Wir denken neu - Damit sich Deutschland nicht weiter spaltet (eBook)
136 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-95890-362-3 (ISBN)
Verena Bentele holte als Biathletin und Skilangläuferin von 1995 bis 2011 vier Weltmeistertitel und wurde zwölf Mal Paralympics-Siegerin. 2011 schloss sie ein Magisterstudium in den Fächern Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaften und Pädagogik ab. Bereits vor Ende ihrer sportlichen Karriere begann sie, sich auf hoher Ebene sozialpolitisch zu engagieren. Von 2014 bis 2018 war sie die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Seither leitet sie als Präsidentin den größten deutschen Sozialverband VdK. Philipp Stielow, Autor, Entwickler von Film- und Videoformaten, Projektleitung und Aufbau von VdK-TV, studierte Politik und Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie - mit Schwerpunkt Sozialpädagogik - an der Frankfurt University of Applied Science. Seit 2009 ist er Pressesprecher des Sozialverbands VdK Hessen-Thüringen und Leiter der Abteilung Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Dr. Ines Verspohl absolvierte den Studiengang Europäische Studien an der Universität Osnabrück mit Schwerpunkt auf Wohlfahrtsstaaten im Europäischen Vergleich. Im Anschluss besuchte sie das Promotionskolleg »Arbeitnehmerinteressen und Mitbestimmung in einem Europäischen Sozialmodell« der Hans-Böckler-Stiftung. Seit 2018 ist sie Abteilungsleiterin Sozialpolitik beim VdK Deutschland.
Verena Bentele holte als Biathletin und Skilangläuferin von 1995 bis 2011 vier Weltmeistertitel und wurde zwölf Mal Paralympics-Siegerin. 2011 schloss sie ein Magisterstudium in den Fächern Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaften und Pädagogik ab. Bereits vor Ende ihrer sportlichen Karriere begann sie, sich auf hoher Ebene sozialpolitisch zu engagieren. Von 2014 bis 2018 war sie die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Seither leitet sie als Präsidentin den größten deutschen Sozialverband VdK. Philipp Stielow, Autor, Entwickler von Film- und Videoformaten, Projektleitung und Aufbau von VdK-TV, studierte Politik und Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie – mit Schwerpunkt Sozialpädagogik – an der Frankfurt University of Applied Science. Seit 2009 ist er Pressesprecher des Sozialverbands VdK Hessen-Thüringen und Leiter der Abteilung Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Dr. Ines Verspohl absolvierte den Studiengang Europäische Studien an der Universität Osnabrück mit Schwerpunkt auf Wohlfahrtsstaaten im Europäischen Vergleich. Im Anschluss besuchte sie das Promotionskolleg »Arbeitnehmerinteressen und Mitbestimmung in einem Europäischen Sozialmodell« der Hans-Böckler-Stiftung. Seit 2018 ist sie Abteilungsleiterin Sozialpolitik beim VdK Deutschland.
GERECHTE RENTE STATT ALTERSARMUT
Altersarmut ist schon heute ein ganz konkretes Problem, doch für künftige Generationen wird die Situation noch deutlich düsterer werden, wenn wir nicht handeln. Als VdK-Präsidentin habe ich in den vergangenen Jahren viele ältere Menschen kennengelernt, die unter sehr schwierigen Bedingungen leben. Oft sind es Frauen. Sie erzählen mir dann, dass sie ihr Leben lang sehr hart gearbeitet haben, meist in Berufen mit überschaubarer Bezahlung. Zum Beispiel als Kassiererin, Pflegekraft oder in der Gastronomie. Nebenbei haben sie Kinder erzogen, sich um Eltern oder Schwiegereltern gekümmert oder kranke Angehörige versorgt. Oft haben sie auch in Regionen gewohnt, in denen es phasenweise sehr schwer war, einen halbwegs vernünftigen Arbeitsplatz zu finden, sodass sie immer wieder Zeiten durchlebt haben, in denen sie kaum etwas für ihr Rentenkonto tun konnten. Fast alle, die ich kennengelernt habe und die heute im Alter nur sehr wenig Geld zur Verfügung haben, sind nicht in diese Situation geraten, weil sie kaum oder gar nicht gearbeitet haben, im Gegenteil: Sie haben in der Regel sogar mehr kämpfen müssen als andere. Besonders häufig sind auch chronische Erkrankungen die Ursache für Armut im Alter. Bei Menschen, die aufgrund einer Erkrankung nicht mehr dauerhaft arbeiten können, spricht man von Erwerbsminderungsrentnern. In Deutschland ist laut Bundesarbeitsministerium jeder Siebte von ihnen auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen, weil seine Erwerbsminderungsrente nicht ausreicht.9 Die sogenannten Abschläge, die Kürzungen ihrer Bezüge um bis zu 10,8 Prozent, müssen unbedingt wegfallen. Diese Menschen sind von ihrer Krankheit oft hart getroffen und dürfen nicht auch noch durch Rentenabzüge für ihre Situation bestraft werden.
