Hightech-Schamanen (eBook)
192 Seiten
Riva Verlag
9783745312942 (ISBN)
Dr. Frank Wittig studierte Literaturwissenschaft und Psychologie und arbeitete als Wissenschaftsjournalist für verschiedene Magazine und Zeitungen. Seit 1996 ist er Redakteur und Autor beim Südwestrundfunk in der Abteilung Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Medizin. Seine Dokumentationen Betrifft: Die Vitaminfalle und Betrifft: Überflüssige Operationen wurden mit Preisen ausgezeichnet. Seit 2005 nimmt er Lehraufträge für Wissenschaftsjournalismus an den Universitäten Mainz und Kaiserslautern wahr. Seine medizinkritischen Sachbücher Die weiße Mafia und Krank durch Früherkennung sind Spiegel Bestseller.
Dr. Frank Wittig studierte Literaturwissenschaft und Psychologie und arbeitete als Wissenschaftsjournalist für verschiedene Magazine und Zeitungen. Seit 1996 ist er Redakteur und Autor beim Südwestrundfunk in der Abteilung Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Medizin. Seine Dokumentationen Betrifft: Die Vitaminfalle und Betrifft: Überflüssige Operationen wurden mit Preisen ausgezeichnet. Seit 2005 nimmt er Lehraufträge für Wissenschaftsjournalismus an den Universitäten Mainz und Kaiserslautern wahr. Seine medizinkritischen Sachbücher Die weiße Mafia und Krank durch Früherkennung sind Spiegel Bestseller.
Vorwort: Was sind Hightech-Schamanen?
Ein wenig unverschämt klingt das Etikett schon, wenn damit tatsächlich »Schulmediziner« gemeint sein sollten: »Hightech-Schamanen«. Hat sich die Medizin in der westlichen Welt nicht in den vergangenen 500 Jahren zu einer durch und durch wissenschaftlich begründeten Disziplin entwickelt? Schließlich hielten seit der Renaissance Beobachtung, Experiment und Rationalität Einzug in die Heilkunst. Magisch-animistische Auffassungen, wie sie den Schamanismus kennzeichnen, wird man in unserer Medizin nicht mehr finden, oder?
Wir haben Behandlungskonzepte, die auf einem Verständnis der tatsächlichen Verhältnisse in einem gesunden und einem kranken Körper beruhen, und lassen uns nicht von irgendwelchem spirituellen Brimborium hinters Licht führen. Unsere Ärztinnen und Ärzte (ich werde im Verlauf des Buches die Sprache nicht ständig gendern) verfügen unter anderem über chirurgische und pharmazeutische Strategien, die logisch auf die diagnostizierten Probleme ihrer Patienten reagieren. Stimmt doch, oder? Hightech-Medizin mit Schamanismus in Verbindung zu bringen, erscheint daher ähnlich, als wollte man Hexerei und Elektrotechnik in einen Topf werfen.
Hightech in unserer Medizin ist ein hochkomplexer, enorm leitungsfähiger Apparate-Park, der diagnostische und therapeutische Möglichkeiten eröffnet, von denen Menschen früherer Jahrhunderte nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Mit einem Kernspintomografen wird der menschliche Körper für uns zum offenen Buch. Und die Herz-Lungen-Maschine übernimmt einen Großteil der Vitalfunktionen des Körpers, während Chirurgen am offenen, stillgelegten Herzen Umgehungsstraßen für verstopfte Koronargefäße anlegen. Das ist beeindruckend. Sie meinen doch sicher auch: Nichts könnte weiter vom Schamanismus entfernt sein als unsere moderne Medizin.
In diesem Buch möchte ich zeigen, dass die gerade skizzierte Vorstellung in weiten Bereichen eine Fehleinschätzung ist. Schon seit mehr als 2500 Jahren sind Mediziner der Meinung, sie wüssten, »wie es geht«. Sie hätten den Körper und seine Schwachstellen verstanden. Sie hätten das ausgereifte Know-how, um den medizinischen Problemen adäquat zu begegnen. Und immer wieder haben sie sich geirrt. Die Geschichte dieser Irrtümer möchte ich in einem Kapitel beleuchten. Diese Geschichte – so denke ich – sollte uns Demut lehren. Sie sollte uns bewusst machen, dass State of the Art nicht das Ende der Fahnenstange bedeutet. Dass wir sicher nicht schon am Ende der medizinischen Weisheit angekommen sind.
