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Radikaler Universalismus (eBook)

Jenseits von Identität | Ausgezeichnet mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2024

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
176 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2608-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Radikaler Universalismus -  Omri Boehm
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Ist der Universalismus heute noch zu retten? Ja, aber wir müssen zurück zu seinem Ursprung: Erst wenn wir den humanistischen Appell der biblischen Propheten und Immanuel Kants wirklich verstehen, können wir Ungerechtigkeit kompromisslos bekämpfen - im Namen des radikalen Universalismus, nicht in dem der Identität.  Mit 'Radikaler Universalismus' liefert Omri Boehm mehr als eine Neuinterpretation, er revolutioniert unser grundlegendes Verständnis von dem, was Universalismus eigentlich ist. Dabei beruft er sich auf Kant und seine oft missverstandene Wiederbelebung des ethischen Monotheismus der jüdischen Propheten. Ein kühner Entwurf, der in seiner Furchtlosigkeit einen Ausweg aus der festgefahrenen Identitätsdebatte eröffnet. 

Omri Boehm, geboren 1979, ist Associate Professor für Philosophie und Chair of the Philosophy Department an der New School for Social Research in New York. Er ist israelischer und deutscher Staatsbürger, hat u.a. in München und Berlin geforscht. Sein Buch Kant's Critique of Spinoza erschien 2014 bei Oxford University Press. Er schreibt unter anderem über Israel, Politik und Philosophie in Haaretz, Die Zeit und The New York Times. Bei Propyläen erschien seine von der Kritik hochgelobten Bücher Israel - eine Utopie und Radikaler Universalismus. 

Omri Boehm, geboren 1979 in Haifa, studierte in Tel Aviv und diente beim israelischen Geheimdienst Shin Bet. In Yale promovierte er über "Kants Kritik an Spinoza", heute lehrt er als Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Er ist israelischer und deutscher Staatsbürger, hat u.a. in München und Berlin geforscht und schreibt über israelische Politik in Haaretz, Die Zeit und The New York Times.

PROLOG: VOM URSPRUNG

1959 erhielt W. E. B. Du Bois eine Einladung in den Kreml, in welcher ihm mitgeteilt wurde, dass er den Internationalen Lenin-Friedenspreis – eine Art kommunistischen Nobelpreis – erhalten werde. Ein sowjetisches Komitee würdigte den herausragenden afroamerikanischen Gelehrten und Autor von Black Reconstruction in America1 »für die Festigung des Friedens zwischen den Völkern«, um damit ein Zeichen zu setzen. In einer Welt, in der der Kalte Krieg in vollem Gange war und die Bürgerrechtsbewegung an Fahrt aufnahm, präsentierte sich Sowjetrussland dort als überlegen, wo die liberale Demokratie der USA versagt hatte: bei der Herstellung von Rassengerechtigkeit. Obwohl also zweifellos eine politische Absicht hinter der Entscheidung des Preisgerichts stand, wäre es dennoch irrig, sie als bloße Propaganda abzutun. Im Amerika der Jim-Crow-Gesetze wäre Du Bois vom Weißen Haus kaum eine vergleichbare Ehre erwiesen worden. Im Jahr davor hatte er bereits die Ehrendoktorwürde in Wirtschaftswissenschaften von der Humboldt-Universität in Ost-Berlin erhalten, an der er um die Jahrhundertwende eine kurze, aber prägende Zeit verbracht und Seminare bei Persönlichkeiten wie Max Webers Habilitationsvater August Meitzen und Wilhelm Dilthey besucht hatte. Als der Lenin-Preis dann 1960 in der sowjetischen Botschaft in Washington überreicht wurde – Du Bois hatte sich ausgebeten, dass die Zeremonie in Amerika stattfand –, beschloss der Mann, der sein Leben einmal als »Autobiografie des Rassenbegriffs«2 beschrieben hatte, seine Dankesrede mit einer Erklärung, die ausgerechnet aus seinem Mund doch überraschend klang: »Ich halte immer noch an dem Traum von dem Amerika fest, in das ich hineingeboren wurde.«3

