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Das Corona-Brennglas (eBook)

Demokratie und Ökonomie nach der Pandemie
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
310 Seiten
Tectum-Wissenschaftsverlag
978-3-8288-7676-7 (ISBN)

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Das Corona-Brennglas -
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Seit dem Frühjahr 2020 hat die Corona-Pandemie den Alltag im ganzen Land auf den Kopf gestellt. Die Krise hat wie ein Brennglas bereits vorher bestehende Probleme offengelegt und verstärkt. Gleichzeitig stellt sich seitdem die Frage nach ihren ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Folgen. Wie wirkt sich die Pandemie auf die politische Entscheidungsfindung aus? Wie groß ist die Gefahr eines wirtschaftlichen Absturzes, welchen Anteil trägt die Wirtschaft selbst bei der Bewältigung der Krise? Und wie wirkt sich all das auf den Zusammenhalt und das Institutionenvertrauen aus? Kurzum: Welchen Einfluss nimmt die Krise auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft? Dieser Sammelband wurde von namhaften Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Berufsfeldern geschrieben. Die verschiedenen Perspektiven und Expertisen ermöglichen die Suche nach Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit. Auf diese Weise ist ein ebenso vielseitiges wie informatives Werk entstanden. Mit Beiträgen von Prof. Dr. Marie-Luisa Frick, Sigmar Gabriel, Serap Güler, Prof. Bodo Hombach, Prof. Dr. Rolf G. Heinze, Prof. Dr. Michael Hüther, Prof. Dr. Claudia Kemfert, Wolfgang Kubicki, Christian Kullmann, Prof. Dr. Philip Manow, Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Prof. Dr. Wolfgang Reitzle, Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, Jens Spahn, Dr. Edmund Stoiber und Ronald Pofalla.

Erstmal wird es schlimm – Covid-19 als Chance zur Weltverbesserung?

Wahrscheinlicher ist, dass die Seuche weltweit eher als Brandbeschleuniger wirkt

von Sigmar Gabriel

Wenig scheint in Deutschland zur Jahreswende 2020/2021 in der Bekämpfung der Corona-Pandemie zu klappen. Vermutlich seit im Mai des vergangenen Jahres die Ministerpräsidenten der meisten Bundesländer der Versuchung erlegen sind, jeweils eigene Wege zu gehen, statt sich anhand fester Parameter auf ein bundesweit einheitliches Handeln zu verständigen, entgleitet der deutschen Politik die anfangs so erfolgreiche Pandemiebekämpfung. Galt die Bundesrepublik zu Beginn der Krise als „Musterländle“ unter der Führung der Kanzlerin, blickt die eigene Bevölkerung mit wachsender Verzweiflung auf die sich offenbarenden Mängel. Und im Ausland gerät das Bild eines gut organisierten Deutschlands ins Wanken. Mag man Verzögerungen in der Impfstoffbeschaffung noch verstehen, so macht die monatelange Untätigkeit in der Erarbeitung von wirksamen Schutzkonzepten für Schulen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen ebenso fassungslos wie die täglichen Offenbarungseide bei der Logistik – ganz zu schweigen von den schleppenden Prozessen der versprochenen Wirtschaftsbeihilfen für die schwer gebeutelten Dienstleistungs- und Kulturbranchen. Allem Anschein nach behandeln wir in Deutschland und in weiten Teilen Europas die Corona-Pandemie noch mit den Mitteln der Pest-Bekämpfung des Mittelalters: dem allgemeinen Wegsperren, während die erfolgreichen südost-asiatischen Länder schlicht die Datentechnologie des 21. Jahrhunderts nutzen, um Infektionsherde und deren Ausbreitung gezielt bekämpfen zu können. Die Folge dieser mittelalterlichen Bekämpfungsmethode ist eine Stop-and-Go-Politik, die in den vergangenen Monaten die Grenzen nicht nur der wirtschaftlichen Belastungsfähigkeit unseres Landes erreichte, sondern vor allem auch die der psychischen und sozialen Erträglichkeit.

Mindestens ebenso wichtig wie die aktuelle Bekämpfung der Pandemie ist aber die Frage nach dem „Danach“. So, wie wir nicht wussten, ab welchem Datum Impfstoffe verfügbar sein würden, so werden uns die Virologen auch weder ein Datum für die endgültige Öffnung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens nennen noch die Schrittfolge dahin. Und trotzdem muss man sich bereits jetzt darauf vorbereiten – so, wie man sich auf den Tag der Verfügbarkeit eines Impfstoffes hätte vorbereiten können.

