Aus dem Windschatten (eBook)
224 Seiten
Riva Verlag
9783745315691 (ISBN)
André Greipel, geboren 1982 in Rostock, ist ein deutscher Radprofi. Er zählt zu den besten Straßensprintern seiner Generation. In den vergangenen 17 Jahren feierte er 158 Siege, darunter 11 Etappensiege bei der Tour de France. Zweimal (2015 und 2016) gewann er die prestigeträchtige Zielankunft auf den Champs-Élysées. Während der Tour de France 2021 gab er bekannt, seine erfolgreiche Karriere zum Ende des Jahres zu beenden. Greipel lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Hürth. Tim Farin, geboren 1976 in Troisdorf, schreibt seit 2005 als freier Journalist über den Radsport. Für das Magazin TOUR liefert er Interviews und Reportagen aus Profisport und von Hobbyrennen. Der Absolvent der Deutschen Journalistenschule ist selbst aktiver Rennradfahrer und veröffentlichte bereits zwei Bücher über diesen faszinierenden Sport. Tim Farin lebt mit Frau und zwei Töchtern in Köln.
André Greipel, geboren 1982 in Rostock, ist ein deutscher Radprofi. Er zählt zu den besten Straßensprintern seiner Generation. In den vergangenen 17 Jahren feierte er 158 Siege, darunter 11 Etappensiege bei der Tour de France. Zweimal (2015 und 2016) gewann er die prestigeträchtige Zielankunft auf den Champs-Élysées. Während der Tour de France 2021 gab er bekannt, seine erfolgreiche Karriere zum Ende des Jahres zu beenden. Greipel lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Hürth. Tim Farin, geboren 1976 in Troisdorf, schreibt seit 2005 als freier Journalist über den Radsport. Für das Magazin TOUR liefert er Interviews und Reportagen aus Profisport und von Hobbyrennen. Der Absolvent der Deutschen Journalistenschule ist selbst aktiver Rennradfahrer und veröffentlichte bereits zwei Bücher über diesen faszinierenden Sport. Tim Farin lebt mit Frau und zwei Töchtern in Köln.
Prolog
Es geht auf die letzten paar hundert Meter. Die Menschen schreien, sie trommeln mit ihren offenen Händen auf die Werbebanden, sie klatschen, sie jubeln, sie lassen riesige, aufgeblasene Plastikhände gegeneinander knallen. Es ist ein Heidenlärm und dazu vor mir dieser unvergleichliche Sog in jene Richtung, aus der der Sprecher in sein Mikro brüllt und die Kameras schon auf uns gerichtet sind, ein Pulk von Männern und Frauen mit ihren dicht an dicht gedrängten Kameras, die genau auf uns zielen, wie wir auf sie zuknallen. Es geht geradeaus, vorne sehe ich den gelben Aufbau über der Straße, der über die Linie ragt, jene Linie, die für mich Alles oder Nichts bedeutet, Sein oder Nichtsein.
Seit einigen Kilometern sind meine Kollegen und ich in Position. Wie an einer Perlenschnur haben wir uns hintereinander aufgereiht, weil wir nichts dem Zufall überlassen wollen. Wir vertrauen einander, wir kennen uns seit Jahren, wir wissen um jede Stimmungsschwankung und jede Finte, die irgendeiner von uns in irgendeinem beliebigen Moment des Chaos plötzlich zu erkennen gibt. »Jop, jop, jop!« Das rufe ich, mehr nicht. Aber laut. Es ist wie die Sprache von Tieren. Mein Vordermann weiß, dass ich da bin. Mehr ist nicht nötig. Manche machen Platz, wenn sie das hören. Ich bin der Mann, für die die Jungs vor mir alles geben.
Adam Hansen tritt rein so fest wie er kann, etwa drei Kilometer vor dem Ziel. Hinter uns scheppert es – das unverkennbare Rappeln, Quietschen und Knallen, wenn es zu einem Massensturz kommt. Ich weiß, was das bedeutet: Es tut richtig weh und zwar nicht nur einem, sondern einer ganzen Reihe von Wettbewerbern, die im Chaos der Zielanfahrt die Kontrolle über ihre Räder verloren haben. Aber von uns nimmt keiner raus, keiner schaut zurück, wir lassen uns reinziehen in den Tunnel. Denn links und rechts sind die anderen, die heute Großes vorhaben, genau wie ich.
Adam gibt alles. Er ist vier Positionen vor mir, dahinter meine drei Kollegen Marcel »Sibi« Sieberg, Jurgen Roelandts und Greg Henderson, allesamt in unseren Farben. Sibi, der Denker, strahlt auch bei diesem rasenden Tempo, das wir inzwischen erreicht haben, eine unheimliche Ruhe aus. Es ist erstaunlich, wie sehr das Vertrauen mir Sicherheit geben kann, obwohl ich von außen betrachtet Teil einer gewaltigen Schlacht bin. Wir sind nun bei über 60 Stundenkilometern, Tendenz steigend.
