Mensch, Amerika! (eBook)
304 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60016-3 (ISBN)
Dr. Jan Philipp Burgard, Jahrgang 1985, studierte Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Öffentliches Recht in Bonn und Paris. Von 2017 bis 2021 berichtete er als ARD-Korrespondent aus den USA. Seit 2021 ist Burgard Chefredakteur des Nachrichtensenders WELT. Für seine journalistische Arbeit wurde er mit dem Los Angeles Independent Film Festival Award und dem RIAS Medienpreis ausgezeichnet..
Jan Philipp Burgard, Jahrgang 1985, ist Journalist. Er studierte Politik, Neuere Geschichte und Öffentliches Recht in Bonn und Paris. Nach verschiedenen Stationen, u. a. bei den ARD-Tagesthemen, war er von 2017 bis 2021 USA-Korrespondent für die ARD
Prolog
Amerika. Macht. Angst.
Wie im Wahn tanzen die Flammen auf dem Skelett einer Lagerhalle. Meterhoch klettern sie in den wolkenlosen Nachthimmel über Minneapolis, als wüssten sie, dass niemand sie einfangen kann. Schnell und gierig erobert das Feuer ein Gebäude nach dem anderen. Andächtig betrachtet ein schlaksiger junger Mann sein Werk, wie der Maler Botticelli seine Interpretation von Dantes Inferno. Der Brandstifter zieht seelenruhig sein Handy aus der Tasche, wählt den passenden Bildausschnitt und lädt sein Foto in den sozialen Netzwerken hoch. Amerika und der Rest der Welt sollen seine unbändige Wut sehen, die der gewaltsame Tod von George Floyd aus ihm herausbrechen lässt. Noch nie hat er sich gehört gefühlt. Das ändert sich heute.
Das Knistern des Feuers wird von einem heiseren Schrei durchbrochen: »Die Cops rücken vor!« Gummigeschosse und Tränengas kündigen die Ankunft der Einsatzkräfte an. Hunderte vermummte Gestalten rennen davon. Eine junge Frau wird getroffen. Der Lichtschein eines brennenden Hauses gibt den Blick auf ihren Hinterkopf frei. Blut bahnt sich den Weg über ihr pechschwarzes Haar. Ein Teenager läuft an mir vorbei, in der Hand trägt er eine Axt. Plötzlich holt er aus und beginnt, die Fensterscheiben von Geschäften einzuschlagen. Seine Freunde tragen kistenweise Waren heraus. Mich überrascht, dass Polizei und Nationalgarde bei diesen Plünderungen und Brandstiftungen lange scheinbar tatenlos zusehen. Man will wohl unbedingt vermeiden, dass es bei Zusammenstößen zwischen Einsatzkräften und Demonstranten Tote gibt. Dennoch setzt man auf Präsenz. Allein hier in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota werden 13 000 Soldaten der Nationalgarde mobilisiert. Es ist der bis dahin größte Einsatz in der Geschichte der Reservistenarmee.
Plötzlich geraten mein Kamerateam und ich zwischen die »Frontlinien« von Einsatzkräften und Demonstranten. Wir geben uns als Presse zu erkennen und bitten die Polizei, uns einen Ausweg zu ermöglichen. Doch ein offensichtlich überforderter oder genervter Beamter brüllt uns nur barsch entgegen: »Verpisst euch!« Wir entkommen der Situation, indem wir den Demonstranten entgegenlaufen, und haben Glück, nicht von Steinen getroffen zu werden. Im Laufe der Nacht setzt die Polizei verstärkt Tränengas und Gummigeschosse ein. Doch auch davon lassen sich viele Demonstranten nicht abschrecken. Immer wieder gehen um uns herum Gebäude in Flammen auf.
»Diese Gewalt ist eine direkte Reaktion auf die Polizeigewalt. Wir reagieren mit Gewalt, weil wir es nur so kennen«, sagt mir Sarina Samentelli. Die junge Frau ist trotz einer Ausgangssperre mit einer Gruppe von Freunden auf der Straße. »Black Lives Matter!«, brüllt sie in ein Megafon. Ihre Stimme überschlägt sich. Immer wieder höre ich von den schwarzen Demonstranten, dass sie sich in vielen Lebensbereichen schon lange und systematisch diskriminiert fühlen. Viele halten Gewalt für das einzige Mittel, um sich endlich Gehör zu verschaffen. »Das hier ist Gerechtigkeit, auch wenn andere Leute die Proteste als rücksichtslos oder barbarisch betrachten«, sagt mir James Miller. Er trägt eine Skibrille, um seine Augen vor dem Tränengas der Polizei zu schützen.
