Wenn der Computer zum Künstler wird (eBook)
208 Seiten
REDLINE Verlag
978-3-96267-234-8 (ISBN)
Mathias Liegmal (geb. Hansen) wurde 1990 in Berlin geboren und gehört damit zur Generation der Digital Natives. Er schreibt seit Jahren für verschiedene Medien über Musik und hat Kulturwissenschaften in Frankfurt (Oder) und Literaturwissenschaften in Paderborn studiert, wo er seitdem lebt. 2018 erschien sein Buch Homers Odyssee: Die Simpsons und die Literatur im riva Verlag.
Mathias Liegmal (geb. Hansen) wurde 1990 in Berlin geboren und gehört damit zur Generation der Digital Natives. Er schreibt seit Jahren für verschiedene Medien über Musik und hat Kulturwissenschaften in Frankfurt (Oder) und Literaturwissenschaften in Paderborn studiert, wo er seitdem lebt. 2018 erschien sein Buch Homers Odyssee: Die Simpsons und die Literatur im riva Verlag.
KAPITEL 2
Die Vermessung der Welt
»Die Gedanken sind frei.«
–Walther von der Vogelweide
Immer bessere, schnellere Rechner in Kombination mit riesigen, umfassenden Datenmengen erlauben uns in Zukunft, Kulturprodukte haarklein auf den Konsumenten zuzuschneiden. Bestseller, Chart-Hits und Hollywood-Blockbuster könnten auf diese Weise am Reißbrett konstruiert und am Fließband produziert werden.
Edward Snowden und die Folgen
Täglich werden weltweit rund 2,5 Milliarden Gigabyte an Daten erfasst, ohne dass sich jemand großartig daran stört.28 Allein ein handelsübliches Smartphone kann mittlerweile nicht nur telefonieren, Fotos machen und ins Internet gehen. Es kann auch die Temperatur und den Luftdruck messen, seine genaue Lage per GPS ermitteln, seine Neigung oder die Erschütterung durch einzelne Schritte erkennen.29 Offensichtlich hat hier ein Gewöhnungsprozess stattgefunden: Wir empfinden Datensammlungen mittlerweile als normal. Oftmals wird Big Data sogar als Heilsbringer dargestellt, schließlich führt die immerwährende Vermessung am Ende zur Rationalisierung und damit zur Optimierung. Und optimiert bedeutet immer auch besser – oder?
Auch weniger optimistisch gestimmte Personen, die Snowden und die NSA durchaus noch im Hinterkopf hatten, sahen Datensammlungen mit der Zeit nur noch als notwendiges Übel an, das stillschweigend hingenommen werden muss – bis Cambridge Analytica kam. Das US-amerikanische Datenanalyse-Unternehmen behauptete, auf Grundlage von Facebook-Daten die Präsidentschaftswahlen von 2016 maßgeblich beeinflusst zu haben. Kritiker sind bis heute skeptisch und vermuten, dass Cambridge Analytica seinen Einfluss massiv überschätzt hat, vermutlich aus Werbegründen. Dennoch reichte der Vorfall aus, um Facebook und dessen CEO Mark Zuckerberg in einen handfesten Skandal zu verwickeln, der unter anderem eine fünfstündige Anhörung im Senat nach sich zog.30 Auch wenn es in diesem Fall letztlich wieder um politische Ziele ging, rückte vor allem das Wirtschaftsunternehmen Facebook in den Vordergrund der gesellschaftlichen Debatte. Datensammlungen wurden nicht mehr nur vor dem Hintergrund politischer, sondern auch privatwirtschaftlicher Interessen debattiert.
Obwohl Vorfälle dieser Art erst im letzten Jahrzehnt das Bewusstsein der Massengesellschaft erreicht haben, so sind Datensammlungen bei Weitem kein neues Phänomen. Den Anfang machten staatliche Institutionen, die die neuen Techniken vor allem im Bereich des Militärs und der Raumfahrt entwickelten und einsetzten. Etwas später zog die Wirtschaft nach und begann damit, Big Data zu nutzen, um Kunden besser zu verstehen, in der Folge Produkte und Marketingstrategien anzupassen und so die Gewinne zu maximieren.31 So tat es auch Netflix seinerzeit. Der Streaming-Dienst startete ursprünglich als Filmverleih und optimierte sein Angebot, indem er verzeichnete, welche Streifen sich ein bestimmter Kunde in der Vergangenheit ausgeliehen hatte, um ihm passende Vorschläge für die Zukunft zu machen. Eine Praxis, die sich bewährte. Mit der zunehmenden Digitalisierung wurde der Prozess auf den späteren Streaming-Dienst übertragen.