Die Politik wird also selbst ebenso entschlossen wie behutsam Wege in eine neue Normalität eröffnen müssen, die zugleich viele überdauernde Verhaltensänderungen von uns verlangen wird. Dass darüber schon jetzt politisch gestritten wird, ist ein gutes Zeichen und bereits Ausdruck der neuen Normalität.

Die zentrale Frage lautet also frei nach Udo Lindenberg: „Hinterm Horizont geht’s weiter – nur wie?“ Machen wir weiter wie bisher, oder nutzen wir die Erfahrungen aus der Krise zu einer Neujustierung unseres Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells?

In der Wirtschaft ist das Virus schon jetzt der große Beweger. Die Unternehmen, die es sich leisten können, gingen zu völlig veränderten Arbeitsformen über. Das Homeoffice wurde im Zeitraffer zur Massenerscheinung moderner betrieblicher Arbeit. Wer braucht noch große Bürogebäude, wenn dezentral gearbeitet werden kann? Dabei dürfte die Heimarbeit meist eher im Interesse der Arbeitgeber liegen als im Interesse der Arbeitnehmer, denn für Letztere bedeutet die Trennung von Arbeits- und Wohnort auch den Schutz der eigenen Privatheit. Außerdem hilft ihnen ein fester, gemeinsamer Betriebsort, um ihre Interessenvertretung zu organisieren. Betriebsräte sind eben keine Homeoffice-Beauftragte. Es ist daher erstaunlich, wie derzeit ausgerechnet Sozialdemokraten der Entbetrieblichung das Wort reden.

Die größten Gewinner der Sonder-Konjunktur nach der Pandemie dürften jene Digitalunternehmen sein, die sich schon in den vergangenen Jahren über enorme Gewinnentwicklungen und wachsende weltweite Bedeutung freuen konnten: Amazon wird am meisten profitieren und dabei unzählige Einzelhändler und ihre Geschäfte in der Insolvenz zurücklassen. Aber auch die digitalen Infrastrukturunternehmen, die Cloud-Anbieter, der E-Commerce, das Online-Shopping und die Webinar-Anbieter gehören zu den Gewinnern der Krise. Die Corona-Pandemie könnte die Bruchkante von digitaler und analoger Welt in der globalen Wirtschaftsgeschichte markieren.

Dazu kommen eine Rückkehr und Besinnung von der Höhe in die Fläche. Schon jetzt spüren Branchenexperten Kaufzurückhaltung in den städtischen Zentren. Man will nicht mehr die hohen Preise zahlen für das Leben in der Großstadt, wenn ihre Vorteile (Kultur, Veranstaltungen, Lesungen etc.) mit gesundheitlichen Gefährdungen oder mangels Angebot mit Limitierung bestraft werden. Dann lieber raus aufs Land! Anders als in der frühen und frühesten Neuzeit macht jetzt nicht die Stadtluft, sondern die Landluft frei. Zumal die Provinz längst ähnlich liberal ist wie die Metropolen.

All das setzt aber voraus, dass sich die Gesellschaft wieder öffnet und mehr Eigenverantwortung übernimmt. Der demokratische Staat kann für den Einzelnen weder jedes Lebensrisiko bannen noch alles bezahlen. Eine politische Führung, die jeden Tag etwas mehr den Eindruck zu vermitteln versucht, sie könne alle Risiken durch die Kombination von Verboten und Geld gegen null reduzieren, wird schnell an ihre Grenzen kommen – oder diese Grenzen überschreiten. Eine freie Gesellschaft kann auf Dauer nicht allein auf den ordnenden Staat setzen, sondern braucht die Vernunft und Verantwortungsbereitschaft ihrer Bürgerinnen und Bürger. Das aufgeklärte und von staatlichen Ermahnungen unabhängige Risikobewusstsein, das wir gerade einüben, wird uns auch danach helfen. Gelingt das nicht, droht die wiederholte Rückkehr der Pandemie mit weit größerem wirtschaftlichen Schaden und einem dramatischen Vertrauensverlust in die staatliche Handlungskompetenz. Dann kann auch unser Land ins Wanken geraten, denn wenn schon beim Klopapier in Panik verfallen wird, ist das Chaos nicht viel weiter als drei Mahlzeiten entfernt.