Die Gewalt, die James als »gerecht« empfindet, trifft allerdings andere Minderheiten und viele Unbeteiligte. Isa Pérez steht vor den Trümmern ihrer Existenz. Obwohl die aus Mexiko stammende Kleinunternehmerin die Schaufensterscheibe ihres Tattoostudios verbarrikadiert hatte, konnten die Aufständischen einbrechen. Sie rissen die Bretter weg und schlugen die Scheibe ein, überall liegen Scherben. All ihre teuren Geräte und wertvoller Körperschmuck wurden gestohlen. Eine Versicherung hat Isa nicht. Die hatte sie kürzlich erst gekündigt, um während der Corona-Krise Geld zu sparen. In der Eskalation der Proteste sieht sie ein Versagen des Staates. »Hierher kommt keine Polizei. Sie haben Angst, in diese Gegend zu kommen«, sagt sie und ist den Tränen nah. Isa versteht die Welt und ihre Stadt nicht mehr. »Ich hatte dieses Geschäft seit sechzehn Jahren und hatte nie Probleme mit irgendjemandem. Ich bin so unglaublich traurig.«
Einige Straßenblocks weiter löscht die Feuerwehr eine Tankstelle, die von Demonstranten in Brand gesetzt wurde. Soldaten der Nationalgarde sichern die Gefahrenstelle. Es herrscht Explosionsgefahr. Amerika macht mir Angst. Das spüre ich zum ersten Mal in dieser Nacht in Minneapolis. Denn die Bilder, die wir hier Ende Mai 2020 drehen, lassen mich unweigerlich an einen Bürgerkrieg denken. Wie unter einem Brennglas sehe ich, in welch schwerer Krise Amerika sich befindet. Hier entlädt sich mehr als nur die Wut über den Tod von George Floyd. Bei dessen Verhaftung hatte sich ein Polizist 9 Minuten und 29 Sekunden lang auf seinen Nacken gekniet. »Ich kann nicht atmen«, hatte Floyd immer wieder gesagt. So zeigt es das Video, das ein Passant mit dem Handy aufgenommen hat. Irgendwann ruft Floyd, ein Baum von einem Mann, verzweifelt nach seiner Mutter. Dann verliert er das Bewusstsein. Die Beamten hatten ihn wegen des Verdachts festgenommen, mit einem falschen 20-Dollar-Schein bezahlt zu haben.
Knapp ein Jahr später wird ein Gericht den weißen Polizisten Derek Chauvin des Mordes ohne Vorsatz für schuldig befinden und ihn zu einer Haftstrafe verurteilen. Ein Urteil mit Seltenheitswert. Denn in der Vergangenheit entgingen viele Polizeibeamte nach Fehlverhalten der Strafverfolgung, weil interne Untersuchungen ausblieben. Nach dem Tod von George Floyd ist die Debatte über eine Polizeireform neu entbrannt. »Es war ein Mord am helllichten Tag. Und er hat die Scheuklappen weggerissen, sodass die ganze Welt den systemischen Rassismus sehen konnte, der die Seele unserer Nation befleckt. Das Knie auf dem Hals der Gerechtigkeit für schwarze Amerikaner, die tiefe Angst und das Trauma, den Schmerz und die Erschöpfung, die schwarze Amerikaner jeden einzelnen Tag erleben.« Mit diesen Worten kommentiert Präsident Joe Biden das Urteil gegen Chauvin. »Der Mord an George Floyd hat einen Sommer des Protests ausgelöst, wie wir ihn seit der Ära der Bürgerrechte in den 1960er-Jahren nicht mehr gesehen haben – Proteste, die Menschen aller Rassen und Generationen in Frieden und mit dem Ziel vereinten, zu sagen: ›Genug. Genug. Genug der sinnlosen Morde.‹« Tatsächlich ist der Tod von Georg Floyd kein Einzelfall, sondern eines von vielen Beispielen für strukturelle Polizeigewalt gegen Schwarze. Afroamerikaner werden laut Erhebungen der vergangenen fünf Jahre doppelt so häufig von Polizisten getötet wie Weiße.