Tatsächlich trägt auch unsere hoch entwickelte Apparatemedizin schamanische Züge. Vieles, was unsere Ärzte und Ärztinnen tun, teilweise auch die Erfolge, die sie feiern, lassen sich nach meiner Überzeugung besonders gut verstehen, wenn man den Schamanismus als Referenzmodell heranzieht. Schließlich war Schamanismus neben Kräutermedizin über Jahrzehntausende der Goldstandard der Medizin auf der ganzen Erde. In praktisch allen indigenen Kulturen ist er es noch heute. Viele Medizin-Historiker und Anthropologen sind der Meinung, dass der Schamanismus Bestandteil unseres evolutionären Erfolgs in der Vorgeschichte ist. Ja dass die Spezies Mensch vielleicht gar nicht überlebt hätte, wenn sie nicht durch an sich sinnlose Heilrituale gesundheitliche Probleme hätte kurieren können. Sie sind der Überzeugung, dass diese Urmedizin buchstäblich in unseren Genen verankert ist.
Ich möchte gemeinsam mit Ihnen in diesem Buch den Schamanismus genauer betrachten. Es ist erstaunlich und instruktiv zu sehen, wie eine Gemeinschaft plausible Erklärungsmodelle für Krankheit teilt und darauf aufbauende ebenso plausible Behandlungskonzepte verfolgt. Und wie diese Behandlungskonzepte positive Ergebnisse hervorbringen. Obwohl diese Behandlungskonzepte – zumal aus dem Betrachtungswinkel unserer Kultur – völlig irrational und abstrus erscheinen. Schamanen lösen medizinische Probleme auf der spirituellen Ebene. Sie arbeiten nicht mit einem biomedizinischen Krankheitsmodell wie wir. Sie haben eine magisch-animistische Perspektive. Ich glaube dennoch, die Beschäftigung mit dem Schamanismus kann dazu beitragen, dass wir unsere Medizinkultur besser verstehen. Vielleicht auch, dass wir sie mit etwas weniger Ehrfurcht betrachten, dass wir irrationale Strukturen in ihr klarer erkennen können und realisieren: Auch unsere »Götter in Weiß« sind mit ihren biochemischen und mechanistischen Betrachtungsweisen nicht die Sachwalter der absoluten, der wahren Medizin.
Und natürlich möchte ich eine ganze Reihe von – wie ich glaube – sehr unterhaltsamen Beispielen für Hightech-Schamanismus vorstellen. Ein erstes Beispiel – womöglich der »Klassiker« dieser Medizinform – möchte ich hier schon kurz andeuten. Vor allem auch, weil er mich zu dem Titel für dieses Buch geführt hat. Vielleicht haben Sie bereits von Bruce Moseleys epochaler Studie zur endoskopischen Knorpelglättung im Kniegelenk gehört, einer Behandlung von Patienten mit Knieschmerzen. Das Konzept ist plausibel und wird seit einigen Jahrzehnten in der westlichen Welt bei orthopädischen Eingriffen angewandt: Rauer Knorpel im Kniegelenk behindert die Beweglichkeit und führt zu Knieschmerzen, so die Diagnose. Die rationale Antwort auf das Problem? Den Knorpel glätten. Was könnte angemessener sein? Der Eingriff wurde millionenfach durchgeführt. Aber sind die Erfolge, die mit dieser Behandlung erzielt wurden, die Reduktion der Knieschmerzen, wirklich auf den medizinischen Eingriff per se zurückzuführen oder kommen die Erfolge bei der Schmerzbehandlung vielleicht durch den Placebo-Effekt zustande? Gerade bei Schmerzen ist die Macht der Placebos groß in der Medizin!
Wenn man bei Medikamenten die tatsächliche Wirksamkeit der pharmazeutischen Substanz untersuchen möchte, ist das relativ leicht. In entsprechenden Studien gibt es einen Placebo-Arm. In diesem Studienarm bekommen die Patienten bei sonst identischen Begleitumständen eine wirkungslose Pille. Die Patienten wissen natürlich nicht, ob sie die echte Pille oder das Placebo erhalten. Wenn sich herausstellt, dass im Behandlungsarm und im Placebo-Arm die Ergebnisse gleich gut sind, heißt das, dass das Medikament eigentlich nicht wirkt, sondern eher der Glaube an seine Wirksamkeit. Aber wie macht man bei der Knorpelglättung einen Placebo-Test? Man kann ja nicht Placebo-operieren, werden Sie zunächst vermuten. Doch man kann! Und genau das hat Bruce Moseley in seiner Studie getan.
Im Placebo-Arm seiner Studie wurde für die nur mit einem Beruhigungsmittel sedierten und mit einer Lokalanästhesie am Knie vor den Schmerzen geschützten Patienten das gleiche medizinische Brimborium aufgeführt wie in der Gruppe der wirklich Operierten. Hinter einem Vorhang wurde am Knie geruckelt, es wurde mit Wasser geplätschert, um die Spülung des Gelenks zu simulieren. Über dem vorgetäuschten Operationsgeschehen war ein Videomonitor installiert, der endoskopische Bilder aus einer echten Operation lieferte. Um die Täuschung perfekt zu machen, gab es in der Placebo-Gruppe auch noch zwei kleine Hautschnitte am Knie, damit die Patienten nach der OP die Eingangspforten für die Endoskope begutachten konnten. Und was war das Ergebnis der Studie? Eine bittere Pille für die Knorpelglätter! Auch nach zwei Jahren gab es keinen Unterschied zwischen den nach allen Regeln der Kunst Operierten und den nur zum Schein Behandelten. Nicht beim Schmerzmittelverbrauch, nicht bei der Beweglichkeit des Gelenks und nicht bei der subjektiven Einschätzung der Patienten.1 Fast alle Patienten zeigten sich mit dem Ergebnis des Eingriffs hochzufrieden.