Geht man leichtfüßig an dieses Thema heran, so könnte man sich schnell fragen, inwiefern es problematisch sei, dass die Werbung auf Facebook und die Filmempfehlungen auf Netflix an den persönlichen Geschmack angepasst sind. Klingt das nicht nach einem Vorteil? Yvonne Hofstetter warnt in ihrem Buch Sie wissen alles eindringlich vor dieser Sichtweise. Je mehr Daten über einen Menschen gesammelt werden, umso zuverlässiger lässt sich sein Verhalten voraussagen. Im harmloseren Fall erhält dieser Mensch maßgeschneiderte Werbeanzeigen und Medieninhalte. Im schlimmsten Fall wird er rund um die Uhr kontrolliert und parallel dazu finanziell ausgepresst.32
Memetic Engineering
Im Jahr 1976 sorgte der Wissenschaftler Richard Dawkins mit seinem neuen Werk für Aufsehen: In Das egoistische Gen zeichnete er ein Modell der Evolution, das es so noch nicht gegeben hatte. Dawkins ernannte es zu einem seiner Prinzipien, mitunter komplizierte Sachverhalte einfach und verständlich zu erklären, sodass sie auch einem Laienpublikum zugänglich sind. Diesem Umstand ist es möglicherweise geschuldet, dass er ein Gedankenexperiment vorschlug, das unser Verständnis der Evolution deutlich vereinfachen sollte. Er schlug vor, man solle sich Gene als Egoisten vorstellen, die alles dafür tun, sich in dieser Welt durchzusetzen und zu verbreiten. Grundsätzlich ist es natürlich ausgemachter Unsinn, Genen einen eigenen Willen zu unterstellen, doch diese Vorstellung verdeutlicht einige Sachverhalte. Leider übersahen viele Kritikern, dass es sich eben nur um ein Gedankenexperiment handelt, und daher musste der Autor viel Gegenwind einstecken.
Das egoistische Gen ist noch aus einem zweiten Grund bekannt: Der Autor schlägt darin eine Analogie zwischen Natur und Kultur vor. Denn ganz ähnlich wie Gene, so der Forscher, könnten sich auch kulturelle Einheiten verhalten. So wie Gene darum kämpfen, sich immer wieder fortzupflanzen, kämpfen Geschichten oder Lieder um unsere Aufmerksamkeit, um so von Gehirn zu Gehirn, Festplatte zu Festplatte oder Papier zu Papier zu gelangen und sich auf diese Weise gewissermaßen zu reproduzieren. Als Begriff wählte Dawkins damals das Wort »Mem« – analog zum »Gen«.
Die daraus hervorgegangene Memetik ist lediglich ein Modell, um die Welt der Kultur besser verstehen zu können, und bei Weitem keine ausgereifte, wissenschaftliche Theorie. Ihrer Popularität tut das jedoch keinen Abbruch. Mit der Zeit entwickelte sich ein Nebenzweig der Memetik, das »Memetic Engineering«, welches die zugrunde liegende Logik auf den Kopf stellt und genau andersherum fragt: Wenn wir davon ausgehen, dass sich kulturelle Erzeugnisse möglichst weit verbreiten wollen, müsste es doch möglich sein, dafür entscheidende Faktoren ausfindig zu machen. Schließlich konnten Evolutionsbiologen schlussfolgern, dass scharfe Zähne, muskulöse Beine oder Flügel gewissen Tieren einen Vorteil gegenüber ihren Konkurrenten verschafft haben. Sollte dies nicht auch bei Büchern, Liedern und Co. möglich sein, die den Kampf um die menschliche Aufmerksamkeit gegen Millionen andere Bücher und Lieder gewonnen haben? Und müsste es im Anschluss daran nicht möglich sein, kulturelle Werke von Beginn an mit diesen erfolgversprechenden Eigenschaften auszustatten?
Auch wenn aktuelle Veröffentlichungen sich kaum noch direkt auf Dawkins’ Überlegungen beziehen, wird in vielen Bereichen Memetic Engineering betrieben. Fernab von der Memetik versuchen Menschen immer wieder, besonders populäre Muster und Motive zu finden, die dabei helfen, dass etwa ein Buch sich verbreitet. Das Memetic Engineering erlebt derzeit gewissermaßen seinen zweiten Frühling – Big Data sei Dank.
