Geisterball (eBook)
Auch in Zeiten von Corona wird Fußball gespielt. Doch die Fans müssen größtenteils draußen bleiben aus den Stadien. Aber wenn kaum jemand auf der Tribüne sitzen darf, gibt es besonders viel zu erzählen: neue Geschichten, neue Dramen, neue Pannen, neue Lacher, neue Tränen. Deutschlands populärster Fußball-Kommentator Wolff-Christoph Fuss ist von Geisterspiel zu Geisterspiel gereist und berichtet von leeren Arenen, Dramen auf dem Rasen und drumerherum und einem Traumfinale in der Champions League. Mit Mund-Nasen-Schutz, aber ohne Maskerade zeigt er, warum der Fußball gerade jetzt für uns alle so wichtig ist. Ein Fuss-Ball-Buch mit Witz, mit Charme, mit Inhalt.
Wolff-Christoph Fuss gilt als populärster TV-Fußballkommentator des deutschsprachigen Raums. Seine Kommentare wurden mehrfach ausgezeichnet und sind, teils zu geflügelten Worten geworden, bei Fans und Zuschauern in aller Munde. Er ist seit über 20 Jahren fürs Fernsehen tätig: DSF, Sport1, Premiere, Sat.1, seit 2012 für Sky. 2014 veröffentlichte er den Bestseller »Diese verrückten 90 Minuten. Das Fuss-Ball-Buch«.
Das Ende
FREITAG, 13. März 2020. Das Derby Dortmund gegen Schalke, das ich am nächsten Tag kommentieren sollte, ist also abgesagt. Noch am Tag zuvor hatte es geheißen, alles finde wie geplant statt. Ohne Zuschauer, versteht sich, aber ja, es finde statt. Noch am Vormittag des 13. mussten sämtliche persönliche Daten für die Akkreditierung im Dortmunder Stadion hinterlegt werden. Das kannte ich für gewöhnlich nur von Champions League Finals oder großen Turnieren. Und dort waren eher Sicherheits- als Gesundheitsaspekte der Grund. Die Frage »Hast du Fieber?« war mir durchaus schon im Rahmen von Fußballübertragungen gestellt worden. Allerdings eher während oder nach, nicht aber vor den Spielen. Jedenfalls war auch geplant, jeden der circa 350 handverlesenen Anwesenden einer Fiebermessung zu unterziehen und beim kleinsten Anhaltspunkt für erhöhte Temperatur einen unmissverständlichen Platzverweis zu erteilen. Aber mit Pauken und Trompeten. Vielleicht würde man auch umgehend festgenommen und beim Gesundheitsamt Dortmund in einem Kellerverlies in Gewahrsam genommen. Bei Brot und Wasser gehalten, und in regelmäßigen Abständen kommt einer in Imker-Montur vorbei und misst die Temperatur. Wer weiß das schon? Und das alles nur wegen ein paar mutierter chinesischer Fledermäuse, die über Ischgl nach Heinsberg kamen. Warum auch immer, und wie auch immer. Geflogen, wahrscheinlich. Der Kreis Heinsberg liegt nicht weit weg von Dortmund. Viele BVB-Fans wohnen dort, auch Schalker, auch Gladbacher. Am vorangegangenen Samstag spielte Mönchengladbach gegen Dortmund. Vor Zuschauern. Ausverkauft, klar, weil Borussia-Duell, weil Meisterschaftsduell. Trotzdem wurde es Zuschauern aus dem Kreis Heinsberg freigestellt, das Spiel zu besuchen. Sie durften ihre Karten zurückgeben, umtauschen, bekamen ihr Geld zurück oder erhielten stattdessen Gutscheine für ein kommendes Spiel ihrer Wahl. Viel Kulanz und viel Tamtam um einen Schnupfen. Dass das durchaus seine Berechtigung hatte, war im Kreis Heinsberg da bereits klar, weil dort schon tagelang Menschen von Medizinern in voller Vermummung getestet, untersucht und behandelt wurden. Unter Quarantäne standen, sich in häuslicher Isolation befanden, intensivmedizinisch versorgt werden mussten, an den Folgen verstarben. Von wegen Schnupfen.