Sibi übernimmt. Er geht aus dem Sattel, er tritt seine Maschine mit allem, was er hat. Wir kennen jede seiner Bewegungen in- und auswendig und ich weiß: Wenn er jetzt noch einmal eine Schippe drauflegt, dann wird es für die anderen um ihn herum wirklich schwierig. Da kommen nicht mehr viele mit. Es fühlt sich bequem an, hier zu sein, am Hinterrad meines Vordermanns, der sich im Windschatten von Sibi festgebissen hat, im rasenden Zug auf dem Weg ins Etappenziel. Wir haben diese Abläufe zigfach geübt, sie sind im Unbewussten verankert. Sibi fährt am Anschlag. Ich habe schon geschaltet, das letzte Mal für heute. Die Kette liegt vorn auf dem dicksten Blatt, hinten auf dem kleinsten Ritzel; ich bin auch am Limit, das Elferritzel nimmt die Kraft aus meiner Kette auf, ich bereite mich auf die letzte Explosion vor, die mein Körper noch hergeben kann.
Aber ich bin zugleich ganz ruhig. Ich kontrolliere nochmal, wie der Wind genau steht, das habe ich natürlich den ganzen Tag über getan, aber ich fühle das, was vor uns liegt. Wie neigt sich die Straße, wie genau ist der Asphalt beschaffen, welcher Weg in diesem Tumult bietet die beste Chance auf den ersten Platz im Ziel? Ich verarbeite diese Informationen, gleiche sie ab mit all dem, was ich in meiner Karriere schon erlebt und gelernt habe, vor allem aus Fehlern. Ich erinnere mich an jeden einzelnen Sprint, ich habe die Erfahrung, ich berechne und bereite vor, was von außen wie eine spontane Aktion wirkt. In Wahrheit ist es ein akribischer, lange einstudierte Ablauf, der Spontanität mit Studium zusammenbringt. Wenn alles klappt, wird es für mich reichen. Aber ich muss alles dafür geben, jedes Mal. In meinem Metier gibt es keinen sicheren Sieg.
Jop, jop, jop. Ich weiß, dass die Widersacher lauern, vielleicht habe ich einen wie Mark Cavendish am Hinterrad, vielleicht ist Peter Sagan da, Alessandro Petacchi. Aber wenn der Sprint perfekt ist, muss ich ihre Bewegungen nicht lesen. Dann läuft es so, wie wir es als Mannschaft wollen. Denn mein Sport, meine Kunst, das ist eine Veredelung der Zusammenarbeit. Radsport ist Teamsport, und wie sich die Kraft im Zielsprint entlädt, ist das Ergebnis mannschaftlicher Stärke. Wenn wir dominieren, finden wir unseren Platz im Feld und gewinnen unser Spiel, indem wir unsere Linie wählen und bis zum Ziel den Raum auf der Straße kontrollieren.
Jop, jop! Sibi ist raus, zwei Mann sind noch vor mir, es sind nur noch wenige hundert Meter. Ich mache mich klein, obwohl ich einen bulligen Körper habe, ich versuche jedes Quäntchen Windschatten zu nutzen, das mir Jurgen und Greg noch bieten. Jetzt ist es Instinkt. Die Zuschauer mögen schreien, der Hubschrauber über uns kreisen, Sirenen ertönen, der Höllenlärm dieser Tour über uns hereinbrechen, aber all das ist jetzt weg. Auch das Surren und Rattern der Ketten und Ritzel, der Windzug, die Rotation, das Schreien im Fahrerfeld – alles wie weggespült. Ich bin wirklich in einem Zustand, der so oft als Tunnel bezeichnet wird. Es ist ein anderer Raum, man macht sich unabhängig von all dem, was drumherum passiert.
Jop! Nun geht Jurgen raus, jetzt ist nur noch Greg vor mir. Mein letzter Mann. Es sind jetzt nur noch Sekunden. Ich bin wie ein Scharfschütze. Es gibt nichts mehr auf der Welt außer mir und meinem Ziel und der besten Bahn dorthin. Ich bin total fokussiert. Der Puls ist auf mehr als 170, alles, was mein System stören könnte, blende ich aus. Auch das habe ich seit vielen Jahren gelernt. Manchmal, wenn ich abends nachdenke, wie das alles so war, ist das schon erstaunlich: So genau ich mich an den Sprint selbst, an den Verlauf der letzten paar hundert Meter erinnere, so vollständig gelöscht ist all das, was um mich herum war. Wie es aussah im Zielort, was am Straßenrand passierte, wer alles die Bühne Radrennen für Aufmerksamkeit nutzen wollte – all das ist weg.
