Postdemokratie revisited (eBook)
180 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
9783518766828 (ISBN)
Jetzt legt Crouch eine Bestandsaufnahme seiner Thesen vor: Wie gut haben verschiedene Demokratien die Corona-Pandemie bewältigt? Wie hat der Aufstieg des Rechtspopulismus demokratische Erosionsprozesse beeinflusst? Und welche Rolle spielen feministische Forderungen im Kampf gegen die Postdemokratie?
<p>Colin Crouch, geboren 1944, lehrte bis zu seiner Emeritierung Governance and Public Management an der Warwick Business School. Für sein Buch <em>Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus</em> erhielt Crouch 2012 den Preis »Das politische Buch« der Friedrich-Ebert-Stiftung.</p>
Vorwort
Die zentrale These meines 2003 erschienenen Buchs Postdemokratie lautete, dass sich die Demokratie in vielen Ländern des Westens auf einen Zustand zubewege, in dem sie nur noch ein Schatten ihrer selbst sei. Zwar würden ihre Institutionen und Verfahren nicht angetastet – Wahlkämpfe und Wahlen abgehalten, Regierungen nach wie vor auf friedlichem Wege abgelöst und auch politische Debatten geführt –, doch verliere die Demokratie zunehmend an Lebendigkeit und Verve, da Parteien und Regierungen kaum noch auf von Bürgern aus eigenem Antrieb vorgebrachte Anliegen reagierten, sondern lieber ihre eigenen Themen auf die Agenda setzten und die öffentliche Meinung manipulierten. Die Macht konzentriere sich mittlerweile in den Händen einer kleinen Elite, die dafür sorge, dass die Politik zunehmend den Interessen mächtiger Konzerne diene. Allerdings trage niemand, auch nicht die, die davon profitierten, die »Schuld« an dieser Entwicklung, da ihre beiden Hauptursachen sich dem Zugriff der Akteure weitgehend entzögen. Zum einen würden wichtige Wirtschaftsentscheidungen infolge der Globalisierung nunmehr auf Ebenen gefällt, die eine auf den Rahmen des Nationalstaats begrenzte Demokratie nicht mehr erreichen könne, so dass weite Bereiche der wirtschaftspolitischen Debatte gegenstandslos würden. Zum anderen habe die Klassen- oder Religionszugehörigkeit, der einst die Mehrzahl der Bürger ihre politische Identität verdankte, stark an Bedeutung verloren. Deshalb falle es uns auch immer schwerer, die Frage nach unserem politischen Standpunkt zu beantworten. Sofern wir aber diesen Standpunkt nicht bestimmen könnten, seien wir kaum in der Lage, uns aktiv in demokratische Prozesse einzubringen.
Beide Entwicklungen hatten meines Erachtens dazu geführt, dass sich Politik und Alltagsleben zunehmend voneinander entfremdeten. Politiker bedienten sich immer öfter artifizieller Formen der Kommunikation mit ihren Wählern und setzten verstärkt auf einseitige Interaktion per Werbung und Meinungsforschung. Die Wähler würden gleichsam zu Marionetten, die an den Fäden derer hingen, die die öffentliche Meinung manipulierten, ohne Möglichkeit, ihre eigenen Sorgen und Ansichten zu artikulieren. Damit erhöhe sich der Abstraktionsgrad der demokratischen Prozesse – was ein weiterer Schritt in Richtung Postdemokratie sei.
Ich habe damals nicht behauptet, dass wir bereits in einer Postdemokratie lebten – in den meisten etablierten Demokratien waren nach wie vor viele Bürger in der Lage, Forderungen zu äußern und sich den Manipulateuren entgegenzustellen –, doch befanden wir uns meiner Ansicht nach auf dem Weg dorthin.
In drei Punkten habe ich mich damals geirrt. Erstens habe ich mich zu sehr auf die von mir so genannten »Augenblicke der Demokratie« konzentriert, in denen es engagierten Bürgergruppen gelingt, die professionelle Politik zur Beschäftigung mit ihren Anliegen zu veranlassen, und dafür die Institutionen vernachlässigt, die die Demokratie jenseits dieser Momente schützen und bewahren. Zweitens habe ich den xenophoben Populismus – auch wenn ich ihn als eine der Bewegungen benannt habe, die eine Herausforderung für die Postdemokratie zu werden schienen – unterschätzt und nicht vorausgesehen, dass er nur in zweiter Linie eine Gegenbewegung zu postdemokratischen Tendenzen darstellt, in erster Linie aber zu deren Verschärfung führt. Drittens habe ich zwar festgestellt, dass es den mittleren und unteren Klassen in postindustriellen Gesellschaften nicht gelungen ist, eine eigene politische Agenda und Strategie zu entwickeln, und dass dem Feminismus eine wichtige Funktion bei der Bekämpfung postdemokratischer Zustände zukommt, habe dabei aber übersehen, dass manche Elemente des Feminismus eben jene eigene politische Agenda dieser Klassen darstellen.