Ich kommentierte am Mittwoch vor dem Derby Paris Saint-Germain gegen Borussia Dortmund. In der Champions-League-Konferenz für Sky. Vor Geisterkulisse. Es gab in der schwarz-gelben Delegation nicht wenige, die das für übertrieben hielten. Einige tausend Anhänger von PSG versammelten sich rund um den Parc des Princes. Vorschriftsmäßig mit Bengalos im Turnbeutel. Dicht an dicht. Bereit, den Viertelfinaleinzug mit der Mannschaft zu feiern. Die Polizei übte sich in deeskalierender Zurückhaltung. Im Stadion verzweifelte die Dortmunder Mannschaft am Schweigen von den Rängen. Ein teilnahmsloser Ritt des Dortmunder Ensembles. Bei einer Atmosphäre wie beim Feierabendkick auf der Betriebssportanlage. Durchaus ergebnisorientiert, aber mit deutlich größerem Interesse nach einem langen Tag an Hochgeistigem nach Abpfiff. Dortmund schlich erst durchs Spiel und dann von dannen. Paris unter Trainer Thomas Tuchel stürmte erst durchs Spiel und dann in den Stadionumlauf, um mit den ab diesem Zeitpunkt endgültig eskalierenden Fans den Viertelfinaleinzug zu feiern. Erstmals seit vier Jahren. Im Parallelspiel an diesem Abend empfing der FC Liverpool zeitgleich Atlético Madrid. Das Stadion an der Anfield Road war randvoll. In vielen Belangen. Die Anhänger des Titelverteidigers waren bereit für eine magische Nacht und willens, alles dafür zu tun. Es war ein großer Abend. Es war zeitweise magisch, oft typisch stimmungsvoll, und doch sollte am Ende dieses Abends Diego Simeone die Cojones seiner Spieler lobpreisen. Diese hatten das emotionale Stahlbad Anfield Road siegreich überstanden. Jürgen Klopp und der FC Liverpool würden sich von nun an ausschließlich auf den Titelgewinn in der Premier League konzentrieren können. Den ersten seit 30 Jahren. 25 Punkte Vorsprung zu diesem Zeitpunkt auf den Zweiten, Manchester City. Goodness me, das wird die Party des Jahrtausends in Liverpool. Für diesen Abend allerdings standen die Erkenntnisse: Klopp raus, Dortmund raus, und Geisterspiele sind scheiße! Unterstützt wurde dieser Eindruck durch das Rheinderby am frühen Abend. Mönchengladbach gegen Köln. Ein paar Delegationsmitglieder beider Clubs saßen auf der Tribüne. In weitestgehend willkürlichen Abständen. In kleinen Gruppen oder alleine, je nach Gusto und üblichen Sehgewohnheiten. Ein behördlich angeordnetes Geisterspiel. Das erste der Bundesligageschichte. Auf den Tribünen keine Ultras in Maleranzügen, keine Entscheidungsträger im Fadenkreuz, keine Präsentation gestohlener Fahnen, kein Platzsturm. Ein paar Dutzend Kölner Ultras waren am Nachmittag grölend durch Mönchengladbach marschiert. Einige Hundert Gladbacher feierten nach Abpfiff den Derbysieg am Stadion.
Mittlerweile liegt jedes Bundesligaspiel unter dem statistischen Mikroskop. Dem Spiel wurde nachgewiesen, dass ungewöhnlich wenige intensive Läufe aus- und intensive Zweikämpfe durchgeführt wurden. Praktisch keine Provokationen auf dem Platz, wenig Lamentieren, kaum Schauspielereien. Lächerliche drei gelbe Karten. Zwei für Foulspiel, eine für Spielverzögerung. Der Boulevard wollte ein »Kuschelderby« gesehen haben. Auch den Protagonisten fehlte es im Spiel ohne die Fans im Stadion an der »entscheidenden Würze«. Das alles habe mit Fußball oder Derby nur sehr am Rande zu tun gehabt, hieß es, unter anderem sogar vom Schiedsrichter des Spiels, Deniz Aytekin.
Mein Heimatsender Sky hatte sich sehr früh mit der Corona-Problematik auseinandergesetzt. Die Champions-League-Sendung zum Spiel von Dortmund in Paris fand bereits ohne Studiopublikum statt, und jeder, der die Sendezentrale in Unterföhring betrat, musste schon Anfang März die Prozedur einer Körpertemperaturmessung über sich ergehen lassen. »36,5«, fachsimpelte mir also unser messender Sicherheitsmitarbeiter entgegen, als ich an besagtem Abend das Studio betrat. »Alter Schwede! Kalt wie eine Hundeschnauze!«, entgegnete ich. »Sie hom a gscheide Untertemperatur!« Ja, so sind sie, die Bayern. Kernig im Ton und messerscharf in der Anamnese. »Da trinkst en Glühwein, dann bist voll dabei!« Und offensichtlich auch mit klarem therapeutischem Blick. Ich nahm seinen Hinweis zur Kenntnis, wenngleich ich im Sinne einer unfallfreien Übertragung auf diese Form der Medikamentierung verzichtete. Wie immer, das möchte ich hier gerne hinzufügen. Dementsprechend untertemperiert beging ich die Übertragung des Spiels Paris gegen Dortmund. Immerhin schien meine Temperatur zu den folgenden 90 Minuten aus dem leeren Prinzenpark zu passen. Der Wahnsinn tobte parallel in Anfield, der Heimat des Fiebers. Als ich später am Abend nach Hause kam, hatte sich die Temperatur in Richtung 37 °C bewegt. Ich nahm es ein wenig überrascht, aber doch auch beruhigt zur Kenntnis. Gesundheit schadet nicht.