Schaut man über die Grenzen des eigenen Landes hinaus, wirkt Covid-19 wie ein Brandbeschleuniger all dessen, was wir schon vor der Krise sehen konnten. Es wird jedenfalls wohl kaum zu einer neuen und besseren Weltordnung kommen, wie jetzt viele erhoffen. Denn das Virus verändert nicht die strategischen Konstellationen und Rivalitäten, es verschärft und beschleunigt sie. Die beiden derzeit wichtigsten Mächte, die für eine veränderte Weltordnung gebraucht würden – die USA und China –, bleiben auch nach der Pandemie Rivalen. Vieles spricht dafür, dass Covid-19 dem Konflikt eher neue Nahrung gibt, als ihn zu befrieden. Europa wiederum ist viel zu sehr mit sich beschäftigt, um das Vakuum in der globalen Ordnung zumindest teilweise füllen zu können. Das Drama um die Finanzhilfen für Südeuropa hat das gezeigt.

Die ganze Welt wird nach der Pandemie im wahrsten Sinne des Wortes erst einmal ärmer sein. Die Staatsschulden, die wir derzeit machen, um unsere nationalen Ökonomien zu stabilisieren, belasten schon die wohlhabenderen Länder enorm. Ärmere Länder haben oft nicht mal die Möglichkeit, mit noch höheren Schulden das Elend ihrer Bürger zu lindern. Hier kann die Virus-Pandemie für sehr viele Menschen schnell zu einer Hunger-Pandemie werden.

Wer jetzt auf ein Ende der vermeintlich ungerechten Globalisierung hofft, muss das gerade jenen Ländern und ihren Bürgern erklären, die erst dank des weltweiten Austauschs von Waren und Rohstoffen den Sprung aus der Armut geschafft haben. Denken wir nur an die fast eine Milliarde Chinesen, die eben nicht mehr ohne Schuhe zur Schule gehen und sich mit einer Handvoll Reis zufriedengeben müssen. Die soziale Ungleichheit ist eher dadurch gewachsen, dass am oberen Ende die Reichen unverhältnismäßig viel reicher geworden sind.

Für sehr viele Menschen aber hat die Globalisierung doch eine Tür zu einem besseren Leben aufgestoßen und nicht wenigen gar den Aufstieg in die Mittelschicht ermöglicht.

Dieser Aufstieg ist gefährdet, wenn nun gerade die reicheren Länder die Globalisierung zurückdrehen wollen. In den USA werden angesichts der gigantischen Arbeitslosigkeit „jobs at home“ im Mittelpunkt stehen. Sei es durch gezielte wirtschaftliche Förderung oder durch noch stärkere Abschottung der heimischen Märkte und Druck auf eine Re-Lokalisierung bislang im Ausland gelegener Produktion – die De-Globalisierung wird konkret. Die demokratische Partei der USA ist in dieser Hinsicht traditionell weit protektionistischer als die Republikaner.

Auch in Europa wird man auf Zulieferungen nur aus dem Inland setzen, auf mehr Lagerhaltung, auf Digitalisierung statt Auslagerung in andere Länder. All das verspricht nach der Pandemie-Erfahrung mehr Sicherheit. Der Preis dafür aber sind geringere Effizienz und geringere Erlöse – vor allem für die ärmeren Staaten der Welt. Die Schwellen- und Entwicklungsländer werden am härtesten getroffen, wenn die globalen Wertschöpfungsketten wieder kürzer und nationaler werden. Die Welt wird vor allem dort ärmer, wo sie ohnehin schon viel zu arm ist.

Das ist nicht nur ein ökonomisches Problem und ein menschliches Drama, sondern auch eine politische Gefahr. Denn wenig mobilisiert gesellschaftliche Wut und Gewalt so sehr wie die Gefahr des Verlusts eines sozialen Status, den man sich kurz zuvor erst erarbeitet hat. Das ist nicht nur eine deutsche Lehre aus der Weimarer Republik, sondern eine ganz konkrete und aktuelle Gefahr, vor allem in den jüngeren und oft noch instabilen Demokratien in den ärmeren Regionen der...

Erscheint lt. Verlag 15.7.2021
Verlagsort Baden-Baden
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Allgemeines / Lexika
Schlagworte Corona • Corona-Krise • Democracy • Demokratie • economy • Föderalismuskritik • formation of opinion • Gesundheit • Health • Krise • Meinungsbildung • Ökonomie • Pandemie • Participation • Partizipation • Politik • Wirtschaft
ISBN-10 3-8288-7676-5 / 3828876765
ISBN-13 978-3-8288-7676-7 / 9783828876767
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