Zwischen diesen drei Irrtümern besteht ein Zusammenhang. Zu Anfang des 21. Jahrhunderts konnte man wie selbstverständlich von der Vitalität der verfassungsmäßigen Ordnung ausgehen, die die Demokratie schützt – und zugleich die postdemokratischen Verhältnisse als demokratische erscheinen lässt. Inzwischen jedoch haben die in Europa, den USA und anderswo zu einiger Prominenz gelangten fremdenfeindlichen Bewegungen deutlich gemacht, dass sie die Unabhängigkeit von Institutionen wie Justiz, Rechtsstaat und Parlament keineswegs für unantastbar halten. Da diese Bewegungen hauptsächlich der politischen Rechten angehören, sind es jetzt eher die Parteien der Mitte und der Linken, die diese Institutionen verteidigen. Mit Blick auf die Vergangenheit mag verwundern, dass die Linke die Verfassung gegen eine Rechte in Schutz nimmt, die diese Rolle stets für sich beanspruchte; auch das ein Zeichen dafür, wie sehr sich die Politik verändert hat. Zudem vertreten xenophobe Bewegungen nicht nur die Angst vor und den Hass gegenüber Fremden, sondern auch einen von Pessimismus und Nostalgie getriebenen umfassenden Kulturkonservatismus, der die Entwicklungen etwa auf dem Gebiet der Emanzipation ablehnt. Infolgedessen werden Bewegungen, die zumindest teilweise feministische Ideen vertreten, auch über Emanzipationsfragen hinaus zu ihren Hauptgegnern. Ich hoffe, diese Fehleinschätzungen im Verlauf des vorliegenden Buches korrigieren zu können.
In anderer Hinsicht erscheint Postdemokratie heute weniger fehlerbehaftet als veraltet. Das Buch beginnt mit einer Darstellung der Selbstzufriedenheit der Demokraten, die zur Zeit der Niederschrift in vielen Teilen der Welt herrschte. Damals bestimmte noch immer Francis Fukuyamas Bestseller Das Ende der Geschichte (1992) das Denken, in dem der Autor die liberale kapitalistische Demokratie als Gipfel menschlicher institutioneller Errungenschaften pries. Erst viele Jahre später warnte Peter Mair in The Hollowing of Western Democracy (2013) vor einer »Aushöhlung« der westlichen Demokratie, bevor es 2018 zu einer regelrechten Flut entsprechender Veröffentlichungen kam: How Democracy Ends von David Runciman (dt. So endet die Demokratie, 2020), How Democracies Die von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt (dt. Wie Demokratien sterben, 2018), Robert Kuttners Can Democracy Survive Global Capitalism? (Kann die Demokratie den globalen Kapitalismus überleben?) und Nancy MacLeans Democracy in Chains (Demokratie in Ketten). Dem von der Economist Intelligence Unit der Wochenzeitung The Economist erstellten jährlichen »Demokratieindex« zufolge lebten 2006, als dieser Index erstmals erschien, rund 13 Prozent der Weltbevölkerung in »uneingeschränkt funktionierenden Demokratien«. 2017 waren es nur noch 4,5 Prozent (Economist Intelligence Unit 2006ff.).
Zudem schrieb ich das Buch vor der Finanzkrise 2008, die eines meiner zentralen Argumente belegte: dass infolge der Lobbytätigkeit globaler Konzerne eine deregulierte Wirtschaft entstanden war, die es sich leisten konnte, die Interessen aller anderen Gesellschaftsgruppen zu ignorieren. Allerdings hatte ich den ganz besonderen Platz, den der Finanzsektor innerhalb der kapitalistischen Interessenlage einnimmt, und die besonderen Herausforderungen, die sich daraus für die Demokratie ergeben, noch nicht ausreichend würdigen können.
Zwei Jahre später lieferte die Eurokrise eindrucksvolle Beispiele für eine Postdemokratie in Aktion, als man die Parlamente Griechenlands und Italiens vor die Wahl stellte, entweder vom Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank, der Europäischen Kommission und einem inoffiziellen Komitee führender Banken vorgegebene Ministerpräsidenten zu ernennen oder bei der Bewältigung der Krise auf sich allein gestellt zu bleiben. Die äußere Hülle eines demokratischen Vorgangs blieb gewahrt: Die neuen Ministerpräsidenten (beide ehemalige Angestellte von Goldman Sachs, einer der für die Krise verantwortlichen Banken) wurden nicht einfach eingesetzt, sondern mussten vom jeweiligen Parlament gewählt werden. Ein solches Vorgehen ist typisch für eine Postdemokratie. Allerdings darf man darüber nicht vergessen, dass auch die demokratische Glaubwürdigkeit der vorhergehenden Regierungen beider Länder nicht über alle Zweifel erhaben war.
Im Jahr 2020 brach mit der Corona-Pandemie eine weitere globale Krise herein. Millionen Menschen auf der ganzen Welt steckten sich mit dem neuartigen Virus an, viele erkrankten ernsthaft und für längere Zeit, nicht wenige verloren ihr Leben. In der Annahme, schnell und entschieden gegen die Ausbreitung des Virus vorgehen zu müssen,...
| Erscheint lt. Verlag | 18.4.2021 |
|---|---|
| Übersetzer | Frank Jakubzik |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Bernie Sanders • Brexit • Bundestagswahl • Das politische Buch 2012 • edition suhrkamp 2761 • ES 2761 • ES2761 • Feminismus • Finanzkrise • Joe Biden • Neoliberalismus • Populismus • Trump • Wahlkampf |
| ISBN-13 | 9783518766828 / 9783518766828 |
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