Vier Jahre später, im September 1964, sollte Martin Luther King Jr. auf Einladung des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt für einen historischen Besuch nach West-Berlin reisen. Der offizielle Grund war eine Gedenkveranstaltung für John F. Kennedy, der im Jahr zuvor eine berühmte Rede in der eingemauerten Stadthälfte gehalten hatte und nur wenige Monate später einem Attentat zum Opfer gefallen war. Den ermordeten Präsidenten der westlichen, vom Bezwinger zum Beschützer gewandelten Supermacht durch eine Einladung der schwarzen und noch immer hoch umstrittenen Ikone der Bürgerrechtsbewegung zu ehren, war eine bemerkenswerte Entscheidung Brandts. Noch im Vorjahr hatte King in einer Zelle im Gefängnis von Birmingham, Alabama, gesessen, weil er entgegen eines gerichtlichen Verbots friedliche Proteste in der Stadt organisiert hatte. Die Veröffentlichung seines »Briefs aus dem Gefängnis in Birmingham« fällt fast auf den Tag genau mit Kennedys »Ich bin ein Berliner« zusammen. Auch die Bundesrepublik verstand sich offenbar darauf, ein Zeichen in Sachen westliche Werte und Rassengerechtigkeit zu setzen. Bei seinem Aufenthalt wollte es sich King nicht nehmen lassen, auf die andere Seite der Mauer zu fahren und den Osten zu besuchen, obwohl seine Gastgeber dagegen waren; so versuchte denn auch die amerikanische Botschaft, seinen Grenzübertritt zu verhindern, indem sie Kings Reisepass einzog. Er setzte sich aber durch und hielt schließlich eine kurze Predigt in der Marienkirche, nachdem er sich an der Grenze mit seiner American Express-Karte ausgewiesen hatte. Ein Präsident der American Academy in Berlin sollte dies viele Jahre später als ein Indiz dafür werten, dass der Kapitalismus am Ende doch »funktionieren kann«.4

Diese Schachzüge westlicher und östlicher Politiker im Kalten Krieg sind längst Geschichte. Heute toben hitzige Debatten um Identität, Diskriminierung und gesellschaftliche Macht. Seit Februar 2022 ist der Krieg zurück in Europa, und es könnte verlockend erscheinen, dass diese Debatten plötzlich von einem alt-neuen Konflikt an den Rand gedrängt werden. Nur haben Fragen der Rassen- und der sozialen Gerechtigkeit die westliche liberale Demokratie – mit den Vereinigten Staaten als ihrem befleckten Symbol – bei näherer Betrachtung immer schon vor dem Hintergrund von Herausforderungen heimgesucht, mit denen sie von außen konfrontiert wurden. Gewiss, im Unterschied zur Sowjetunion fordert Wladimir Putin den Westen nicht mit einer umfassenden Ideologie heraus. Doch geriert er sich seit vielen Jahren im Hinblick auf Homosexuellenrechte, den »Angriff« auf christliche Familienwerte und die ethnische »Bedrohung« durch eine einwanderungsfreundliche Haltung als Alternative zum westlichen Liberalismus. Das ist einer der Gründe, warum sich nicht nur ein ehemaliger US-Präsident, sondern weite Teile der Republikanischen Partei für Putin begeistern. Im Übrigen dürfte eines klar sein: Wenn Putin überhaupt eine Ideologie hat, dann eine nihilistische, eine Art Wille zur Macht, und die Frage lautet, inwieweit der Westen aufrichtig für ein alternatives Ideal steht. Die Kraft der Werte, für die wir außenpolitisch kämpfen, bemisst sich an der Integrität, mit der wir diese Grundsätze im Innern vertreten.

Doch die liberale Demokratie steckt bereits seit Jahren in der Krise. Die einschlägigen intellektuellen Angriffe auf ihre geistigen und moralischen Grundlagen – Aufklärung, Universalismus, Vernunft – verfangen jenseits hochtrabender intellektueller Debatten und abgehobener Philosophie-Fachbereiche zunehmend auch in politischen Kreisen. Was in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Provokation aus Paris mit unüberhörbaren Anleihen aus dem Schwarzwald der zwanziger und dreißiger Jahre begann, beeinflusst heutzutage die Politik weit über die amerikanischen »Culture Studies« der achtziger Jahre hinaus. Die Form des Postmodernismus, die derzeit in Gestalt der Critical Race Theory und der postkolonialen oder dekolonialen Theorie nach Europa reimportiert wird, nimmt die Träume eines Martin Luther King genauso wenig ernst wie den »Traum von dem Amerika«, in das Du Bois hineingeboren wurde. Solche Träume gelten Linken wie Rechten gleichermaßen als Illusionen, denn in einem Punkt immerhin sind sie sich einig: Das Problem mit dem universalistischen Projekt der Aufklärung besteht nicht darin, dass es gescheitert ist, sondern dass man es überhaupt versucht hat. Und so wetteifern beide politischen Lager darum, den Maßstab des abstrakten Universalismus durch eine konkrete Identität zu ersetzen: Wie die Rechte im Namen traditioneller Werte kämpft, so kämpft die Linke im Namen von Gender und Race. Der universelle Humanismus gilt keiner der beiden Seiten mehr als Grundlage, um ungerechte Gesetze und diskriminierende Machtstrukturen zu kritisieren und zu verändern. Er wird vielmehr als die Maske wahrgenommen, die es den Herrschenden ermöglicht, die Strukturen der Ausgrenzung und Ausbeutung aufrechtzuerhalten.