Zweihundert Meter oder weniger. Etwa 1800 Watt, weit mehr als 70 Stundenkilometer. Ich beiße die Zähne zusammen, meine Hände krallen sich an den Unterlenker, die Beine drücken so viel Kraft in die Kurbel, dass das Fahrrad fast zerbricht, so sieht es aus und so fühlt es sich an und tatsächlich reize ich die Grenzen des Materials aus, meine sowieso. Es sind Sekunden. Dann bin ich da. Erlösung, im Ziel, ich reiße die Arme nach oben. Ich weiß sofort, ob ich am Strich ganz vorne war oder ob da noch einer vorbeigehuscht ist, irgendwo neben mir, vielleicht nur mit einer Speichenlänge. Aber das hier ist der perfekte Sprint, wie ich ihn erlebt und erträumt habe. Ich ballere durchs Ziel, vorbei an den Fotografen, in den Tumult hinterm Ziel, ich bin entladen, befreit. Der Druck, der seit Minuten, Tagen, Wochen, vielleicht sogar einer ganzen Saison auf mir gelastet hat, der Druck, der mein Leben ist, hat sich aufgelöst. Für einen kurzen Augenblick ist er weg. Ich rolle zu Raoul, meinem Betreuer, der immer ist, wo er sein soll, und falle ihm in den Arm. Ich finde einen kurzen Moment Halt, bevor das Nachspiel beginnt und die Vorbereitung auf die Fahrt ins nächste Ziel.
***
Die Welt kennt mich wegen dieser Bilder. Ich bin der Mann für die letzten Meter. Ich bin der Sprinter, der Sieganwärter auf der Zielgeraden. Man misst mich an Siegen, das habe ich vor langer Zeit verstanden. Kommt André Greipel nicht mehr als Erster ins Ziel, gibt es Spekulationen, Gespräche, einen Druck von außen, den man schwer loswird, außer durch den Sieg. So ist das eben.
Ich bin der Mann für die letzten Meter, für den finalen Sprint. Aber der Weg, der mich dorthin geführt hat, war weit und beschwerlich. Bei jemandem wie mir redet man nicht so viel über die Arbeit und die Umwege, die nötig sind, um in die Position zu kommen und um die Siege mitzukämpfen. Seit mittlerweile 17 Jahren bin ich Profi. Seit viel mehr Jahren, also eigentlich mein ganzes Leben, habe ich diesen Sport betrieben, diese Momente gesucht, diese Leistung gebracht und mit ganzem Herzen das Rennradfahren vom Hobby zum Beruf gemacht.
Man misst mich an Siegen. Aber ich selbst bin nicht so sehr stolz auf diese Erfolge, von denen ich wirklich viele feiern konnte, sondern immer noch wesentlich mehr auf die Art, wie gute Ergebnisse zustande kamen. Ich habe immer ein Umfeld gebraucht, in dem ich mich geborgen fühlte, in dem ich langsam mit den Kollegen zusammenwuchs und wir einander vertrauten. Ich war nie jemand, der große Töne spuckte, aber überzeugt von mir war ich schon. Anders als manch anderer brauchte ich aber vielleicht manchmal etwas länger, um mein Talent voll zu entfalten. Das hat auch damit zu tun, dass mir häufiger Steine in den Weg gelegt oder Entscheidungen getroffen wurden, die ich nicht verstehen wollte – und über die ich mich bis heute wundere.
Ich bin meinen Weg gegangen – gemeinsam mit den Menschen, die mir unendlich...
| Erscheint lt. Verlag | 10.10.2021 |
|---|---|
| Co-Autor | Tim Farin |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Athlet • Autobiografien • bahnrad • Becoming Ironman • BMX • Cylocross • Das Gespür für den Augenblick • Deutscher Meister • Eine Frage der Leidenschaft • Etappe • Etappensieg • Gelbes Trickot • Giro d'Italia 2021 • Gorilla • Grand Tour • Grünes Trickot • Karriereende • Leistungssport • marcel kittel • Meine Welt • Mountainbike • patrick lange • Peter Sagan • Radmarathon • Radprofi • Radsport News • Rennrad • Rennrad Geschenk • Sportler des Jahres • Sprinter • Straßensprinter • Straßenweltmeisterschaft • tour de france etappen • Tour de France Gelbes Trikot • Tour de France Grünes Trikot • Triathlon • UCI • UCI Road World Championships • UCI World Tour • Union Cycliste Internationale • Velosport • Weltmeister • Zeitfahren |
| ISBN-13 | 9783745315691 / 9783745315691 |
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