Derzeit geht man statistisch davon aus, dass insgesamt fast 20 Prozent der Rentner von Altersarmut betroffen sind.10 Der Maßstab dafür ist die sogenannte Armutsgefährdungsquote. Mehr und mehr Menschen werden ihre Rente mit Grundsicherung im Alter aufstocken müssen, um ihre Existenz notdürftig abzusichern. Die Grundsicherung im Alter ist die Sozialhilfe bzw. das Hartz IV für Rentner. Um sie beantragen zu können, muss man erst einmal fast sein ganzes Erspartes aufbrauchen. Dann bekommt man Leistungen, die in etwa dem Niveau von Hartz IV entsprechen, und das, wie oben erwähnt, oft nach jahrzehntelanger harter Arbeit.
Oft höre ich das Argument, dass es in Deutschland doch gar keine Armut gebe, da Menschen ja Grundsicherung beantragen können. Häufig wird es von Personen vorgebracht, für die es selbstverständlich ist, genug Geld für Konzerte, Reisen oder Restaurantbesuche zu haben. Sie können sich gar nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn man sich zwischen dem Zoobesuch mit den Enkelkindern und dem Einkauf von Obst oder Hustensaft entscheiden muss. Aber genau das ist das Schicksal, von dem wir sprechen. Die Vorstellung, dass sich Rentnerinnen oder Rentner teils zwischen ihrer Gesundheit und einem Geschenk für die Enkel entscheiden müssen, empfinde ich als sehr bedrückend. Studien beweisen, dass viele Menschen mit kleinen Renten sich schämen, zum Sozialamt zu gehen, zum Beispiel weil sie Angst vor Nachteilen für ihre Kinder und Enkel haben.11
In unseren Städten und Dörfern ist Altersarmut mittlerweile an zahlreichen Stellen sichtbar, zum Beispiel an der wachsenden Zahl von Rentnern, die ihr Essen von den Tafeln holen. Der Besuch bei der Tafel ist für diese Menschen demütigend und deprimierend. Deswegen sammeln auch immer mehr Rentner Flaschen, um das Pfand einzulösen, oder arbeiten in einem Minijob, buchstäblich bis sie tot umfallen. Ihre Zahl hat sich in den letzten 20 Jahren auf knapp eine Million verdoppelt.12 Grund dafür ist ganz oft der Zwang, sich noch etwas dazuverdienen zu müssen, weil das Geld hinten und vorne nicht reicht. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts bekommen mehr als 500 000 ältere Menschen so wenig Rente, dass sie arbeiten gehen, um keine Sozialhilfe beantragen zu müssen. Was sie dabei verdienen, ist oft mehr, als sie an Rente ausbezahlt bekommen. Auch der Schuldenatlas, herausgegeben von Creditreform, spricht eine deutliche Sprache. Die Zahl der überschuldeten Rentner ist zwischen 2013 und 2019 um über 240 Prozent gestiegen. Laut Creditreform stehen auf der Liste der Verbindlichkeiten Mietschulden und Energiekosten ganz oben.13
Die Demontage der gesetzlichen Rente
Kleine Renten sind auch das Resultat des niedrigen Rentenniveaus, das wir inzwischen haben. Davon besonders betroffen sind Menschen in schlecht bezahlten Jobs ohne zusätzliche Betriebsrente. Arbeitslosigkeit, Krankheit, aber auch Kindererziehung oder die Pflege von Angehörigen sind daher die großen Risiken für Altersarmut.
