotobogen mehrere Edding-Kreuze als Zeichen seiner Ausgewähltheit. Es zeigte mich am Boden hockend, die Hände wie zum Gebet zusammengepresst, das Gesicht eher blass, die Augen riesig und die Lippen außergewöhnlich voll. Es ließ sich nicht verleugnen, es war eindeutig: Ich sah aus wie Michel Jackson.
Es folgten - soweit es die Schule zuließ - Fernsehauftritte, Konzerte, weitere Fotoshootings, Interviews, Wochen im Studio, Meetings mit der Plattenfirma, Signierstunden, noch mehr Fernsehauftritte. Ich erzählte allen, wie schüchtern ich sei, spürte meinem sweeten Pop-Alter-Ego vor allen Kameraobjektiven des Landes nach und verliebte mich in jeden Fan mit bauchfreiem Top.
* * *
Während ich als süßer Boy auf diese Weise einigermaßen erfolgreich durchs Land streifte, schritt natürlich auch die Pubertät alle Entwicklungsregister ziehend voran. Es lag demnach völlig im Plan, dass sich kurz vor der Veröffentlichung meiner zweiten Single der Ansatz eines Bartes über meiner Oberlippe abzeichnete. Für mich war das ein sehr gutes Signal. Die grundsätzliche Abwesenheit von Körperbehaarung im Vergleich zu anderen Jungs, bei denen dieser Prozess schon etwas weiter vorangeschritten war, hatte mir in mancher Umkleidekabine neidvolle Blicke ins Knuddelgesicht gefräst. Ich erinnere mich sehr gut, dass insbesondere der schmale, feine Haarstreifen, der bei einigen meiner Freunde vom Intimbereich bis zum Bauchnabel reichte, eine besondere Anziehung auf mich hatte, nicht in einem sexuellen Sinne, sondern als simpler Wunsch für meinen eigenen Körper. Wer auf einen solchen Streifen hinunterschauen konnte, würde im nächsten Moment mit Mädchen schlafen - diese Kausalität stand mir klar vor Augen. Dass es bei mir jetzt erst mal im Gesicht losging, war kein Problem, andere Bodyparts würden folgen.
Ich empfand also einen regelrechten Stolz dieser feinen Linie Haar gegenüber. Was ich nicht ahnte: Oberlippenbärte hatten in der Knuddelboy-Job-Description nichts zu suchen. Deutlich wurde das, als man mir während der Vorbereitungen zu meinem zweiten Musikvideodreh in der Maske mit einem Nassrasierer auflauerte. Nur: Niemand hatte mit meinem Willen zum Behaartsein gerechnet. Ich stoppte die Visagistin in ihrem Vorhaben, und auch im anschließenden Krisengespräch, an dem mein Management, die Leute von der Plattenfirma, der Fotograf und verschiedene Stylisten teilnahmen, konnte man mich nicht umstimmen: Ich würde mit diesem Bart im Video zu sehen sein oder gar nicht. Am Ende drehten wir. Mit mir. Und mit meinem Oberlippenbart.
Es schien sich hier aus der plüschwürfelhaften Lebensrealität meines Pop-Alter-Egos heraus auf natürliche Weise der Wunsch nach etwas mehr Männlichkeit Bahn gebrochen zu haben. Ein bisschen Rauheit im...
| Erscheint lt. Verlag | 15.5.2022 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Alte weiße Männer • Gender Debatte • Gendern • Generation • Geschenk • Gleichberechtigung • Identität • Mann sein • Mannsein • Passmann • Sexismus • Väter • woke |
| ISBN-13 | 9783745318562 / 9783745318562 |
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