Autoren, die sich solidarisch mit schwarzen Afrikanerinnen, LGBTQ-Menschen, ethnischen Minderheiten und anderen diskriminierten Gruppen zeigen, weisen die Kritik an der »Identitätspolitik« oft damit zurück, dass sie sie als eine Form von »weißer Verletzlichkeit« oder heuchlerischer Übersensibilität der Privilegierten darstellen. Ein Kritiker möchte die zunehmende Rede von einer »illiberalen Linken« gleich als »Mär« abtun.5 Zwar könne man immer, so seine Argumentation, »ein paar saftige Anekdoten über die Exzesse linker Anti-Rassisten finden«, doch blieben diese ein »marginales Phänomen«. Die derzeitigen antiuniversalistischen Entwicklungen im progressiven Lager zielten nicht darauf, »Menschen in irgendwelche Identitätsgefängnisse zu sperren«, sondern vielmehr auf »die Einforderung von Grundrechten«.6

Doch gerade wenn es einem um Grundrechte zu tun ist, sollte man den wachsenden Widerstand gegen den Universalismus der Aufklärung und die damit verbundene Überzeugung, Kant sei der Vater des modernen Rassismus und sogar des Nationalsozialismus gewesen, ernster nehmen.7 Es geht nicht nur um ein paar saftige Anekdoten wie die Entlassung eines Kolumnisten des Guardian oder eines Chefredakteurs der New York Review of Books, weil sie Ansichten hegten, die dem allgemein Geläufigen nicht entsprachen. Während wir in eine Epoche eintreten, in der wir die westliche liberale Demokratie in Europa zu stärken und den Aufstieg rechtsextremer Politik und eines ethnischen Nationalismus zu bekämpfen haben, zudem mit globalen Katastrophen und Migrationswellen konfrontiert sind, macht es einen Unterschied, ob wir an der Idee des universellen Humanismus als einen Kompass, sogar als einer Waffe festhalten, oder ob wir eine Gesellschaft hervorbringen, in der diese Idee verspottet und verachtet wird.

Ich kann mir vorstellen, dass viele liberale Universalisten in der politischen Mitte an diesem Punkt zustimmend nicken. Das aber wäre voreilig. Seit vielen Jahren schon schrumpft das, was liberale Demokraten unter »Universalismus« verstehen, unablässig, sodass heute nur noch die leere Hülse des Begriffs geblieben ist. Das klarste Indiz für diese Leere besteht vielleicht im Verschwinden des Begriffs der Pflicht und der Vorherrschaft des Begriffs der Rechte. Wir alle sind mit dem Kanon der Menschenrechte vertraut, der sich am Ende des Kalten Krieges »als die internationale Moral des Endes der Geschichte« herausbildete und heute eine »ganze Bibliothek« von Literatur zu ihrer Begründung verlangt.8 Während eine gewaltige Fachliteratur zur Geschichte, Philosophie und Soziologie der Rechte vorliegt, wird die Frage, ob es auch immer noch...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2022
Übersetzer Michael Adrian
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abraham • Antisemitismus • Aufklärung • Bibel • Black lives matter • Dekolonialismus • Deutscher Sachbuchpreis 2023 • Gender • Gleichheit • Identität • Kant • Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2024 • Liberalismus • Nationalismus • Propheten • Race • Rassismus
ISBN-10 3-8437-2608-6 / 3843726086
ISBN-13 978-3-8437-2608-5 / 9783843726085
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