Zudem ist in kaum einem anderen Land die Rentenlücke zwischen den Geschlechtern so groß wie in Deutschland. Die Alterseinkünfte von Frauen liegen 46 Prozent unter denen von Männern. Besonders alleinstehende Rentnerinnen sind hierzulande von Altersarmut bedroht. Dies liegt vor allem daran, dass in Deutschland Frauen häufig in Teilzeit arbeiten und nach wie vor große Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern existieren.14
In unserem Land müssen die Menschen immer länger arbeiten. Obwohl viele nicht einmal bis 65 durchhalten oder durchhalten können, wurde das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöht. Wer früher in Rente geht, bekommt deutliche Abzüge. Außerdem wurde das Rentenniveau immer weiter gesenkt: von früher fast 60 Prozent auf derzeit 48 Prozent. Zusätzlich ist der massiv gewachsene Niedriglohnsektor ein gewichtiger Grund dafür, dass immer mehr Menschen im Alter arm sind und arm sein werden. Insgesamt zählten 2018 gut 21 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland zum Niedriglohnsektor; in Ostdeutschland sind es sogar knapp 30 Prozent. Niedrige Löhne bedeuten niedrige Renten. Deshalb müssen wir einerseits versuchen, das Rentensystem gerechter zu machen. Wie, werde ich auf den nachfolgenden Seiten beschreiben. Andererseits müssen die Löhne insbesondere für die Beschäftigten in der unteren Einkommenshälfte endlich wieder deren Arbeitsleistung widerspiegeln. An vielen Stellen muss man leider zunehmend von purer Ausbeutung sprechen. Nichts anderes passiert mit Menschen in Reinigungsfirmen, Schlachtbetrieben oder beispielsweise bei Soloselbstständigen.
Auf dem Hessentag
Es war im Juni 2018. Ein strahlender Sommertag. Ich war gerade zur Präsidentin des VdK Deutschland gewählt worden und auf Einladung des Landesverbands Hessen-Thüringen nach Korbach in Nordhessen gereist, um bei dem traditionellen Landestreffen des VdK Hessen-Thüringen auf dem Hessentag als Ehrengast aufzutreten. 4000 gut gelaunte Menschen saßen dicht gedrängt an langen Tischen im Festzelt. Zahlreiche Landespolitiker waren gekommen, auch das amtierende Hessentagspaar hatte einen Auftritt. Ein Jugendorchester spielte flotte, schwungvolle Melodien, und viele Besucher klatschten im Takt der Musik mit. Paul Weimann, der Landesvorsitzende und einer meiner Mitstreiter im Präsidium, hielt eine kämpferische Rede: Die Spaltung unserer Gesellschaft in Arm und Reich müsse überwunden werden, forderte er. Und er verwies auf das drängende Problem der Altersarmut, das sich immer mehr verschärfe – eine Entwicklung, die für ihn nicht hinnehmbar sei. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier lobte den VdK als einen der wichtigsten Impulsgeber für die Sozialpolitik in seinem Bundesland.
Und dann war ich an der Reihe und betrat die Bühne. Ich war – ehrlich gesagt – ziemlich aufgeregt. Vor einem so großen Publikum hatte ich noch nie gesprochen. Aber stärker noch als mein Lampenfieber spürte ich – neben der Sympathie – die vielfältigen Erwartungen, die von den 4000 VdK-Mitgliedern im Zelt an mich herangetragen wurden.
Nach meiner Rede hatte ich dann auch Gelegenheit, mit einzelnen VdK-Mitgliedern zu sprechen. Viele kamen an meinen Tisch, weil es ihnen wichtig war, mir noch einmal persönlich zu meiner Wahl als Präsidentin zu gratulieren. Einige ergriffen auch die Gelegenheit und erzählten von ihrer persönlichen Lebenssituation oder schilderten mir ihre Ideen, wie man den VdK noch besser machen könne.
Eine Stimme – ihrem Klang nach die eines älteren Mannes – war anders, weniger euphorisch. Zwar grüßte auch er mich höflich und wünschte mir alles Gute als neue VdK-Präsidentin, aber dann brachen sich plötzlich sein Groll und sein Unmut Bahn. Ich horchte auf. »Seit Jahren höre ich mir diese Reden an«, sagte er. »Aber jetzt wird es langsam Zeit, dass den schönen Worten endlich auch mal Taten folgen! Eine auskömmliche Rente für alle fordert Ihr? Die hätte ich bitter nötig. Ich habe mein Leben lang gearbeitet, seit ich fünfzehn war, und jetzt habe ich knapp 1100 Euro zum Leben. Das reicht hinten und vorne nicht.«
Und dann erzählte er mir seine Geschichte. Er war gelernter Schlosser – heute würde man dazu Metallbauer sagen – und hatte nach der Ausbildung in einem mittelständischen Zuliefererbetrieb für die Autoindustrie in Nordhessen gearbeitet. Aber...
| Erscheint lt. Verlag | 26.2.2021 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Corona-Pandemie • Covid-Krise • Deutschland • Gerechtigkeit • Gesellschaft • Privatisierung • sozialen Sicherungssysteme • sozialen Spaltung • Soziale Ungleichheiten • Sozialstaat • Sozialstaats • Sozialsysteme • Spaltung • Staat • trendumkehr • Ungleichheit • Wendepunkt |
| ISBN-10 | 3-95890-362-2 / 3958903622 |
| ISBN-13 | 978-3-95890-362-3 / 9783958903623 |
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