Zukunftslärm (eBook)
272 Seiten
REDLINE Verlag
978-3-96267-376-5 (ISBN)
Bernhard Fischer-Appelt gründete zusammen mit seinem Bruder noch vor seinem Studium die erste PR-Agentur, die sich im Umweltbereich engagierte. Heute betreibt er mit fischerAppelt eine der größten inhabergeführten Kommunikationsagenturen mit über 700 Mitarbeitern. Zwischen 2018 und 2020 forschte er an der Harvard University zum Thema Zukunft. Er publizierte bereits zwei Bücher.
Bernhard Fischer-Appelt gründete zusammen mit seinem Bruder noch vor seinem Studium die erste PR-Agentur, die sich im Umweltbereich engagierte. Heute betreibt er mit fischerAppelt eine der größten inhabergeführten Kommunikationsagenturen mit über 700 Mitarbeitern. Zwischen 2018 und 2020 forschte er an der Harvard University zum Thema Zukunft. Er publizierte bereits zwei Bücher.
ERSTES KAPITEL
DIE ZUKUNFT – EIN MÖGLICHKEITSRAUM
Die Zukunft entsteht nur, wenn wir sie anstoßen. Deshalb müssen wir ein klares Bild davon bekommen, welche von mehreren möglichen Zukünften zu wählen ist. Das geht nur, wenn wir verstehen, wie sich unterschiedliche Zukünfte zueinander verhalten – und das geht wiederum nur, wenn wir den Zukunftslärm lichten und verstehen, was in der Gegenwart zu tun ist, um eine Zukunft aufzubauen.
Gelobt für seine Furchtlosigkeit, verflucht für seine Beharrlichkeit beim nächtlichen Gesang oder bei der Verteidigung seines Territoriums, frisst der Mockingbird gerne frisches Obst und Gemüse, was ihn nicht gerade zum Liebling der Gärtner gemacht hat, obwohl er auch viele Insekten vertilgt. Außer den Mockingbirds beherbergen Austins Bäume aber auch noch Grackeln, eine kaum weniger territoriale nordamerikanische Vogelart, die mit den Spottdrosseln gerne spektakuläre und lautstarke Luftkämpfe ausficht. Wer dabei jeweils den Kürzeren zieht, hat sich mir nicht immer erschlossen, als ich in der Hauptstadt des Bundestaates Texas für ein paar Tage an dem erwähnten Kultur- und Zukunftsfestival South by Southwest, kurz SXSW, teilnahm.
Auch das menschliche Gerangel um Zukunftsvorschläge und mediale Aufmerksamkeit ist groß, wie auf Konferenzen, Ausstellungen, Messen und Festivals vom Kaliber der SXSW zu erfahren ist. Die Zukunft wird dort regelmäßig besetzt, indem mitunter absurdeste Technologielösungen propagiert werden. Als einer der skurrilsten Fälle kommt mir zum Beispiel eine Modellserie nuklearbetriebener Autos aus den sechziger Jahren in den Sinn, angefangen mit dem Ford Nukleon. Heute sind solche zukünftigen Objekte mit Wasserstoff betriebene Flugzeuge, mitfühlende Pflegeroboter und seitwärts fahrende, parkplatzminimierende Autokabinen. Technologische Zukunftsattrappen zu propagieren, kann dabei durchaus auch ein Versuch sein, sich Zukünfte vorzustellen, zu experimentieren und Reaktionen zu testen, darum zu ringen, wer Themen und Möglichkeiten frühzeitig besetzt.