Über Genrevorlieben und Pausenknöpfe
Das Beispiel von Netflix dürfte Ihnen bereits einen ersten Eindruck davon vermittelt haben, in welchem Ausmaß Unternehmen, die an der Schnittstelle zwischen Digitalisierung und Kultur agieren, Datensätze dazu verwenden, ihre Inhalte auf ihre Konsumenten zuzuschneiden. Zahlreiche Algorithmen erfassen, welche Filme und Serien am liebsten geschaut werden, welches Streaming-Angebot bei welcher Minute abgebrochen wird, zu welcher Uhrzeit die meisten Leute streamen, in welcher Sekunde jemand Pause drückt oder noch mal 30 Sekunden zurückspringt, weil die letzte Szene vielleicht zu komplex war.
Informationen über das Sehverhalten seiner Kunden nutzt Netflix unter anderem, um die Startseite für jeden einzelnen Nutzer individuell zu gestalten: Wer in der Vergangenheit besonders viele Kriegsdokus angeschaut hat, wird weitere davon vorgeschlagen bekommen – im Gegensatz zu jemandem, der vor allem romantische Komödien bevorzugt hat. Dabei muss aber weiter differenziert werden: Steht bei den romantischen Komödien eher eine Frau oder ein Mann im Fokus? Spielt die Handlung in London oder in Paris? Und ist überhaupt ein Happyend gewünscht?
Netflix beschäftigt außerdem eine Gruppe von sogenannten Taggern, die alle Spielfilme, Dokumentationen und Serien mit passenden Kriterien markieren, damit diese den Zuschauer analog zu ihren Vorlieben vorgeschlagen werden können. Dabei entstehen so wahnwitzige Kategorien wie »Romantische Komödien mit schwarzem Humor« oder »Preisgekrönte Thriller mit weiblichen Helden«, »Bewegendes Drama auf hoher See« oder »Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund«.33 Die Algorithmen, die bestimmen, welches Zuschauerverhalten dazu führt, dass jemandem Film A oder doch eher Serie B empfohlen wird, werden von einem Team aus Informatikern, Mathematikern und Psychologen entworfen – immer bemüht, jedem Zuschauer ein Angebot so exakt wie möglich auf den Leib zu schneidern. »Wir erzeugen buchstäblich 250 Millionen unterschiedliche...
| Erscheint lt. Verlag | 9.8.2020 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | algorithms and data structures • algorithms introduction • Algorithmus • Algorithmus programmieren • Big Data • Big Data Analyse • Big data analysis • Big Data Analytics • Big Data Visualization • Blockbuster • blockbuster 2018 • Blockbuster 2019 • blockbuster filme • buch bestseller 2020 • der Algorithmus hat kein Taktgefühl • Der unterlegene Mensch • Digitalisierung • Digitalisierung 4.0 • Digitalisierung Arbeitswelt • digitalisierung kunst • digitalisierung strategie • e entertainment • ein Algrithmus hat kein Taktgefühl • Entertainment • entertainmentbranche • entertainment tv • evolutionäre Kunst • Homers Odysee riva • Homo Deus • humanoid • humanoide computer • Humanoide Roboter • Industrie 4.0 • Industrielle Revolution • Katharina Zweig • KI erobert Kunst • KI Gemälde • Ki kunst • Kreativ • Kreativbranche • kreativ Buch • Kreatives Schreiben • kreativ gestalten • kreativ ideen • kreativ malen • Kreativ Schreiben • Kreativ sein • kreativ zeichnen • Kunst • Kunst Bilder • kunst bücher • kunst gemälde • kunst ideen • Künstler • Künstler Buch • Künstler werden • Künstliche Intelligenz • künstliche intelligenz bücher • künstliche intelligenz film • Künstliche Intelligenz Kunst • künstliche intelligenz programmieren • Künstliche Intelligenz Roboter • künstliche intelligenz robotik • Kunst verkaufen • malende Algorithmen • Manuale Lenzen • mathias hansen • mathias liegmal • Moderne Kunst • münchner verlagsgruppe • Musik • Musik 2019 • musik app • Musik Buch • musik charts • musik filme • Musik lernen • Musik machen • musik musik • musikmusik • musik neuheiten • Musik produzieren • Musik streamen • musik studio • Musiktheorie • musik zum lernen • neuerscheinung 2020 • neuerscheinung buch 2020 • redline • redline verlag buch • redline verlag buch liegmal • Roboter • roboter ferngesteuert • Roboter für Kinder • Roboter programmieren • roboter roboter • roboter spielzeug • roboter staubsauger • roboterstaubsauger • Superintelligenz • Taktgefühl • Technik • Wenn der Computer zum Künstler wird |
| ISBN-10 | 3-96267-234-6 / 3962672346 |
| ISBN-13 | 978-3-96267-234-8 / 9783962672348 |
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