So arbeitete ich mich also dem Revierderby entgegen. Mit normaler Temperatur und sinnierend darüber, was mich da am Samstag erwarten würde. Kein Spiel in Deutschland lebt so sehr von Emotionen, von der Nähe, von der Rivalität, von der Hingabe zweier Traditionsclubs. Mit bundesweiter Strahlkraft. Mindestens. In der Regel erfüllt dieses Spiel sämtliche Erwartungen. Manchmal sprengt die Partie auch jeden erwartbaren Rahmen. In der Saison 2018/19 fügte Schalke den Dortmundern die einzige Bundesliga-Heimniederlage des Jahres zu. Ein abstiegsbedrohtes Schalke hatte keine Erwartungen mehr an die Saison, außer der, den Kollegen die Meisterschaft zu versauen. 4:2-Sieg, praktisch ohne Vorwarnung. Mission erfüllt. Der Jahrhunderttrainer Huub Stevens hatte in Feuerwehrmann-Manier seinen Königsblauen auch diesen letzten Gefallen getan. Oder im November 2017: ein Duell, das als Jahrhundertderby in die Geschichte eingehen sollte. Ich war seinerzeit mit Ulli Wegner im Stadion, sollte mit ihm am gleichen Abend aus Oberhausen auch noch einen WM-Kampf im Schwergewichtsboxen kommentieren. Er ist einer der erfolgreichsten Boxtrainer weltweit. Er wollte sich, verständlicherweise, nachmittags das Derby nicht entgehen lassen. Das war der Wahnsinn in 90 Minuten: Dortmund führte nach 25 Minuten 4:0, und Schalke war zu diesem Zeitpunkt zu Gast auf seiner eigenen Beerdigung. Und während ganz Dortmund siegestrunken philosophierte, wie zweistellig es wohl werden würde, schmiedete Schalke-Trainer Domenico Tedesco den Plan zur Aufholjagd. Nach 33 Minuten schon ein Doppelwechsel: Leon Goretzka und Amine Harit für Franco di Santo und Weston McKennie. Zur zweiten Hälfte Matija Nastasic für Thilo Kehrer. Nach 65 Minuten stand es nur noch 4:2. »4:2 nur noch, 25 Minuten sind Zeit, Schalke braucht zwei Tore!«, sprach es aus mir. Als der Satz gesagt war, musste ich kurz innehalten. Was habe ich da erzählt? Grammatikalisch am Rande der Legalität, ja, rhetorisch so eben vertretbar, ja, aber wie viel Sinn macht so ein Satz? In einem Bundesligaspiel? Also, fraglos, im Europapokal könnte das stimmig sein, so denn eine Mannschaft wirklich gemäß dem Hinspiel noch zwei Tore aufzuholen hätte. Aber in einem Bundesligaspiel, an einem 13. Spieltag, am 25. November 2017? Nicht wirklich. Man könnte es den unbewusst gesetzten Vorboten einer Vorahnung nennen. Oder einfach: Glück. Nachdem Daniel Caligiuri in der 86. Minute den Anschlusstreffer erzielt hatte, vollendete Naldo die Schalker Aufholjagd in der 4. Minute der Nachspielzeit mit einem wuchtigen Kopfball nach einer Ecke von Jewhen Konopljanka. Tedesco sprintete vor die Schalker Kurve, alle...
| Erscheint lt. Verlag | 1.12.2020 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sachbuch/Ratgeber ► Sport | |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Bundesliga • Champions League • Corona • DFB • eBooks • FC Bayern München • Football • Fussball • Geisterspiele • Pokalfinale • Ratgeber • Saisonfinale • Sky • Sport |
| ISBN-13 | 9783641277628 / 9783641277628 |
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