Oft ist es sogar zunächst besser, echte Innovation noch nicht zu zeigen und Sinn dort vorzugeben, wo es gar keinen Sinn gibt – durch bewusste Täuschung oder einfach nur aus dem Bedürfnis heraus, den Raum zu füllen und einen Entwurf zu zeigen, der es sowieso nie zu seiner Verwirklichung schaffen wird. Hinter solchem Handeln kann vieles stecken: der Wille zur Lufthoheit über die Argumente oder einfach nur der Hunger nach maximaler Aufmerksamkeit, wie eben bei den Spottdrosseln, die auf der Balz und der Suche nach territorialer Hoheit sind. Wie kann es gelingen, Investor:innen zu finden, Erstkund:innen zu gewinnen oder Konsument:innen davon zu überzeugen, dass auch eine lahm gewordene Marke voller Entwicklungspotenzial steckt? Die Zukunft durch Spott und kämpferisch herausposaunte Visionen zu beanspruchen, ist eine ebenso legitime Strategie wie das mühsame Prototyping kleiner Schritte im stillen Kämmerlein, um zu einem gründlich abgerundeten Vorschlag zu gelangen.
Während das Motto des Festivals seine hochkarätigen Redner:innen und Teilnehmer:innen aufforderte, über die Zukunft unserer Gesellschaft nachzudenken, wurde die Spottdrossel zu meiner bevorzugten Metapher für die unscharfe Vorhersagekakophonie, die von der Veranstaltung ausging. Der Spötter und sein Jukebox-Charakter ist ein Meister des Zukunftslärms. Ich wäre nun auch in der Lage, vieles zu intonieren, was man über unsere Zukunft hören möchte. Ich fragte mich aber, wie man diesen ganzen Klangteppich durchdringen kann. Wie können wir das Signal vom Lärm trennen? Wie können wir endlich eine plausible Zukunft hören – eine, nach der ich und alle anderen heute wirklich handeln können? Die Vögel gaben mir darauf sicherlich keine Antwort und die Konferenz in Austin auch nicht.
Die Überforderung von Prognosen durch Zukünfte
Wie man Signal und bloßes Rauschen voneinander unterscheiden kann, ist eines der großen Probleme, mit denen sich Mathematiker und Statistiker beschäftigen. Nach aussagekräftigen Mustern in einem unermesslichen Ozean von Datentreibgut zu suchen, und daraus Aussagen über die Zukunft abzuleiten, liegt in unserer menschlichen Natur. Diese Suche ist ein zutiefst befriedigender Prozess, der Orientierung und Sicherheit verspricht. In der Regel lässt sich die Daten-Spreu vom Weizen durch Verfahren trennen, mit denen wir Signifikanzniveaus für alle möglichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge ermitteln können – vor allem, wenn es um einfache Aussagen geht, etwa wie sich Bevölkerungen, das Wetter, ein Verkehrsaufkommen oder eine Viruspandemie entwickeln werden. Solche Methoden versetzen uns in die Lage, in ein paar engen Ausschnitten unserer Lebenswelt ein wenig von unserer Zukunft zu erklären.
Dabei sollte ich allerdings erwähnen, dass die Vorhersage der Zukunft die längste Zeit nicht die vornehmste Aufgabe der Wissenschaft war. Denn dort ging es lange um das, was gemessen, beobachtet und geprüft werden kann – das heißt um Vergangenes. Erst mit dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisschub und ganz besonders mit dem Anfallen von immer mehr digitalen Daten während der letzten Jahrzehnte ist die Wissenschaft mehr und mehr zu Vorhersagen aufgerufen worden. Der Klimawandel und die Digitalisierung, die beiden schicksalhaften Transformationen unserer Zeit, haben dabei sicherlich eine entscheidende Rolle gespielt. Und so lassen sich mittlerweile dank quantitativer Modellierungen Vorhersagen formulieren, die tatsächlich hilfreich und nicht selten sogar spektakulär genau sind. Die Vorhersage von Alterskohorten ist ein Beispiel dafür. Lineare Gleichungen können mit angemessener Genauigkeit die Alterspyramiden zum Ende des 21. Jahrhunderts bestimmen. Ein weiteres Beispiel ist das berühmte Mooresche Gesetz, die Formel, die das Wachstum der Halbleiterkapazität im Laufe der Zeit mit überraschend hoher Genauigkeit vorhersagt.3 Nicht zuletzt das eigene Alter kann jeder von uns sofort in die Zukunft projizieren – niemand hat Probleme zu sagen, wie alt er oder sie im Jahr 2030 sein wird.