Doch Bidens Vorgänger Donald Trump hatte nach den Ereignissen von Minneapolis mit seiner Rhetorik sogar noch Öl ins Feuer gegossen, etwa mit seiner Aussage: »Wenn das Plündern beginnt, wird geschossen.« Diese Formulierung (»When the looting starts, the shooting starts«) stammt von dem weißen Polizeichef von Miami und löste 1967 eine Kontroverse aus. Außerdem drohte Trump damit, das Militär gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen, und sagte wörtlich, er werde mit »bösartigen Hunden« und »unheilbringenden Waffen« gegen Demonstranten vorgehen, wenn sie den Zaun des Weißen Hauses überwinden würden. Trumps Angst war nicht unbegründet. Die Proteste nach dem Tod von George Floyd breiteten sich von Minneapolis in viele Großstädte aus – auch nach Washington. Die Straßen rund um das Weiße Haus wurden mit Straßensperren abgeriegelt und von Panzerwagen überwacht, die Fenster von Bürogebäuden, Hotels und Restaurants in der Innenstadt verbarrikadiert. In unserer Nachbarschaft wurden ein Weingeschäft und eine Apotheke geplündert. Nachts kreiste ein Militärhubschrauber des Typs Blackhawk über den Dächern, so laut, dass die Kinder kaum schlafen konnten. Besonders bedauerlich aber war, dass die eskalierende Gewalt von den vielen friedlichen Protesten ablenkte, die nach dem Tod von George Floyd auf Rassismus und Polizeigewalt aufmerksam machen wollten.
Trump hatte gar nicht erst versucht, die Gesellschaft zu einen. Wie wohl kein Präsident vor ihm setzte er nicht auf Versöhnung, sondern auf Spaltung. Nicht nur bei mir persönlich, sondern bei vielen Deutschen lösten die Entwicklungen in den USA Angst aus. Forscher befragten 2400 Männer und Frauen ab vierzehn Jahren nach ihren größten politischen, wirtschaftlichen, persönlichen und ökologischen Ängsten. Das Ergebnis der Umfrage: Die größte Angst von mehr als zwei Dritteln der Bundesbürger war, dass Trump die Welt gefährlicher machte. Damit fürchtete die deutsche Bevölkerung Trump mehr als den Zuzug von Flüchtlingen, Terrorismus oder Naturkatastrophen.
Die Umfrage fand 2020 statt, vor der Wahl, doch trotz seiner Abwahl sind die Geister, die Trump rief, längst nicht verschwunden. Von seinem politischen Exil, dem Golfclub Mar-a-Lago, in Florida aus schürt er weiterhin die Ängste vieler Amerikaner vor schwarzen Demonstranten, Einwanderern aus Mexiko, Atombomben aus Nordkorea und Iran, Viren aus China und sogar Autos aus Deutschland. Trump macht seinen Unterstützern systematisch Angst vor dem Verlust von amerikanischen Arbeitsplätzen und nationaler Identität – um möglicherweise im Wahlkampf 2024 als Heilsbringer zu erscheinen. Mit dieser Strategie hatte er schließlich bei seinem ersten Anlauf auf das Weiße Haus schon einmal Erfolg: 70 Prozent der weißen Trump-Fans sagten, die Sorge um die amerikanische Identität sei 2016 der wichtigste Faktor für ihre Wahlentscheidung gewesen. Trump setzt auf die Macht der Angst, das hat er sogar freimütig eingeräumt. »Echte Macht ist, und ich will das Wort fast nicht gebrauchen: Angst.« Bei seinen Anhängern schürt er also weiter die Ängste vor Chaos und Anarchie, um sich selbst als »Law and Order«-Politiker inszenieren zu können, als...
| Erscheint lt. Verlag | 30.9.2021 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Amerika • amerikanische Politik • Amerikanischer Präsident • Amtsenthebung • Impeachment • Joe Biden • Kamala Harris • Präsidenschaftswahl • SPIEGEL-Bestseller • Trump • Weißes Haus |
| ISBN-10 | 3-492-60016-6 / 3492600166 |
| ISBN-13 | 978-3-492-60016-3 / 9783492600163 |
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