Den Placebo-Arm in einer solchen Studie, in der es um chirurgische Verfahren geht, nennt man allerdings nicht Placebo-Arm. Es heißt im Englischen, man operiert gegen Sham. Und Sham steht für Schamanismus. Aber wenn der Chirurg mit seinem echten Eingriff medizinisch nicht erfolgreicher ist, als wenn er nur schamanisches Brimborium aufführt, ist er dann bei der echten Operation nicht eigentlich ein Hightech-Schamane? Ein entsprechend fokussierter Blick auf die Studienlage zeigt: Die moderne Medizin bietet uns einen überraschend großen, bunten, teuren Strauß an Hightech-Schamanismus an. Und wir – die Eingeborenen unserer technischen Zivilisation – nehmen dieses Angebot gläubig an und sind bereit, dafür erhebliche Mittel aus unserem Gesundheitsetat zu opfern.
Das führt zu einem weiteren Thema, das in Zeiten knapper Mittel im Gesundheitssystem (also immer) besprochen werden muss. Wenn die Studienlage den Sinn so vieler medizinischer Prozeduren infrage stellt oder sogar widerlegt, warum sind die Verantwortlichen dann so häufig oder/und so lange nicht bereit, diese Verfahren ad acta zu legen? Kann es sein, dass der teils außerordentlich kostspielige Hightech-Schamanismus für uns nur aufgeführt wird, weil Teile der medizinischen Priesterkaste sich daran bereichern beziehungsweise die notorisch knappen Kassen der Kliniken...
| Erscheint lt. Verlag | 16.5.2021 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Staat / Verwaltung | |
| Schlagworte | Adhäsiolyse • Akupunktur • Akupunkturpunkte • amygdala • Angina pectoris • Antibiotika • Arteria subclavia • Asklepios • Aspirin • Asthma • Astrologie • Autosuggestion • Biomedizin • British Medical Journal • Chemotherapie Nebenwirkungen • Chirurgie • chronische Rückenschmerzen • Chronische Schmerzen • Diagnose • diagnose geräte • Drogen • Empirie • Ethnopharmakologie • Fettleibigkeit • Frank Wittig • Früherkennung • früherkennung schwangerschaft • Gehirn Anatomie • Gehirn und Geist • Gesellschaft • Gesundheit • Gesundheitscheck • Gesundheitsindustrie • Gesundheitssystem • Gesundheitssystem Deutschland • Glaube an Gott • Heilung • Herzchirurgie • Herzmuskel • Hightech-Schamanen • Hippokrates • Humoralpathologie • Hypnose • Immunsystem • Jojo-Effekt • Kardiologie • Knieschmerzen • körper organe • Krankheit • Krankheitslehre • Krebszellen mögen keine Himbeeren • Lebenserwartung • Leib und Seele • Libet-Experiment • medizin buch • Mediziner • mediziner bücher • Medizinethik • medizin geräte • Medizingeschichte • medizin instrumente • medizinsiche Selbstverwaltung • mensch gott • Menschheitsgeschichte • mensch körper • mensch körper krankheit • menschliche körper organe • Menschlicher Körper • mensch organe • Mensch und Maschine • Migräne • Morbus Menièr • multiple sklerose therapie • Naturwissenschaft • Naturwissenschaften • Neurophysiologie • Neurowissenschaften • Nocebo • Notfallchirurgie • operation tisch • Orthopädie • orthopädie technik • Paracelsus • Parkinson Krankheit • Patientenakte • Patientenakten • Pharmakologie • Pharmazie • Placebo Effect • Placebo Effekt • Placebo medizin • placebo tabletten • Psychoanalyse • Psychopharmaka • Psychosomatik • Psychosomatisch • Psychosomatische Störungen • Reizdarmsyndrom • Rückenschmerzen • rückenschmerzen unterer rücken • Schamanismus • schamanismus bücher • Scheinmedikament • Schmerzbehandlung • schmerzen unterer rücken • Schmerzmittel • Schulmedizin • Selbstheilung • Suggestivmedizin • Suizidalität • Tennisarm • Therapie • Tierkreiszeichen • Wissenschaftler |
| ISBN-13 | 9783745312942 / 9783745312942 |
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