Doch diese Beispiele beschreiben lediglich isolierte Probleme und deren Lösungen. Sie sind nicht viel mehr als Verlängerungen und Projektionen von zukunftsträchtigen, aber leicht fortzuschreibenden Datentrends. Im Gegensatz dazu ergibt sich das künftige Schicksal unserer Gesellschaft in all der damit verbundenen Komplexität aus viel mehr Faktoren als nur ein paar singulären Extrapolationen. Die Gesellschaft der Zukunft und wie sie sich und ihre Welt einmal empfindet, wird zwangsläufig das Ergebnis einer Vielzahl von Trends sein, die sich nur schwer miteinander in den Einklang eines künftigen Gesamtbilds bringen lassen. Schließlich wird so vieles dabei eine Rolle spielen, das sich nicht leicht nachmessen lässt: der Fortschritt in Technik und Wissenschaft, die Entwicklung unseres politischen Denkens und unserer ideellen Weltanschauungen – gar nicht zu reden von den berühmten Wild Cards, jenen seltenen, aber überraschenden Ereignissen mit großen Auswirkungen.
Zukunftsforschung, die redlich bleiben möchte, kann sich damit nicht allein auf konventionelle wissenschaftliche Methoden stützen. Stattdessen muss sie umfassende Narrative erschaffen, die erhebliche Freiheitsgrade zulassen, um die Welt in 20, 30 oder sogar 50 Jahren zu beschreiben. Eine Aufgabe, die aus Datensätzen besteht, die selbst für heutige und künftige Supercomputer zu gewaltig, unstrukturiert oder nicht beschaffbar sein dürften, um sie zu systematisieren und zu einer tauglichen Zukunftsszenario zu verarbeiten.
Drei Hauptwege zur Zukunft, nur einer bricht mit der Gegenwart
Ich verstehe jede Zukunft, die wir uns vorstellen können, als eine Projektion, die ihren Ausgangspunkt notwendigerweise in unserer gemeinsamen Gegenwart hat. Das Hier und Jetzt, also das, was wir heute wahrnehmen, fühlen, beobachten, lieben oder hassen, stellt bereits eine erste Vorwegnahme aller unserer Zukunftsvorstellungen dar – der kurz-, aber auch der langfristigen. Es ist der blinde Fleck, den wir alle teilen, denn wir können nichts extrapolieren, ohne den Hintergrund des heutigen Lebens als Ausgangspunkt zu nehmen. Was jetzt ist, ist immer Quelle und Voraussetzung für jede Vorhersage darüber, was kommt. Ohne diese Grundlage verlieren wir uns in willkürlichen Spekulationen, die uns nichts nützen – und wir verstärken den Zukunftslärm nur weiter, ohne dass er irgendjemandem weiterbringt.
Schauen wir uns kurz an, welche prinzipiellen Mechanismen zum Tragen kommen, wenn man in Richtung Zukunft aufbricht. Dabei gibt es drei verschiedene Wege, denen man folgen kann. Ich stütze mich dabei auf den Ansatz, den die deutsche Kulturwissenschaftlerin Eva Horn entwickelt hat.4
Ein erster Weg in die Zukunft ergibt sich demnach aus der einfachen Annahme, dass alles so bleiben wird, wie es ist. In der Tat sehen viele Menschen ihren Status quo als das Beste an, was die Zukunft für sie...
| Erscheint lt. Verlag | 20.3.2022 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Fake News • Fakten • Klimawandel • Krise • Künstliche Intelligenz • Optimismus • Pandemie • Populismus • Prognose • Querdenker • Verschwörung • Wandel • Zukunft |
| ISBN-10 | 3-96267-376-8 / 3962673768 |
| ISBN-13 | 978-3-96267-376-5 / 9783962673765 |
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